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Digital In Arbeit

Das Ende eines Lebens oder Fünfzig vorbei

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Was ist in mir? Er hatte die Frage in seinem Leben bisher nicht gestellt -und jetzt begann sie ihn zu beschäftigen. Fast plötzlich. Sie war so stark, daß sie die anderen Fragen verdrängte, die zu stellen er Ursache hätte. Was also ist in mir?

Am Vormittag, als er in die Personalabteilung gerufen wurde, der Ingenieur ihm deutete, vom Telefon hinter der Glaswand, als er die Drehbank abstellte, sich die Hände wusch und eigentlich schon alles wußte, außer diesem: Was ist in mir?

Rudolf Klein, Dreher, 53, seit 1956 im Betrieb, Werkmeisterprüfung. Ein gelbes Karteiblatt. Die Sekretärin schaut auf, vergewissert sich, er ist er, trägt das Blatt durch die Türe, heißt ihn sich setzen, Platz zu nehmen wie sie sagt, nach zehn Minuten darf er eintreten. Der förmliche Händedruck, Zigarette überm Schreibtisch, er lehnt ab, er müsse verstehen, die wirtschaftliche Entwicklung, die erforderlichen Maßnahmen, der blaue Umschlag, Sozialplan, Unterstützung, Zahlen, Worte, Formulare, Unterschrift.

Er hat die Zeitungen gelesen. Er weiß. Er hat für niemand zu sorgen. Verwitwet seit drei Jahren. Er niclct. Förderungsplan. Vielleicht eine andere Stelle. Er nickt. Er weiß. Er geht. Was ist in mir?

Er geht nicht zurück. Er schaut nicht einmal zurück. Er hat den blauen Overall ausgezogen als er sich die Hände gewaschen hatte. Er hat seine Tasche mitgenommen. Er hat nichts mehr zu vollenden. An der Drehbank kann ein anderer weitermachen. Es ist alles eingestellt. Er winkt dem Pförtner, er stempelt seine Ausgangszeit, 10.67 Uhr, Dezimalminuten. Das war es. Papiere werden zugeschickt, Arbeitsamt später. Nein, kein Abschied. Ihm ist nicht danach. Gehen, in eine Freiheit gehen, die er seit seiner Kindheit nicht mehr gekannt hat, in die freie Einsamkeit gehen, Vergessen, die unwesentliche Zeit vergessen, zum Himmel aufblicken, langsam gehen, los, arbeitslos, 53, Rudolf Klein, Dreher. Aber was ist in mir?

Er geht nach Hause, vorbei an der Straßenbahn, vorbei an Häusern, Auslagen, Straßenkreuzungen. Er geht nach Hause, füttert die Katze, trinkt eine halbe Flasche Bier, läßt sie stehen, geht wieder fort, geht in die Freiheit, in die Zeitlosig-keit, in einen leicht verhangenen Mittag. Er schiebt seine Hände in die Taschen, nutzlose Hände jetzt, er denkt nur kurz daran. Was ist in mir?

Gezeugt 1938, geboren 1939. Kindheit aus der Fernsehcio kumentation, der Einmarsch, Fahnen, Lieder, erhobene Arme, Hoffnungen, Enttäuschungen. Als er in die Schule kam war schon alles vorbei, nur mehr der Fleck an der Wand vom Führerbild, die Klasse kalt. Keine Lieder mehr. Schulgebet. An den Vater denken. Rußland. Vermißt. Die Mutter trösten.

Das ist in mir. Ein Kind der falschen Hoffnung. Die Schuld des kollektiven Egoismus. Wieso? Warum? Kinder sind doch unschuldig. Kinder wünschen sich was Kinder bekommen. Kinder fragen nicht nach dem Preis. Kinder wissen nicht, was das ist, Tod. Spielfeld, Schlachtfeld, Sieg, Niederlage. Kinder erfahren alles, stolze Freude, stolze Trauer, mitlaufen, im Keller sitzen, Sirenen, Bombenschläge. Davonkommen und Erdäpfelsuppe, andere Uniformen und Kaugummi. Ein Österreicher sein. Vergessen. Und was ist in mir?

Er hält den Film an, der abzuspulen droht, weiterlaufen will auf der Mattscheibe freigegebener Erinnerungen. Er will nicht wissen, ob die blaue Rechnung von heute mit diesem gestern zu tun hat. Alles hat mit allem zu tun, denn es ist in dir. Aber was, was ist in mir?

Ein Montag, ein beliebiger Tag, Wochentag, Werktag. Kein Werk für ihn. Ein Feiertag. Wer feiert? Schneller Vorlauf des Erinnerungsfilms bis zu dem Tag, an dem Hilde begraben wurde. Er hatte erst begriffen als er sie im Sarg sah. Das Grab. Der Friedhof. Das Kreuz. Erde. Blumen. Im Vorjahr ein Stein. Die Blumen begießen. Öfter. Dann manchmal. Heute wieder.

Auch das ist in mir. Diese wortlosen Gespräche. Diese Witwerabende. Dieses Suchen nach dem Gemeinsamen, Liebe, Lust, Streit, Zusammenleben, Zusammenraufen. Hilde! Die Zeit war zu kurz. Er kauft ein Licht im roten Glas, er zündet es an, er lockert die Erde, er gießt, er steht da, versucht zu denken, hinüberzudenken, wohin? Daß er jetzt Zeit hat, wiederzukommen, täglich, wenn er nicht aufs Arbeitsamt muß. Lächerlich vielleicht für einen Mann, so unter den da und dort umherschlurfenden Weibern, Witwen mit höherer Lebenserwartung, die mit ihrem Verflossenen flüstern. Er zuckt die Schultern. Was ist in mir?

Er könnte noch arbeiten, er kann, er will. Er will kein Gnadenbrot. Er atmet die Freiheit, er atmet sie wieder aus, sie schmeckt bald leer, schmeckt bitter. Er nimmt die Hände aus den Taschen, er betrachtet sie, diese seine Hände. Das ist mein Vermögen, hatte er zu Hilde gesagt, das und da, und dabei hatte er auf seine Stirn getippt. Werkmeisterprüfung. Undjetzt wozu? Das ist nur in mir. Was ist noch in mir? Wen kümmert es, was in mir ist? Er gent durch die Keinen, liest Namen, liest Jahrgänge, jung, alt, männlich, weiblich, Familien, einzelne, hohe Steine, niedrige Steine, Blumen, Unkraut, Kränze. Der bedeckte Himmel erzeugt keine Schatten. Gehen. Nicht zurückschauen.

Sie werfen die Erde über ein Brett. Er sieht nur ihre Köpfe. Sie stehen in der Grube und schaufeln. Totengräber. Er bleibt stehen, schaut zu. Sie schwitzen. Sie arbeiten. Sie halten ein, steigen aus der Grube, setzen sich zwei Grabreihen weiter auf einen Stein. Papier raschelt. Sie machen Pause und essen. Sie lächeln ihm zu, winken mit der Flasche. Er versteht, setzt sich zu ihnen. Wurstbrot, Bier. Sie fragen nicht, sie tun als gehöre er zu ihnen. Branco und Franco. Er redet mit ihnen, langsam, schaut sie dabei an, mit ein paar Gesten.

Fremdsein, fremde Erde aufgraben, fremde Menschen hineinlegen, fremde Erde zuschaufeln. Jeden Tag ein anderer. Fremde Menschen sterben täglich. Sie stehen auf, er geht mit ihnen hinüber. Sie wissen, was er will, die Schaufel. Er schaufelt mit ihnen.

Er schaufelt oben beim Brett das Erdreich hinüber, lehmiges Zeug, harte Steine. Schweigend arbeiten sie.

Er kommt wieder. Sie schaufeln wieder, Tage, Wochen. Er hat zu tun. Niemand fragt. Er gießt die Blumen bei Hilde und geht schaufeln. Er will herausschaufeln, was in, ihm ist, Erinnerung, Schuld, Frage, Vorwurf, Einsamkeit, Vergessen. Er schaufelt fremde Gräber und schaufelt sich eine kleine Freundschaft: Branco und Franco. Er geht mit ihnen. Ins Wirtshaus, in die Wohnung, zu ihren Landsleuten, sitzt und ißt mit ihnen. Ein wenig Geborgenheit fühlt er da. Er kennt schon Worte und Sätze in ihrer Sprache.

Sie reden aufgeregt. Sie wollen nach Hause. Sie wollen und müssen dort etwas verteidigen. Heimat, Haus, Frau, Kinder? Von wem, für wen, vor wem? Er versteht nicht und versteht doch. Sie wollen fahren. Kommst du mit? Er will mitkommen. Was hält ihn? Schaufeln da oder dort. Was ist in mir? Aussichtslosigkeit oder Sehnsucht? Flucht vor dem Unwesentlichen? Sie schlagen ein, harte Hände, gute Hände. Ist er einer von ihnen?

Die Fahrt in den Morgen. Wieder der Film des Lebens, Abschnitt mit Hilde auf Urlaub in Jugoslawien. Das Zelt, die steile Küste, das Meer-, Vierzehn Tage Zwischenglück. Ausgeblendet. Der Wagen rumpelt. Am Abend sind sie da. Die Wirklichkeit eines Sonnenuntergangs, die Wirklichkeit aufgerissener Straßen, der Stacheldrähte, der umfahrenen Krater. Frauen, fremde Worte, Umarmungen, Zittern, Ängste. Mit Branco und Franco im Haus und ein Wiedersehensmahl. Slivowitz und leiser Gesang und dann Schlaf, fem von daheim, fern von den Sinnlosigkeiten. Und morgen? Was ist in mir? Kann in mir noch etwas sein? Kann ich hier etwas tun? Außer Tote begraben.

Ich bin ein Gast, denkt er. Hat er je Gastfreundschaft erlebt? Er ist dankbar. Der Morgen ist ruhig. Er tritt vors Haus und sucht den Brunnen. Er zieht sein Hemd aus. Er atmet tief diese neue, fremde Luft. Er schaut auf zum Himmel. Er schaut auf zu den Bergen. Die Steine knirschen unter seinen Schritten. Zwei Ziegen weiden friedlich.

Der Schuß schlägt in seine Schläfe. Er fällt kopfüber. Branco und Franco schleppen ihn ins Haus. Sie küssen ihn, sie weinen. In der übernächsten Nacht begraben sie ihn neben der Kirche mit dem zerschossenen Dach. Rudolf Klein, Austria. Dann holen sie ihre Gewehre aus dem Keller.

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