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Mutter stirbt an Corona: Protokoll des Sohnes

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Maria Krumschnabel infiziert sich in einem Altenpflegeheim mit Corona. Wenig später ist sie tot. Lesen Sie das Protokoll ihres Sohnes, der einem der vielen Opfer der Pandemie ein Gesicht geben will.

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Maria Krumschnabel infiziert sich in einem Altenpflegeheim mit Corona. Wenig später ist sie tot. Lesen Sie das Protokoll ihres Sohnes, der einem der vielen Opfer der Pandemie ein Gesicht geben will.

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Ich lese und höre immer wieder, dass die alten Menschen, die Corona zum Opfer fielen, sowieso gestorben wären. Ich empfinde das als zynisch. Deshalb will ich hier die Geschichte meiner Mutter erzählen:

Sie ist knapp 80 Jahre alt, als sie nach dem Tod meines Vaters zur Witwe wird. 2015. Ein Einschnitt. Ein dramatischer. Sie ist plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen. Was vorher ein strukturierter Alltag war, ist jetzt ein unbeschriebenes Blatt, das es zu füllen gilt. Meine Mutter kämpft. Still.

Nach einer depressiven Phase macht sie das, was sie früher mit dem Vater getan hat: Sie geht täglich ins Einkaufzentrum, trinkt dort in einer Bäckerei eine Tasse Kaffee, sucht nach bekannten Gesichtern. Manchmal gesellt sie sich zu einer Gruppe Pensionistinnen. Je nach Tagesverfassung und Lust wiederholt sich das gleiche Spiel am Nachmittag. Ihr Bestreben ist, bloß nicht allein zu bleiben. Doch über dem wiedererlangten Lebensmut liegt ein Schatten. Es ist der geistige und körperliche Verfall, der zunimmt, sichtbarer wird. Der Wille, unter Leute zu kommen, überwindet auch dieses Hindernis. Fortan nimmt meine Mutter vermehrt den Bus. Die Menschen reagieren wohlwollend auf die immer gleichen Geschichten, die sie erzählt. Sie sind ihrer Vergesslichkeit geschuldet.

Sie zieht die Gesellschaft vor

Dezember 2019. Sie stürzt. Mitten im Einkaufszentrum. Nach einem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt verschlimmern sich die Gedächtnisprobleme. Die Ärzte sprechen von Demenz. Selbstständige Ausflüge ins Einkaufszentrum werden unmöglich. Was ist die Alternative? Meine Mutter will alles akzeptieren, nur keine Einsamkeit. Also lässt sie sich dreimal wöchentlich zur Tagesbetreuung für Senioren fahren. Und schon nach kurzer Gewöhnung an das Neue will sie auf diese Ausflüge nicht mehr verzichten. Sie hofft jeden Tag – mittlerweile bringt sie die Wochentage durcheinander –, dass sie heute wieder abgeholt wird.

Februar 2020. Meine Mutter stürzt erneut. Diesmal zu Hause. Weiter allein zu wohnen ist keine Option mehr. Sie muss sich zwischen einer 24-Stunden-Pflege und einem Zimmer im Altenwohnheim entscheiden. Sie wählt Letzteres. Auch hier findet sie sich ein, ist froh, das Zimmer mit einer netten und noch äußerst vitalen 100-Jährigen zu teilen. Als ein Einzelzimmer frei wird, lehnt sie ab. Sie zieht die Gesellschaft vor.

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