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Allerseelenwechselgesang der Trauernden und der Toter

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i.

GHOR DER LEBENDEN

Ihr Entsunknen! Breite Kerzen stecken, Hochgeweihte, wir in eurer feuchten Gräber Randung, daß das Licht euch leuchten, Kranz und Krume sanft euch mögen decken.

Ach, ihr Annen, schleicht zur Dämmerzeit

Durch das Wagenrasseln,

Durch das Pf erdetrappeln; Hocket hoch, von Einsamkeit verschneit,

Wie die Krähenvögel

In den kahlen Pappeln. Kommt ihr nicht mit scheuem Bettlertritt

Auf die alten Treppen,

An die trauten Türen? Sitzt ihr gramvoll nicht am Tische mit,

Sehnend, Altgewohntes

Wieder zu vollführen?

CHOR DER TOTEN

Unsere Einsamkeit könnt ihr nicht fassen, Menschliche Maße ermessen sie nicht. Nennt ihr schon frierende Vögel verlassen, — Schlug euch die Ahnung von unserm Verzicht. Reich und behaust schien der Strolch auch im Kotter Neben der Unsern verstoßenem Los, Besser bewillkommt so Kröte wie Otter, Motte im Herbst nicht so schutzlos und bloß. Dennoch entsickert den nachtschwarzen Schwaden Unseres Leidens schwachsilberner Strahl. Fernher beträuft uns das Regnen der Gnaden, Hoffnung entriegelt den Ring unsrer Qual.

II.

CHOR DER LEBENDEN

Tote ihr, verbannt nach finstern Orten, Aus den rötlich aufgeglommnen Lichtern Blickt es wie von tränenden Gesichtern, Weint es wie von alten Liebesworten.

Väter, grau, zu Schattenhaft verdammt,

Lechzt ihr nicht, die Söhne

Traurig zu belauern, Wie sie Petschaft, Unterschrift und Amt

Arglos brauchen, so,

Als dürft es dauern? Mütter, späht ihr nicht in Fach und Schrank,

Sorgend, wie die Töchter

Euer Gut verwalten, Ob sie ehren, was ihr lebenlang

Mühevoll gehegt

Und hochgehalten?

CHOR DER TOTEN

Tote nicht nennt uns, ihr Tauben und Blinden, Bresthafte heißt uns, von Schwären bedeckt. Aussätzig schimpft uns im Grind unsrer Sünden, Schwarz von der Pest unsrer Lüste gefleckt. Wandernde nennt uns auf zitternden Stegen, Stolpernde Bettler auf lichtloser Fahrt, Landstreicher Gottes auf gräßlichen 'Wegen, Dennoch erkoren und dennoch bewahrt. Denn unsres Todes anfangende Zeiten, Die uns noch halten in hiesigem Bann, Ihnen entschreiten und ihnen entgleiten Mählich und selig wir sternenhinan.

III.

CHOR DER LEBENDEN

Ihr Geliebten, hört der Glocke Segnen! Ihr Entbehrten, seht die ernsten Beter! Ihr Vergangnen, Mütter, Brüder, Väter, Euren Foltern seht uns fromm begegnen!

Nimmer sei zu haften euch verhängt

An der dunklen Schluchten

Immer nassen Wänden, Noch in Gletschers Öde bang gedrängt,

Euer langes Irren,

Einmal muß es enden: Bittet für, wenn ihr zum Vater kommt,

Daß er sanft uns richte,

Wenn der Tod uns fällte, Daß er nicht uns gebe, was dem Schacher frommt,

Was wir lau versäumten,

Nimmer uns entgelte.

CHOR DER TOTEN

Feuer der Sehnsucht nach hier und nach dorten Fegte uns rein von Begier und Verrat, Wasser der Reue aufbrachen die Pforten, Flehende Liebe verkürzte den Pfad. Stimme des Trostes, wie läutet sie milde, Wärmende Kunde, erlösend entfacht; Garbe des Lichtes, ins Schattengefilde Stürzet sie jäh, in unsägliche Nacht. Himmlisch zu wenden gespenstiges Schweifen, Starb an dem Kreuze der opfernde Gott. Glühendes Glück! Unsre Wandlung zu reifen, Opfert sich täglich der Wein und das Brot. o allein lassen!“ Aber sie regt sich nicht, sie antwortet nicht, als gehe sie dies alles nichts mehr an. Und da steht er eine Weile in einer unfaßbaren Ratlosigkeit, will dann das Medizinfläschchen aus dem Spind holen und sieht es neben dem Bett auf dem Boden liegen, entkorkt und leer. Ob die Mutter wohl, als sie in einem Anfall von Müdigkeit die Tropfen hat nehmen wollen, so sehr an ihn gedacht hat, daß er es in der Schule gespürt? Oder hat sie nach ihm gerufen?

Nur so könne es sein, denkt Christian und hört jetzt, wie die Mutter sich leise bewegt, hört ihre Stimme, es ist nur wie ein Hauch. „Die Tropfen“, sagt sie, „die Tropfen, Christian.“

„Ja, Mutter“, beeilt er sich zu antworten, „ich hole sie schon, gleich, gleich.“ Und er schiebt ihr noch schnell das Polster unter den Kopf, nimmt das Medizinfläschchen und das Rezept aus dem Spind und will hinaus. Dabei fällt ihm ein, daß er die Medizin in der Apotheke ja nicht bezahlen kann, weil die Mutter heute morgen für die letzten Groschen einen Laib Brot gekauft hat. Er läuft daher durch das Viertel bis zu einem Haus, wo er einen guten Menschen weiß, eine Medizinalratswitwe, die vor der Not und der Armut die Augen nicht verschließt. Er darf manchmal mit seiner Mutter zu ihr kommen, und er darf dann, was ihm das liebste ist, eine Zeitlang Klavier üben. Zuweilen, wenn er aufhört zu spielen, geschieht es, daß er sich ganz allein in der Wohnung sieht, zwischen den Gegenständen, die ihn so merkwürdig anzublicken scheinen, vor allem die Schlüssel. Im Schreibtisch steckt einer, im Bücherschrank, ja sogar in der Vitrine, wo die Geldkassette verwahrt ist, hinterm Porzellan dort, er weiß es. Er hat es oft gesehen, wie die Frau die Kassette herausgeholt hat, um ihr Geld zu entnehmen; und er hat dabei nicht ein einziges Mal die Augen zugemacht, als dürfe er es nicht sehen.

Soeben erreicht er, fast außer Atem, das Haus, drückt auf den Knopf der Klingel, klopft, klinkt an der Tür, die Tür ist verschlossen. Er pocht ans Fenster, einmal, zweimal, es bleibt still dahinter. So still, daß er die Stimme der Mutter zu hören vermeint. „Die Tropfen“, hört er sie sagen, „die Tropfen, Christian.“

Lieber Gott, denkt er und kann es in der Angst nicht hindern, daß seine Augen plötzlich das Versteck suchen, wo die Frau den Haustürschlüssel zu verwahren pflegt, wenn sie in die Stadt geht. Darf er aber, auch wenn er keinen anderen Ausweg weiß, sich heimlich einschleichen in das Haus? Darf er zum Dieb werden? Und das gerade an einem Menschen, der ihm und seiner Mutter so sehr vertraut?

Wieder will die unfaßbare Ratlosigkeit über ihn kommen. „Lieber Gott“, spricht er, „die Mutter muß doch die Tropfen haben. Sie stirbt, wenn ich die Tropfen nicht bringe!“

Und jetzt hält ihn keine Sekunde mehr. Er folgt seinen Augen, greift sich den Haustürschlüssel aus dem Versteck, schaut noch einmal kurz, ob ihn nicht jemand sähe, und schlüpft dann in das Haus. Er merkt nicht, wie ihn die Gegenstände anstarren, als wollten sie sich wehren. Er eilt zu der Vitrine ohne Zögern, öffnet sie rasch und fühlt mit den Fingern hinter das Porzellan.

Ja, da ist die Geldkassette. Er hält sie in der Hand wie das Medizinfläschchen und das Rezept. Darf er aber aus der Kassette auch nur einen Groschen herausnehmen?

Das Herz hämert ihm, als klopfe oder als komme wer. Ratlos dreht er das Gesicht zum Fenster hin, will die Augen schließen eine Weile, da geschieht es, daß sich drüben, in den Häusern am Rande der Stadt, ein Fensterflügel bewegt und daß eine Garbe Lichtes herüberschießt.

Gottes Sonne, denkt Christian, Gottes Auge, denkt er. Und er stellt die Kassette, ohne auch nur hineingeblickt zu haben, wieder hinter das Porzellan und geht den Weg zurück, den er gekommen ist. Wie er aber den Haustürschlüssel sorgsam in- das Versteck tut, wird es ihm so leicht ums Herz, als sei die Mutter augenblicks gesund geworden.

Der Weg zur Stadt will ihm niemals o kurz vorgekommen sein. Auch weiß Christian nun, was er zum Apotheker sagen werde: Daß die Mutter krank sei und die Tropfen haben müsse. Er aber könne die Tropfen nicht bezahlen, jetzt nicht. Aber morgen, di werde er es sicherlich können, da werde er das Geld bringen, ganz gewiß.

Er ahnt nicht, wie schwer es fällt, solche Worte laut zu sprechen, nicht für sich allein, sondern in einem Raum, wie die Apotheke es ist: wo viele Menschen warten, alte, gebrechliche Leute zumeist, die ein Rezept und ein großes Schweigen mitbringen. Aber es muß sein, er muß sprechen, die Mutter muß ja die Tropfen haben.

Er umfaßt das gefüllte Medizinfläschchen. „Herr Apotheker“, sagt er, „die Mutter...“ Und nun wächst die Stille, und der Apotheker steht wie ein riesiger Baum in ihr. „Die Mutter“, wiederholt Christian, „sie stirbt, wenn sie die Tropfen nicht hat.“

In diesem Augenblick legt sich eine Hand auf seine Schulter, und eine Stimme, die ihm bekannt scheint, spricht: „Schon gut, Christian. Bringe der Mutter nur rasch die Tropfen. Ich lege derweil die paar Groschen aus.“

Er dreht sich um und steht vor der Medizinalratswitwe, die mit unter den Wartenden und Schweigenden auf der Apothekenbank gesessen. Und da kommt es über Christians Seele: er weint, wie er in seinem Leben nie geweint hat, und die Tränen, fühlt er, tun nicht weh.

„Wie wird die Mutter sich freuen! sagt er und eilt, daß die Tränen vor ihm herspritzen, nach Hause. Behutsam öffnet er die Stubentür, ruft leise „Mutter“ und geht, als sie nicht antwortet, auf den Zehenspitzen bis an das Bett. Schläft die Mutter? Ja, so ruhig schläft sie, daß er ne nicht wecken mag. Und ein Lächeln ist in ihrem Gesicht, so schön, als wüßte sie alles: daß er das Geld aus der Kassette nicht genommen und daß in der Apotheke dann die Medizinalratswitwe plötzlich dagewesen, als habe sie jemand gerufen.

Dies denkt er, stellt das Medizinfläschchen auf einen Hocker, holt einen Löffel und ein Glas Wasser, damit die Mutter, wenn sie aufwacht, auch gleich die Tropfen nehmen könne. Noch einmal schaut er in ihr Gesicht, in den Glanz, der hineingefallen ist und es so wunderlich verwandelt hat. Sich ein wenig von dem Glanz mitnehmend, tritt er ans Fenster, steht hier lange und lächelt... und weiß nicht, daß die Mutter tot ist.

Als er aber darum weiß, nimmt er, wie um noch ein Letztes zu tun, das Medizinfläschchen und geht damit in die Stadt. Der Apotheker erkennt ihn, blickt ihm eine Weile in die Augen, als sei darin mehr zu lesen als in den medizinischen Büchern, und gibt ihm dann das Geld heraus. Dieses Geld legt Christian ein wenig später in jene Hand, die es gestern ausgegeben hat.

Es sei recht so, meint die Medizinal-ratswitwe. Und es sei wohl auch recht so, daß er von nun an immer bei ihr bleibe. Denn jemand müsse ihm ja Mutter se--r..

Er weiß darauf nichts zu antworten. Er weiß nur, daß alles, was in den letzten Stunden geschah, nicht von ungefähr sein kann. Und daß er ihr, der lieben, alten Frau, einmal alles erzählen werde, Vor dem Fenster vielleicht, wenn wieder ein Lichtstrahl herüberkommt.

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