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Das Wirkliche

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Der steile Weg machte ihm sichtlich Mühe, und Herr Direktor Müller bereute es beinahe, dem Anerbieten des Postwirtes ausgewichen zu sein, der seinen Gaul mit allen Tugenden auszustatten verstanden hatte. Aber wenn Johann Müller seinen Rock wieder enger unter den linken Arm zwängte, das Taschentuch vorläufig seines Dienstes enthob, so daß Muße blieb zu rasten und ins Land zu schauen, war er aufs neue über die abendliche Verklärung entzückt: vorne die sanften Hänge mit Nuß- und Eichenbäumen, weiter unten pralle Wiesen und im Tal der Fluß gleich schmelzendem Silber, zu dessen Seiten die blauen Auen, durch das satte Grün von Erlen- und Weidensträuchem seltsam erhöht, dann vergaß er alle Beschwernis der Wanderung und sein Herz wogte wie in seinen jungen Jahren.

Es war nicht Rührung oder Heimweh, was ihn bewegte: beileibe nicht, aber doch quoll etwas Fremdes auf — wie hätte er sich’s sonst erklären können, plötzlich die große Stadt zu verlassen, eine 14stündige Fahrt auf sich zu nehmen, um — ja um seinen Freund Anton Schäfer, der in einem vier Stunden von der nächsten Bahnstation entfernten Nest als Pfarrer amtete, zu besuchen. Einfach alles liegen zu lassen! Hatte er nicht erst gestern noch an den Baumwollkursen der New-Yorker und Liverpooler Märkte herumgegrübelt, hatte dreihundert Ballen Ostindische (Bengal nach Typ 76 der Firma Rally Brothers, Liverpool, zu 6.75 Pence das Pfund) gekauft — und heute kümmerte er sich nicht einmal darum, ob der Markt ä la hausse oder ä la baisse lief!

Zwischenhinein stellte er sich die Überraschung seines Freundes vor, des großen, stattlichen Mannes mit dem rollenden „R“ und dem anhaltenden „A“. Ob er noch der alte Unbekümmerte war, der Mann, den sie spaßeshalber stets mit „Exzellenz“ betitelt hatten? Kaum! Sonst wäre er wohl nicht vor bald zwanzig Jahren in diese Wildnis geflüchtet. Er hatte damals etwa, wie er schon als Student zu sagen beliebte, in seiner inwendigen Wohnung die Möbel verrückt. Ob er dazumal das „verrückt“ auch so wohlausgewogen angesetzt und seine köstliche Freude an der Doppelsinnigkeit dieses Wortes geäußert hätte?

Herr Direktor Johann Müller lächelte vor sich hin und zwängte seinen Rock wieder fester unter den Arm.

Endlich näherte er sich seinem Ziele. Ein kleiner Bengel war sehr stolz, um den Weg gefragt zu werden, und wichtig wies er auf die Kirche, deren Helm hinter einem Hügel hergufschaute: „Grad daneben wohnt der Herr Pfarrer."

Jetzt war er ,-,daneben“; der Hochwürdige öffnete die Türe, um nach Wunsch und Weisung zu fragen. Der Besuch hub umständlich an, sich nach dem Herrn '“Pfarrer Anton Schäfer zu erkundigen, und verzog seine Mundwinkel nach oben, ohne damit die gewünschte Wirkung zu erreichen. Der Geistliche schien hilflos das weitere abzuwarten und war bemüht, seine „R“ einzudämmen und seine „A“ zu mildern. Der Besuch nahm die Bemühungen wahr und begann in lauter harten klirrenden „R“ und lauten hallenden „A" zu reden, bis der Geistliche seine Brille über die Augen schob, die Gläser durch das Falten der Stirnrunzeln noch höher hob und dann nach den Händen des Besuches griff: „Jetzt — das heiße Geist und Geister, Johann Müller — du? Du!“

So drängte er ihn zur Haustüre hinein, in die Stube und des Fragens und Sagens fand kein Ende, während sie sich gegenseitig heimlich die Jahre untersuchten. Sie addierten gleichsam diese Jahre, der eine dem andern und erschraken geradezu, wenn sie die Summen verglichen und — wider Willen — auch die eigenen Zahlen zusammenzählten — in der Hoffnung, vielleicht sei doch irgendein Fehler zu entdecken. Sie hielten den Rotstift ihrer Erinnerung gezückt, als könnte man durch eine Korrektur das Leben, vielmehr seine Vergänglichkeit ordnen-

„Wir sind schon alt", sagte plötzlich der Fabriksdirektor, der Geistliche aber schwieg.

Inzwischen dämmerte es, vor den offenen Fenstern summten Mücken, einige Vögel zwitscherten noch, die Bäume rauschten leise, von ferne klang Sensengedengel, eintöniges Hämmern.

Wieder sagte der eine: „Wir Alten.“

Doch der Pfarrer widersprach ihm, es sei etwas anderes, ein wunderlicher Drang von Erkenntnis und Leben, von einem zuviel, vom andern zu wenig, aber abwechslungsweise bald vom einen und dann wieder vom andern.

So redeten sie sich in ihre erste Stunde hinein, ganz offen, wie sie die Überraschung eines Wiedersehens mit sich bringt. Es kam ihnen dabei noch anderes unter, alle die vie len zufälligen Begebnisse, die sie von früher herübergerettet hatten, Schelmereien, kleine Tücken, Lust und Unlust des Schicksals, das in aller Vielfalt und täglich sich zu zeigen anschickt, sei es im Rahmen einer Familie, prächtig die Frau, zwei tüchtige, schon erwachsene Söhne, zwei brave Mädchen dazu, oder seien es die kleinen Freuden an Bienen, Hühnern, die Freuden auf dem Lande, an den Leuten und an der Stille.

Da brach der Geistliche unvermittelt ab, denn er sah das Gesicht des Freundes sich abwenden: war das zufällig, wie der ein Messer hervorkramte, um die Spitze einer Zigarre abzuschneiden und sie zum Fenster hinauszuwerfen?

„Wie schön hast du es!“

„Donnerwetter", entschuldigte sich nun der Pfarrer, „du wirst wohl Hunger haben. Aber es schaut schlimm aus. Meine Köchin liegt im Spital.“

Dann verfügte er sich in die Küche und was er fand, mundete trefflich.

Nachher machten sie einen Gang durch das nächtliche Dörflein. Die Leute hatten sich, vom Heuen die Woche hindurch müde, schon zur Ruhe begeben.

Die Stille strömte in den schönen Abend, Brunnen raunten, im Schlafe piepsten Vögel. Seltsam, wie hilflos sich der Fremde in der Gelassenheit dieser Nacht vorkam.

„Sind hier die alten Geistergeschichten noch lebendig?"

„In dir und mir", stand der Gefragte Rede und die „R“ rollten übermütig, und es schien, nut dürften auch die „A“ nicht fehlen: „und in allem, was nicht Rast und Heimstatt hat“.

„Ah, Exzellenz, haben heute einen guten Tag."

So übten sie doch wieder ihre früheren kleinen Bosheiten — über der sanften Schwermut des Vergänglichen — und waren erstaunt, wie wenig sie in den zwanzig Jahren vergessen hatten.

Als sie heimkamen, leuchtete der Mond hinter einer Wolke heraus und der Friedhof, den sie vom Fenster aus sahen, rückte in die Helle.

Sie zündeten kein Licht an und gerieten wie Junge ins Träumen.

Herr Direktor Müller fragte auf einmal: „Wie konntest du damals alle großen Pläne auf diese Weise bestatten?“

„Jeder hat vielleicht einmal ein solches Jahr."

„Aber im Alter, in meinem Alter würde es lächerlich wirken?!“

Hert Direktor Müller sagte das sehr ernst und lächelte: „Beginnen Geständnisse so? — Übrigens, etwas möchte ich damit doch sagen.“

„Du meinst, man kommt nach zwanzig Jahren nicht von ungefähr auf Besuch — ?“

„Ja, du hast recht — gestern —, wie soll ich dir das auseinandersetzen —?“

Da ließ der Geistliche seinen Freund allein. Er kam mit einer Flasche Wein zurück, die beiden Gläser klirrten unsicher in seiner Hand. Dann meinte er wie nebenbei, als schämte er sich des Geständnisses: „Bemühe dich nicht, ich habe das seinerzeit auch nicht können und wenn es heute gelingt, so ist’s zum erstenmal. Einige Zeit nach dem Kriege “

„Hättest du damals nicht einer ehrenvollen Berufung in eine fernere Stadt folgen sollen?“

Der Pfarrer lächelte schmerzlich:

„Zu dieser Zeit ist ein junger, lieber Freund bös erkrankt. Das bedeutete Anlaß genug, meine Absichten zu ändern. Es war ein einfacher Mensch, so einfach, wie Gott manchmal einen Menschen erschafft, damit zwischen Versuchung und Schuld wieder ein Mal errichtet sei. Wahrlich, an Versuchungen fehlte es ihm nicht. Schon als ich ihn kennenlernte, war es so. Diese ersten Begegnungen verrieten es auffallend genug und waren seltsam, wie sein Leben überhaupt, vom Geheimnis umwittert, Versuchungen, die ihn nach außen tragisch entstellten, innen aber eine folgerichtige Anschauung erwirkten, wie sie selbst in den Großen nicht feiner zu beachten ist: Er lebte sich ganz und stand dafür auch ohne Schonung ein. Dies zu behaupten ist recht sonderbar bei der Betrachtung seines Lebens, aber es war doch so, ein Geheimnis nämlich, das nur der Aufrichtige zu durchdringen vermag. Einmal aber ist jedes Herz aufrichtig und dann erkennt es seine Stunde, wie sie Hermann Waldner kannte, um darin treu zu bleiben. Denn das Leben ist ja nichts anderes als eine Sicherung gegenüber der Treue, im guten oder bösen Sinne. Darum müssen wir stets auf das Gute achten, so wie es der junge Künstler konnte, dessen Geschichte ich dir erzählen muß, weil sie eines jeden Menschen Geschichte ist, freilich nicht in ihrem äußern Ablauf, aber in der Wirkung und Wechselwirkung des Inwendigen zum Auswendigen, des Ewigen zum Wendigen.“ (Fortsetzung folgt)

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