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ICH GESTEHE

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Ich hätte nicht aufbegehren dürfen. Ich habe wahrscheinlich nur schlecht gehört oder die Szene nicht begriffen, ich bin bereits zu alt dazu und zu dumm. Da nimmt ein nicht mehr ganz junger österreichischer Autor aus der Hand des Ministers einen ganz schönen Staatspreis entgegen und zelebriert dafür, auch im Namen der übrigen Preisträger, neben der Staatsfahne, vor dem Minister, seine im kleineren Kreis bereits erprobte Österreichbeschimpfung. Was will ich denn? In der Bundesrepublik tun das alle Autoren von Rang, sobald sie einen Preis empfangen, keinen Staatspreis, ein Böll, ein Enzensberger oder oder. Dort beschimpfen sie die Bundesrepublik, also hat ein österreichischer Autor, wenn er etwas gelten will, Österreich zu begrobsen. Dort fallen die Stichworte für Autoren, wie für Teenager in Paris, Liverpool oder Cincinatti. Das war doch schon immer so. Warum rege ich mich auf?

Der heutige Intellektuelle hat dagegen zu sein, einfach und schlicht dagegen. Wenn er das Pech hat nicht in einer Volksdemokratie, sondern in einer westlichen Demokratie zu leben, dann eben gegen diese Demokratie. Ich gestehe, ich kann da nicht mit, aber auf mich kommt es doch nicht an. „Jedes gelungene Werk protestiert gegen die mißlungene soziale Organisation”, sagt ein Mann aus Bremen bei den Marcuse-Festwochen in Salzburg. Da unsere soziale Organisation nicht nur verbesserungsbedürftig, sondern nach 1945 total mißlungen ist, kann ein engagiertes Gedicht nur gut sein, wenn es gegen sie protestiert. Das ist durchaus logisch, auch wenn es mein Fassungsvermögen übersteigt. Das weiß heute jedes bundesdeutsche Erste Semester. Auch ich begreife schön langsam, daß wir diese Art des totalen Dagegenseins endlich auch in Österreich einführen müssen, wollen wir nicht das Schlußlicht unter den Nationen sein, noch dazu als Spitzenreiter im Alphabet.

Konservendosen geworden. Überhaupt sah die Gegend aus, als sei ein riesiges Geschöpf mit seiner bösen harten Hand darüber hingefahren.

Ruth stand im weißen Sonnenlicht und konnte nicht weinen. Die nächsten Tage verbrachte sie in ängstlicher Erregung und versuchte sich durch Geschäftigkeit zu betäuben. Nachts lag sie schlaflos und las in dicken Büchern, die sie nichts angingen und die sie gar nicht verstand. Bei Tag schien ihr das Licht greller als je zuvor und alle Dinge und Menschen traten ihr ungebührlich nahe und zwangen sie dazu, ge- ängstigt die Augen zu schließen.

Eines Vormittags ging sie weg, um Dinge einzukaufen, die sie in Wahrheit gar nicht brauchte, die ihr aber plötzlich sehr notwendig erschienen.

In einer ganz unbekannten Straße fand sie sich wieder und bemerkte, daß sie in die Auslage einer Apotheke starrte und eine Reklame las.

Eine Straßenbahn hinter ihrem Rücken kreischte in der Kurve und Ruth fing an zu zittern.

„Bei Schmerzzuständen aller Art .Adolorin”‘, las sie, und plötzlich war ihr, ein Fahrzeug biege um die Ecke und rase in sie hinein. Schon spürte sie den brennenden Schmerz im Rückenmark, als die Tür der Apotheke aufschwang und ein Herr heraustrat. Ruth ging an ihm vorüber und stand vor einem Marmorpult mit vielen Flaschen, Dosen und Tiegeln.

„Adolorin”, flüsterte sie, „gegen alle Schmerzzustände.”

Der Apotheker lächelte vertraulich und beugte sich über des Pult vor. Sie steckte das Päckchen ein, zahlte automatisch und begriff, daß man von ihr erwartete, sie werde wieder fortgehen, fort aus der guten, grünen Dämmerung. Aber sie wollte nicht gehen, sie wollte und konnte nicht. Draußen kreischte das große elektrische Tier und die Sonne wartete darauf, sie in die Augen zu stechen.

Jemand sagte: „Ist Ihnen nicht gut?” Sie schluckte zwei Tabletten und trank viel kühles Wasser. Dann lag sie in einem kleinen Raum auf einem braunen Wachstuchsofa und war allein. Auch hier war grüne Dämmerung. Sie sah vor sich ein Regal mit Gläsern und Porzellantiegeln, auf denen lateinische Namen standen.

In diesen weißen Behältern stak der Tod, hundert verschiedene Tode, deren Namen schwarz und exakt auf das weiße Porzellan gepinselt waren.

Ein Löffelchen davon stärkte das Leben, zehn Löffelchen verwandelten es in den Tod. Es gab keine Grenze, nur Übergänge. Das Leben konnte nicht wirklich enden und der Tod wuchs schon im Keimling.

Ruth rollte sich auf dem Wachtsuch zusammen und spürte, wie die Wärme der Medizin sie durchdrang. Der dunkle, angsterstarrte Klumpen in ihrer Brust schmolz und strömte in eiligen roten Wellen durch sie hin.

Mühsam öffnete sie noch einmal die Augen und sah, halbbetäubt vor Müdigkeit, das leuchtende, tränennasse Gesicht der schönen Braut aus einem der weißen Behälter aufsteigen. Sie sah die dunklen Augen auf sich gerichtet und glaubte, die Arme danach auszustrecken, während sie bewegungslos lag. Süß war der Triumph, zu wissen, daß die Höhle wieder- gekommen war. Aus zwei weißen Tabletten war sie auferstanden und zog sie tief in sich hinein.

Gleich darauf raschelte das alte Laub an ihrer Seite, der zarte, bittere Duft der Waldrebe senkte sich auf Ruth, und die sanften Atemzüge der schönen Braut berührten ihre Schläfe.

Aus den im Bergland-Verlag erschienenen zwanzig Erzählungen, mit dem Titel „Die Vergißmeinnichtquelle’.

Heute weiß ich, hohes „Sondergericht gegen antimodeme Umtriebe”, daß mein österreichischer Patriotismus bloß Dummheit war und ist. Wie kann ich auch einem kleinen Mann, einem Herrn Karl entgegentreten, wenn ein preisgekrönter Dichter das Land beschimpft? Ich verteidige mich nicht mehr, ich bitte nur um Ihre Milde. Geburtsfehler sind gemeinhin Milderungsgründe. Es gibt geborene Rebellen, aber leider auch geborene Patrioten. Schon im ersten Krieg habe ich im Schützengraben kein Buch gegen Österreich- Ungarn geschrieben. Ich war und ich bin ein „Dennoch- Mensch”. Diese Spezies zählt zur großen Abteilung der unverbesserlichen Optimisten. Es gibt nichts, das ihren Glauben zerschlagen, auch ihren Glauben an Österreich zerstören könnte, auch keine in diesem Lande vorexerzierte Dummheit, Brutalität, Engstirnigkeit und Liederlichkeit. Solche „Dennoch-Menschen” widerstreiten aber auch allen Theorien vom „heutigen”‘ Menschen. Unbrauchbar für alle Philosophen, Dichter und andere Pessimisten, hemmen sie den allgemeinen, vor allem den intellektuellen Fortschritt.

Sie fragen mich, wie ich mir Österreich im Jahre 2000 vorstelle? Eine Fangfrage, meine Herren Richter, die mein Den- nochmenschentum ad absurdum führen soll. Ob es dann nur noch Interessenvertreter geben wird, deren Politik darin besteht alles, was sie einander vorher weggenommen haben, untereinander aufzuteilen? Ob unsere Bauingenieure mehr Fremde ins Land locken werden, wenn sie endlich alle alten Baudenkmäler aus dem Weg geräumt haben, ob wir bis dahin eine Exportabgabe für im Ausland exportierte Literaten, Musiker, Schauspieler, Ingenieure einführen und damit ein besseres Kulturbudget füttern werden als uns die Vertreter der großen Gruppen heute zubilligen? Sie zwingen mich nicht, meine Herren, meinen Glauben abzulegen und mich selbst unter die Beschimpfer zu begeben, das einzige, was mich noch retten könnte. Ich bin weder ein Hurrapatriot noch ein gelernter Zyniker, für Sie, meine Herren, also kein einfacher Fall.

Für mich existiert Österreich nicht erst seit 1918 oder seit 1945, ich erwarte das Heil auch heute nicht von der Rechten oder von der Linken, von den Konservativen sowenig wie von den Computerenthusiasten. Ich schätze die Verse der Alten und die Lobpreiser der Schönheit, ich liebe aber auch jene Jugend, die diesen Versen mißtraut, der blaß gewordenen Schönheit noch mehr, und die gegen die allzusicher gewordenen Bürger marschiert, und ich zittere für diese Jugend, wenn sie sich dabei Hysterikern und weißbärtigen Anarchisten in den Arm wirft, und ich meine, auch das gestehe ich, wir dürften uns auch von jungen, herrlich jungen Menschen, die von unseren Erfahrungen nicht hören wollen, nicht unsere halbwegsgesicherte Demokratie, unsere Freiheit zerstören lassen. Ich bin gegen jede Absicherung unseres ausgesetzten Daseins durch fromme Sprüche aller Art, aber auch gegen die uns anbefohlene literarische Mixtur von Scheußlichkeit, Unsinn, Gemeinheit, Süchtigkeit und Sauerei, die uns als das heutige Leben vorgesetzt wird. Ich weiß, wieviel Bequemlichkeit, Selbstzufriedenheit und pharisäisch-buchhalterisches Denken sich den Reformideen eines großartigen Konzils entgegenstellt, ich weiß aber auch, daß jedes Zukunftbild schief hängt, in dem das Christentum ausgeklammert wird. Das Evangelium, das ernst genommene Evangelium in der langweiligen Robotergesellschaft des Jahres 2000: das einzige Abenteuer!

Diese Gedanken hätte ich nicht gestehen dürfen. Einen „Dennoch-Menschen”, einen Widerspruch gegen die Zeitläufte, einen Zwischenmenschen können Sie überhaupt nicht dulden, solange Sie Ihre fanatische Emdimensionalität aufrecht erhalten wollen. Wohin kommen wir, wenn wir nicht jede neue Mode radikal durchexerzieren, wenn wir „sowohl” „als auch” denken und stets das ganze runde Leben suchen, das Leben mit dem Widerspruch und nicht nur jenen Ausschnitt, der gerade weltgängig ist und keinen Widerspruch duldet?!

Österreich eine Utopie. Gut, sprechen Sie es nur aus. Sie fangen mich auch damit nicht für Ihre Zwecke ein. Für die Nationalisten war dieses Land stets eine Verlegenheit, für andere und für mich stets eine Utopie, ohne die wir nicht leben könnten. Und im Jahre 2000? Vielleicht haben unsere Söhne und Enkel das Leben auf österreichische Art auch dann noch nicht verlernt. Auch wenn sie vom alten Reich nichts mehr wissen! Die in Jahrhunderten hier in der Mitte des Kontinents zwischen Süd und Nord, Ost und West herausgebildete Art und Kunst, das Leben noch immer lebenswert zu gestalten und dem tierischen Fanatismus wie den Fanatikern unter uns zu widerstehen, das verliert ein Volk nicht in wenigen Jahrzehnten.

Ich gestehe, daß ich von diesem Glauben nicht lassen kann, auch wenn Sie ihn mir mit Statistiken und Aussprüchen widerlegen und den „Herrn Sumper” wie den „Herrn Karl” als Zeugen gegen mich aufmarschieren lassen, aber auch jene Literaten, die es alles soviel besser wissen als ich. Vielleicht ist die besondere Art, das Leben zu nehmen, dann das Beste, was Österreich den Roboterkreaturen des Jahres 2000 zu bieten haben wird. Schreiben Sie diese Utopie meiner Altersschwäche oder meinem krankhaften Optimismus zu oder jener ,JDennoch”-Haltung, die mich ja in Ihren Augen, Hohes Gericht, längst als unmöglichen Zeitgenossen entlarvt haben.

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