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Aus dem Leken des Aktes Pierre

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Einer der Höhepunkte der soeben beendeten „Woche des religiösen Films“ war die Vorführung des Films über Abbi Pierre und seine Obdachlosensiedlung „Emmaus“. Der Film war nach dem Roman von Boris Simon (Deutsch bei Kerle, Heidelberg) gedreht worden, der ganz auf der Wirklichkeit basierte. — Abbe Pierre, katholischer Priester, Sohn eines reichen Lyoner Textilhändlers, Mitglied der französischen Widerstandsbewegung, Inhaber zahlreicher Kriegsauszeichnungen, gründete in der Nähe von Paris eine Obdachlosensiedlung „Emmaus“, die er hauptsächlich aus den Mitteln seiner Abgeordnetenbezüge unterhielt. Als er sein Mandat verlor, war seine Gründung äußerst gefährdet. Er versuchte durch Betteln vor den Pariser Kaffeehäusern die notwendigen Gelder hereinzubringen. Seine Gründung war allerdings erst wieder gesichert, als einer seiner Schützlinge den Abbe auf die finanziellen Möglichkeiten des Lumpensammelns hinwies und mit einigen Kollegen das Sammeln und den Verkauf von Abfällen tatsächlich durchführte. Im folgenden bringen wir eine Szene aus dem genannten Roman, der unter dem Titel „Die Lumpensammler von Paris, Abbe Pierre im Kampfe gegen das Elend“, erschien.

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Einer der Höhepunkte der soeben beendeten „Woche des religiösen Films“ war die Vorführung des Films über Abbi Pierre und seine Obdachlosensiedlung „Emmaus“. Der Film war nach dem Roman von Boris Simon (Deutsch bei Kerle, Heidelberg) gedreht worden, der ganz auf der Wirklichkeit basierte. — Abbe Pierre, katholischer Priester, Sohn eines reichen Lyoner Textilhändlers, Mitglied der französischen Widerstandsbewegung, Inhaber zahlreicher Kriegsauszeichnungen, gründete in der Nähe von Paris eine Obdachlosensiedlung „Emmaus“, die er hauptsächlich aus den Mitteln seiner Abgeordnetenbezüge unterhielt. Als er sein Mandat verlor, war seine Gründung äußerst gefährdet. Er versuchte durch Betteln vor den Pariser Kaffeehäusern die notwendigen Gelder hereinzubringen. Seine Gründung war allerdings erst wieder gesichert, als einer seiner Schützlinge den Abbe auf die finanziellen Möglichkeiten des Lumpensammelns hinwies und mit einigen Kollegen das Sammeln und den Verkauf von Abfällen tatsächlich durchführte. Im folgenden bringen wir eine Szene aus dem genannten Roman, der unter dem Titel „Die Lumpensammler von Paris, Abbe Pierre im Kampfe gegen das Elend“, erschien.

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Den Ausschlag hatte ein Telephonanruf gegeben. Allerdings spukten dem Abbe schon seit mehreren Tagen das Flugblatt und die Sammlung im Kopf herum. Er dachte daran jedesmal, wenn eine besonders,,tragische Not, die er nicht zu lindern vermochte, ihn an der Kehle würgte. Diesmal konnte er tatsächlich nichts tun, er konnte die Familie weder bei sich aufnehmen, noch sie mit Geld unterstützen. Zum ersten Male fühlte er sich wirklich machtlos. Ein grenzenloser Zorn hatte sich während dieser schrecklichen Wochen in ihm aufgestaut, Zorn gegen die unerhörten Vermögensunterschiede, gegen die Verblendung der Reichen, den Schlendrian der Behörden und die Unzulänglichkeit der Mittel, die den karitativen Einrichtungen zur Verfügung standen.

„Doch die Vorsehung kommt“, versuchte er sich einzureden, als er sich auf den Telephonanruf der Frau S. hin auf den Weg nach Paris machte. „Oft kommt sie mit einer Viertelstunde Verspätung, damit wir zeigen können, wie weit unser Glaube geht ... Sie kommt immer, aber ... O Gott, während dieser Viertelstunde Verspätung kann dieser Mann sich und die Seinen umbringen ...“

Noch im Autobus, in der Metro, klang ihm die atemlose, verängstigte Stimme am Telephon im Ohr:

„Hallo, Hochwürden, ich konnte Sie nicht eher erreichen, kommen Sie, kommen Sie schnell ... Heute Nacht habe ich ihn wieder erwischt, er war aufgestanden und hatte schon den Gashahn aufgedreht, um uns und die Kinder umzubringen; reden Sie mit ihm, nur Sie können ihn zur Vernunft bringen.“

Er betrat das kleine, monatlich gemietete Hotelzimmer. Drei Kinder. „Seit acht Tagen schlafe ich nicht“, weinte die Frau, „ich tu so, aber ich fürchte mich zu sehr. Jetzt versucht er's schon zum zweiten Male. Ich lebe überhaupt nicht mehr. Jetzt ist er fort, vielleicht ist er ins Wasser gegangen ...“

Der Abbe tröstete sie, aber auch er hatte Angst. Der Mann, ein Neurotiker, konnte den Gedanken nicht ertragen, auf die Straße gesetzt zu werden. Von 22.000 Francs Lohn bezahlten sie 10.000 für die Zimmermiete. Sie hatten kein Geld mehr für das Essen. Der Pater suchte seine letzten Groschen zusammen — 500 Francs — und gab sie ihnen ... Er sprach freundlich mit den Kindern, die Frau wurde etwas zuversichtlicher, und als der Mann nach Hause kam, versprach ihm der Pater hoch und heilig, ihnen aus dem Elend zu helfen. Er wisse zwar noch nicht, wie, doch wenn sich sonst kein Ausweg biete, werde er sie bei sich in Emmaus aufnehmen. Der Mann versprach, vernünftig zu sein. Aber sein Blick blieb abwesend, verschlossen, in sich geltehrt — der Blick eines Kranken.

„Morgen komme ich wieder“, versicherte der Pater, „es wird schon alles gut werden.“

Es wird schon alles gut werden ,. . Oh, wie er sie haßt, diese vagen, leeren Worte, die nur lügen, wenn keine Hoffnung sie erfüllt! Der Pater litt Höllenqualen, er war jetzt zu tief verstrickt in die Verzweiflung der anderen, um seine eigene Verzweiflung überwinden zu können. Mit gesenktem Kopf ging er durch die Menge, mechanisch streifte sein Blick ein glänzend dekoriertes Schaufenster, die Vorhalle eines Kinos, ein überfülltes Cafe, die lange Reihe der Luxusautos, streifte die Menge, die gleichgültig vorüberhastete, ohne etwas von dem himmelschreienden sozialen Elend zu wissen.

Und er dachte: wenn alle diese Menschen, die sich so selbstsicher in ihren eleganten Kleidern, in ihrer Geborgenheit, bewegen, wüßten, wenn jeder einzelne von ihnen wüßte, wenn man ihnen auseinandersetzte, daß in ihrer allernächsten Nähe, im selben Haus wie sie, ganze Familien gerettet werden könnten durch einen einzigen jener Scheine, die sie so ohne weiteres an der Kinokasse, in den Läden, in den Nachtlokalen ausgeben ...

Und in seinem Gehirn formten sich die Worte, die Sätze eines Anrufs, einer Anklage, einer Verwünschung; er ging rascher, und während er jene unbekannten Gesichter musterte, murmelte er, als wende er sich bald an diesen, bald an jenen, der ihn im Vorbeieilen anstieß ...

„Vorübergehender, weißt du ...

... daß mitten im 20. Jahrhundert, mitten in einem Land der Wissenschaft und des Fortschritts, mitten in einem sogenannten christlichen Land,..

Weißt du, daß dein Nachbar morgen kein Dach über dem Kopf haben- oder daß ein einziges Zimmer seinen gesamten Lohn verschlingen wird...

Weißt du, daß in deiner allernächsten Nähe heute abend ein kleines Kind sterben muß, weil sein Vater kein Geld hat...

Was für einen Sinn hat für diese Tausende von Menschen das Leben noch?

Während andere, du selbst vielleicht, von ihren Dividenden und einträglichen Pbstchen in Saus und Braus leben, an einem einzigen Abend Zehntausende verjubeln....

Und was bist du inmitten all dieser Narrheit und Verzweiflung?

Was hast du getan?“

,Ja, ich muß ihnen das sagen, ich muß ihnen das begreiflich machen. Wenn sie es wissen, können sie gar nicht gleichgültig bleiben!“

Er kannte eine kleine Druckerei. Der Inhaber würde die Arbeit rasch machen, rasch ..., vielleicht hingen Menschenleben davon ab.

Spät am Abend traf er in Emmaus ein, wo alles schlief. In seinem Zimmer, wo er keinen Schlaf fand, schrieb er den ersten Entwurf auf ein Blatt Papier nieder. Ein Schrei, der in seiner nackten Wahrheit auch den härtesten Panzer der Selbstsucht sprengen und unmittelbar ins Herz eindringen mußte, ein Hilferuf, der sogar die Seele des Reichen erschüttern konnte.

Der Abbe überlas seinen Aufruf noch einmal. Seine Beklemmung wich, er fühlte sich fast erleichtert, daß er ihn hier, auf dem Papier, druckfertig vor Augen hatte. Plötzlich jedoch murmelte er:

„Habe ich das Recht dazu? Wer bin ich, daß ich, wie ein Prophet, der Welt den Zorn Gottes androhe? Daß ich zu schreiben wage?“ Wer bist du? Was hast du getan? „Bin ich würdig, die anderen der Selbstsucht zu bezichtigen? Was habe, ich selbst getan?“

Mit neunzehn Jahren hatte er einst vor dem heiligen Franziskus das Gelübde der Armut abgelegt; aber daß ein Priester, ein Mönch, namentlich in einer Klostergemeinschaft, in Armut lebte, erschien ihm weniger schwer zu sein als das tägliche Opfer, zu dem dieses Flugblatt ihn verpflichtete: fortan war ihm jeglicher Friede versagt, denn auf diesem Blatt Papier hatte er den Armen schriftlich ein Versprechen gegeben; sein Leben ihrem Heil“ zu weihen, allein, ohne Hilfe, ohne Ermutigung durch irgendeinen Menschen als ein Franktireur der tätigen Barmherzigkeit.

Fortan durften seine Geistesgaben, die er politischen oder diplomatischen Aufgaben hätte widmen können, auf nichts anderes gerichtet sein als auf einen zermürbenden Kampf um Brot, Kleidung und Unterkunft; das beschauliche wie das öffentliche Leben waren ihm versagt; fortan mußte er unentwegt sein Leben in die Schanze schlagen, den erschöpften Leib immer weiter treiben, und nur noch „dafür“ existieren. Würde er imstande sein, durchzuhalten?

Aber er war hier und gehörte nicht mehr sich selbst, er gehörte ihnen, er war ihr Gewissen. Das Gewissen ihrer Not. Er war die pulvergeladene Patrone ihrer Leiden und ihrer Empörung ...

Gerade vor Weihnachten war das Flugblatt gedruckt und ausgeliefert. Noch am selben Nachmittag machte sich der Pfarrer, mit dem Paket unter dem Arm, auf den Weg nach Paris, ohne den Gefährten etwas von seinem Vorhaben zu sagen. Es war nichts mehr zu essen im Haus, und er durfte keine trügerische Hoffnung in ihnen erwecken.

Keiner wird jemals wissen, was diese erste Straßensammlung ihn gekostet hat ...

Er begann mit den Häusern in der unmittelbaren Nachbarschaft des Palais Bourbon, am Ende des Boulevard Saint-Germain, in der Annahme, der Kontrast zwischen seinem jetzigen Auftreten als Bettler und seiner einstigen Abgeordnetenwürde, könnte bei ehemaligen Kollegen, denen er möglicherweise begegnen würde, eine entsprechende seelische Schockwirkung haben.

Er betrat Konditoreien, Cafes und Kaufläden. Schon seine ersten Worte: „Ich bin kein guter Kunde“, ließ das Lächeln auf dem Gesicht der Verkäuferinnen und Inhaber erstarren.

Mit kurzen Worten schilderte er Emmaus, wo ein paar arme Menschen sehnsüchtig auf eine Hilfe warteten, die ihnen nicht verweigert werden dürfte. Fünf von zwanzig Kaufleuten wiesen ihn ab unter dem Vorwand, sie seien von Steuern, Taxen und Abgaben erdrückt.

Dann wanderte er mit seinem Paket unter dem Arm die Champs-Elysees hinauf; in seiner abgeschabten Lederjoppe, die Baskenmütze auf dem Kopf, mit seinem Stock und seinen sämtlichen Dekorationen postierte er sich um die Stunde des Aperitifs am Eingang der elegantesten Cafes von Paris.

In erlesene Pelze gehüllt, entstiegen die schönsten Frauen der Welt chrom- und lackfunkelnden Luxuswagen; sie schritten dahin an der Seite von Männern in tadellos sitzenden Ueberziehern aus der Hand erstklassiger Schneider, lächelnd, selbstsicher, lässig — Könige des Lebens. In der rotgoldenen Flut des Neonlichtes überquerten sie den Gehsteig, den Freunden entgegen, die unter den strahlenden Kronleuchtern der von Lachen, Musik und Geschwätz summenden Cafes ihrer harrten. Da, auf einmal, vor ihnen eine dunkle Gestalt .... ein kleiner, gebückter Mann mit einem mageren, bärtigen Gesicht, in groben Schuhen und einer abgenutzten Lederjoppe, streckte ihnen ein Blatt Papier entgegen. Sekundenlang zauderte die junge Frau, und eine ablehnende Geste entfuhr ihr; im ersten Augenblick dachte sie, es handle sich um einen jener armen Teufel, die Reklamezettel verteilten, schon wollte sie weitergehen, da fiel ihr Blick auf die Soutane und die Orden des Priesters, sie sah seine Augen und sein Lächeln, das weder unterwürfig noch spöttisch, sondern gut, freundlich und unbefangen war. Sie begriff nicht, sie traute der Sache nicht recht, zugleich aber wandelte sie Neugierde und eine leise “Furcht vor diesem Blick an. Er bettelte nicht mit Musikbegleitung, wie die Sammler der Heilsarmee. Dies hier war etwas anderes. Und dieser aufrichtige Priester ließ vor den Augen der jungen Frau eine andere, die wahre, eigentliche Welt erstehen, das ferne, längst vergessene, entbehrte, vielleicht auch gehaßte Antlitz des Heilands, mit dem eine leise Aehnlichkeit ihn verband ..

„Nehmen Sie“, befahl sie ihrem Begleiter. • Der Mann nahm das Blatt, überlas es im Weitergehen, kehrte um, zog seine Brieftasche und gab das Blatt, das ihm die Finger ver-i brannte, zurück.

An jenem Abend verbrannte es auf den“ Champs-Elysees vielen Leuten die Finger ... Dann ging der Abbe in die Luxuscafes selbst hinein. Diese Leute schätzten das Eindringen dieses Abgeordneten der Unterwelt in ihre Welt — die sorgsam behütete Welt der Reichen — ganz und gar nicht. Aber sie wagten nicht, den Kellner nach einem Polizisten zu schicken, denn der Abbe trug seine sämtlichen Orden: Ehrenlegion, Kriegskreuz, Widerstandsmedaille ... In seinem bettelhaften Aufzug bildeten seine sieben Ehrenzeichen seinen einzigen Schutz gegen die Feindschaft der Ordnung, die er zu stören wagte.

Allmählich jedoch stieg mit der Müdigkeit auch die Verzweiflung in ihm hoch — das drückende Gespenst des Wozu ... Dieses Gefühl beschlich ihn auf dem Boulevard Saint-Germain, wohin er gegen Mitternacht zurückgekehrt war. Etwas Geld hatte er bekommen, 2000 Francs, die gerade ausreichen würden, um die zwanzig armen Teufel in Emmaus zwei Tage zu ernähren. Aber dann? Aber der riesige Bedarf für die Folgezeit? Wenn es nicht anders ging, würde er eben wieder betteln gehen. Was ihn jedoch mit unsäglicher Bangigkeit, mit gleichsam metaphysischem Grauen erfüllte, war die Nutzlosigkeit seines Tuns: wenn er auch zwanzig Hungrige vorläufig sättigte, was vermochte er für die unabsehbare Menge der anderen, derer, die er kannte, und derer, die er nicht kannte, die zu Hunderttausenden in eben dieser Nacht litten und sich morgen und allezeit für sich und ihre Kinder weiter abquälen mußten, unter grauenhaften Lebensbedingungen, in Armut, Lästerung und Verzweiflung? Für sie, für all jene, von denen in seinem Flugblatt die Rede war, vermochte er nichts. Die Gebärde des Handausstreckens, um das Blatt Papier zu geben und ein bißchen Geld in Empfang zu nehmen, diese Gebärde, die ihn solche Ueber-windung kostete, wie gering war ihr Ergebnis, eine vereinzelte Handlung, ein verhallender Schrei, kaum vernehmbar und nutzlos, und der Bedarf blieb unermeßlich ... So viele Schritte, so viele „bitte“ und „danke“ für ein paar “hundert Francs, während es doch darum ging, eine Welt der Ungerechtigkeit aufzurütteln. Und durfte er hoffen, daß sein Flugblatt, das man aus Höflichkeit entgegennahm, rasch überflog und dann wegwarf, hier und da ein Gewissen anrührte, und wenn ja, was war letzten Endes die Bilanz dieses Empörungsschreis? Alles würde weitergehen: Selbstsucht und Leiden, Vergnügungen und Verzweiflung; hier Geld, das vergeudet wird, dort Geld, das fehlt, Gleichgültigkeit, Lachen, Weinen, Sterben ... So ging das Leben, das sich der Offenbarung verschloß, weiter. Und wen sollte man dafür verantwortlich machen? Niemandem konnte man die ganze Schuld an diesem grenzenlosen Uebel aufbürden. Niemandem, mit Ausnahme einiger vollverantwortlicher Mächtiger, die willentlich und ganz bewußt, aus einem geradezu teuflischen Entschluß heraus, nur auf ihr eigenes Wohl bedacht waren, mochte auch die Welt darüber zugrunde gehen.

Eine schmale Nebenstraße des hell erleuchteten Boulevards, eine kleine Straße ohne Geschäfte, mit geschlossenen Fensterläden. In ihr Dunkel flüchtete der Pater, um seine Ver-störung zu verbergen. An eine Mauer gelehnt, zu Tode ermattet, neigte er das Haupt, schloß in seiner grenzenlosen Verlassenheit die Augen und überließ sich einer Trostlosigkeit, gegen die er nicht mehr anzukämpfen vermochte. Er war am Ende seiner Kräfte ... An die blinde Mauer gelehnt, weinte er. Er weinte, und diese Tränen erleichterten ihn etwas. Dann riß er sich zusammen:

„Nein, es mußte etwas getan werden; mochte das Ergebnis noch so gering sein, das Alarmzeichen mußte gegeben werden ...“

Er verließ das Dunkel, nahm seinen ganzen Mut zusammen: noch einmal wollte er es versuchen.

Ein kleines Cafe war noch offen, die Kinos waren schon geschlossen. Ein fast leeres Bistro: ein einziger Kunde und der Wirt. Der Kunde lehnte an der Theke, regungslos, den verschwommenen Blick ins Leere gerichtet, in trübes Sinnen versunken.

Der Abbe streckte ihm seinen Zettel entgegen. Verwundert nahm ihn der andere, las ihn — und während der dicke Wirt dem Bittsteller etwas über die hohen Steuern und Abgaben vorjammerte, die den kleinen Gewerbetreibenden „den Hals brächen“, blickte der einsame Mann, nachdem er gelesen hatte, den Priester an, aber er rührte sich nicht — vielleicht aus Schüchternheit.

Beim Hinausgehen drehte der Abbe sich noch einmal um; der Mann sah ihn noch immer an, und nie wird der Pater diesen unverwandten, flehenden Blick vergessen, der ein Gespräch ersehnte und sich nicht getraute ...

Tags darauf fand der Pater unter seiner Post eines seiner Flugblätter, auf das folgende Worte gekritzelt waren: „Gestern bin ich am Boulevard Saint-Germain einem Priester begegnet, diese Begegnung hat mich zum Gott meiner Jugend zurückgeführt. Danke.“ Keine Unterschrift. War der Verfasser jener Unbekannte in dem Cafe? Ein bescheidener 100-Francs-Schein lag bei, kostbarer als manch ein gleichgültig gegebener größerer Schein.

Der Pater heftete den Zettel an die Wand neben seinem Bett.

Er hat ihn aufbewahrt wie einen Kreditbrief auf die Vorsehung.

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