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Stimmen aus bedrängter Zeit

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Frankreich in der Verteidigung seiner geistigen Existenz

Frankreich war nach 1940 am Tiefpunkt seines Daseins angelangt, nidit nur weil der Feind mitten im Lande stand, sondern auch die Menschen, die eigenen Landsleute, in ihrem Denken vernebelt und befangen waren. Was damals heimlich geschrieben wurde, ist nun erst zugänglich. Doch alle diese Zeugnisse haben keinen bloßen historischen Wert, sondern sind Bekenntnisse des Glaubens an die geschichtliche Aufgabe der Demokratie. In diesen Gedanken schrieb Leon Blum im Gefängnis von Riom, als 1942/43 die Demokratie endgültig zerschlagen sdiien und der Widergeist höchste Triumphe feierte, sein Buch „Blick auf die Mensdiheit“ (Europa-Verlag, Zürich). Gerade die Demokratie bedarf einer strengen Prüfung, und eine solche kann zu harten Schlüssen führen, „aber sie sollte nicht im vorhinein durch ein Geständnis der Erniedrigung und der Unwürdigkeit beschwert werden. Wir sind im Unrecht, weil wir unser Unrecht erkannt und begriffen haben und nicht, weil die Gesdiehnisse uns Unrecht gegeben haben. In diesem Sinne müssen wir uns prüfen und richten. Die Pflicht der Billigkeit besteht auch uns selbst gegenübe r.“ Welch ein tapferes Wort! Heute haben wir noch diese Chance, auf die Leon Blum als Ziel seiner Schrift hinstrebt: daß endlich eine freie Zusammenarbeit der Völker zustande komme. Mit Angst verfolgte er damals das Hinneigen eines Teiles der jungen Generation zu Diktatur und Krieg und ruft dieser zu: „Ihr habt kein Recht, mit einer Handbewegung die Demokratie zum alten Eisen zu werfen. Ihr habt nicht das Redit, das Werk all der Männer ohne weiteres als fehlerhaft und betrügerisch zu verdammen, die sich seit 150 Jahren damit abmühen, die Grundlagen der Demokratie in der Welt zu schaffen. Ihr habt nur ein Redit und eine Pflicht — nachzuforschen, warum unsere Bemühungen nicht zum Erfolg führten, um sie nadi uns wirkungsvoller wieder aufzunehmen.“

Dieser Gewissenserforschung wollte er dienen und zugleidi den Sinn der wahren Demokratie aufzeigen. Wohl kennt er die politisdien Fehlentscheidungen und die Strukturfehler seines Landes. Darum erklärte er: „Ich werde mich hüten, begangene Fehler zu bestreiten. Aber welcher war der schwerwiegendste unter ihnen? Er besteht darin, die Gefahr nicht erfaßt oder vorausgesehen, die Hitlerschcn Pläne der Wiederaufrüstung, der Rache, der Eroberung nidit rasch genug durchschaut, den unabwendbaren und schicksalhaften Charakter ihrer Entwicklung nicht erkannt zu haben. Weil es selbst von Grund auf friedlich war, hat Frankreidi an die Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinanderlebens der in Europa installierten Demokratien und der sich darin festsetzenden kriegerischen Autokratie glauben wollen. Dieser Möglichkeit hat es nach und nach immer kostspieligere Opfer gebracht, ohne etwas anderes damit zu erreichen als eine Sdiwä-chung seines Ansehens nach außen, eine Zersetzung seiner Festigkeit im Innern und infolgedessen eine Erhöhung der Gefahr. Ich bin heute so weit, daß ich mich frage, ob Frankreich nicht schon im Jahre 1933 das noch ungerüstete Deutsland hätte daran hindern sollen, Hitler und seiner Partei die Macht zu übergeben. Niemand im damaligen Frankreich zog die Möglichkeit einer solch brutalen Einmischung in die deutschen Angelegenheiten in Erwägung, und doch hätte sie vielleicht Deutschland gerettet und Europa vor dem Unheil behütet.“

Blum ist nicht blind für die Schwächen des Systems in Frankreich, das sich zwischen den zwei Kriegen etabliert hatte.

„Ich gebe ohne weiteres zu, daß der Regierungsform in Frankreich innere Schwächen innewohnten, daß sie organische Elemente der Unbeständigkeit, der Unstetigkeit und der Unfruchtbarkeit in sich trug. Wenn man darauf dringt, win ich sogar zugeben — trotzdem et mir nicht erwiesen scheint •—, daß diese Schwächen während der mehr ls zwanzig Jahre der Zwüchenkriegszeit sich verschlimmert hatten. E ist unnötig, auf eine klinische Beschreibung einzugehen, die heute Oberall zu finden i und deren Züge und Schattierungen absichtlich und geflissentlich übertrieben und verstärkt werden: der leer Sdiwill der Reden, die Langsamkeit der Prozeduren, die ständigen Obergriffe und Usurpationen der gesetzgebenden Behörde gegenüber der Exekutiv und umgekehrt, die Kämpf von Gruppen und die Rivalitäten von Personen, die Schwäche und Kränklichkeit der Ministerien, die weder eine solide Basis noch eine genügende Dauer besaßen, weder Einfälle noch Mut aufbrachten, die mit einem Wort keinerlei Wirksamkeit hatten. Der Motor lief ichlecht, daher war sein Wirkungsgrad, am Energieverbrauch gemessen, gering. Das Steuerrad lag in unsicheren Händen. Ich selbst habe dieses Bild vor bald fünfundzwanzig Jahren gebraucht, als ich zum erstenmal mit den Kabinetten und den Räten in Berührung kam. Aber die einzig erlaubte Schlußfolgerung ist diejenige, die ich damals formulierte: Das französische Regierungssystem, das heißt die in Frankreich ausgeübte Form des repräsentativen oder parlamentarischen Regimes, muß einsdineidenden Korrekturen unterzogen werden.“

Aber das alles spricht nicht gegen die Demokratie! Eher gegen die übliche Form der Demokratie.

„Man hat jedodi nicht das Recht, die Folgerungen und das Urteil auf die Grundprinzipien der Demokratie auszudehnen: auf die Souveränität des Volkes, die Selbstregierung der Nation, die Kontrolle der Nation über die Exekutive, die Anerkennung und Garantie der bürgeriidien und persönlichen Rechte des einzelnen. Denn man muß sich darüber klar sein und es nie vergessen, daß der Parlamentarismus nicht die einzige, ausschließliche und notwendige Form der Demokratie ist. Dies ist einer der wichtigsten Punkte der Debatte: Demokratie und Parlamentarismus sind in keiner Weise gleichwertige und auswechselbare Begriffe. Soviel ich weiß, ist der historische Ursprung des Parlamentarismus in keinem europäisdien Lande mit einer demokratischen Bewegung oder einem demokratischen Postulat verbunden; überall ist er aristokratischen oder oligarchisdien Ursprungs. Seinen demokratischen Charakter oder Wert erhielt er erst in dem Maße, als ihm zwei ganz verschiedenartige Begriffe einverleibt wurden: die Verantwortlichkeit der Minister vor den gewählten Volksvertretern und die Verallgemeinerung des Wahlrechtes. So heißt Parlamentarismus nidit ausgesprodien Demokratie. Andererseits will Demokratie nicht notwendigerweise Parlamentarismus bedeuten: eine sehr große und eine sehr kleine demo-kratisdie Republik, die Vereinigten Staaten und die Schweizerische Eidgenossenschaft, besitzen seit ihrer Gründung ein Regime, das nidit ein parlamentarisches ist. Die Souveränität des Volkes wird darin nic'it durch die parlamentarisdien Räte verkörpert und. ich mödite sagen, absorbiert.“

Die entscheidende wahre Lehre aus dem Mißerfolg liegt nach L. Bhim in der Notwendigkeit, eine andere Form der Demokratie zu finden. Er geißelt die ererbte Unfähigkeit, reguläre und ernstzunehmende Parteien zu gründen, die zugleich die Erklärung für den unangenehmen und oft beschämenden Anblick dir Wahlkämpfe bilden, die Zähigkeit der persönlichen Rivalitäten und die ungeduldige und oft unloyale Schärfe in dem Kampfe um die Macht. Der politische Kampf ist kein Sport; aber wie alle anderen Formen des Kampfes wird er erniedrigt und für den Zuschauer abstoßend, wenn er nicht einer gewissen Anzahl von Regeln untersteht, die ein Minimum von Korrektheit und Ehrlidikeit zusichern. Aber Unkorrektheit und Unehrlichkeit können ganz offensichtlich nur durch die Aktion von Parteien verhindert werden, die dauerhaft sind und die daher ein Interesse haben, in der Opposition diejenigen ungesdiriebenen Gesetze und Gebräuche zu respektieren, die ihnen in der Regierung zugute kommen werden.

Dazu macht L. Blum dem Bürgertum den großen Vorwurf, daß es vor 1939 nicht den Mut zu den großen Reformen aufgebracht hat und diesen Fehler führt er bis 1870 zurück.

„Das Bürgertum ließ in seinem Sturz die auf Neubelcbung harrende ewige Flamme unter seinem Schutt ersticken, und außer einigen farblosen Klüngeln„ die sich hinter einem großen Namen versteckten, fand sich niemand, der seinen frei gewordenen Platz einnehmen und die Leere hätte ausfüllen können. Dieses Gefühl des plötzlich sich eröffnenden Abgrundes, des Nichts, unerträglich für ein Volk wie für den einzelnen, bildet heute noch, ein Jahr nach dem Waffenstillstand, das dominierende Element des französischen Elends... Eine große Erbfolge ist eröffnet, ohne daß Erben vorhanden wären. Dies ist seit dem Waffenstillstand das innere Drama Frankreichs, und es ist gewissermaßen in das Drama der ganzen Welt verwoben.“

Keinen Augenblick zögert Blum, an der Demokratie zu zweifeln, aber es soll keine verlogene und kränkliche bürgerliche Demokratie sein, sondern eine „energische und tatkräftige“. Darum neigt er zu dem System amerikanischen oder schweizerischen Typs, die auf der Trennung und auf dem , Gleichgewicht der Gewalten, also auf der Teilung der Souveränität, aufgebaut sind und die der Exekutive in ihrem eigentlichen Wirkungskreis eine unabhängige und kontinuierliche Autorität sichern. „Ich möchte, daß diese Auffassung der zentralen Macht wie in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz mit einer energischen zentrifugalen Bewegung gepaart werde, die bis zu einer Art Föderalismus ginge: dieser Begriff hat mich nie geängstigt.“

Aber audi der französische Sozialismus kann weder lebensfähig noch dauerhaft sein, wenn er sich nidit in eine europäische Ordnung einfügt, die zur Ordnung der Mcnsdiheit wird. Woher soll er seine Kraft nehmen? Hier kommt Leon Blum über seinen bisherigen Gesichtskreis nicht hinaus. Er kennt nur die alte sozialistisdie Humanitätsidee eines Jaures, die zum Fort-sdirittsprinzip für .die ganze Zivilisation werden soll. Sie kann — glaubt er — eine neue Grundlage bilden für fast unveränderliche moraliscie Gebete, für stets wechselnde Gebräudie und Rechte, eine neue Nahrung für die Kunst und das spekulative Denken. Sie könne, wie die Idee Gottes im Mittelalter, alle Formen des persönlichen Lebens und al1e Arten des kollektiven Daseins durchdringen. Der „vollständige Sozialismus“ sei keineswegs eine Religion, da er weder Dogma noch religiöse Gebräuche noch Priestcrtum habe, aber er appelliere a.i das religiöse Bedürfnis und könne es befriedigen, „weil er eine Weisheit und eine Tugend lehrt, weil er das Gewissen an Skrupeln gewöhnt, weil er lehrt, den Beweggrund und den Lohn der persönlichen Handlung in einem über dem Individuum stehenden Ideal zu finden, und weil die Hingabe an ihn die Aufopferung erlaubt und einem Glauben gleicht.“

In jenen Stunden der Einsamkeit hielt L£on Blum die polemische Phase des Sozialismus für überwunden und ah ihn der siegreichen Periode entgegengehen. „Der Sozialismus kann sich auf das Apo-stolat, auf die geistige Eroberung beschränken. Wie die Kirche nach den Krisen, wo die Angst um weltliche Interessen das Ziel ihrer Mission in gefährlicher Weise verdunkelt hatte, so muß auch er wieder die Reinheit der ursprünglichen Inspiration wiederfinden.“

Das Buch Leon Blums wurde erst 1945 bekannt, aber ein Anruf an die Seele Frankreichs ging zuvor durch das ganze Land in einer geheim verbreiteten Schrift, die, während der Okkupation nächtens in Druckereien hergestellt, von Zehntausenden heimlich gelesen und immer wieder begehrt wurde. Sie wirkte mehr als Pamphlete und wüste Schimpfreden, weil sie die geistige Widerstandskraft in vornehmer Sprache und sicherer Art stärkte und auf das Geheimnis der inneren Kraft hinwies. Ein Graphiker verfaßte unter dem Decknamen Vercors eine Novelle, die das innere Ringen eines jungen deutsdien Offiziers darstellte, der in seiner Liebe zu Frankreich zu einem gegenseitigen Verständnis zu kommen glaubt, indem er in seiner musischen und idealen Veranlagung die Phrasen des herrschenden Regimes für bare Münze nimmt. Aber dies allein ist es nicht. Er muß an seinem eigenen Erleben mit einsti-stigen deutschen Freunden und in dem Monolog, in dem er lebt — weil sich das beharrliche Schweigen der Stimme des wahren Frankreichs entgegenstellt —, erkennen, daß er allein für sich dasteht in einem luftleeren Raum: „Es war die lange Rhapsodie seiner Entdeckung Frankreichs: die Liebe, die er, bevor er es kannte, aus der Ferne für das Land empfunden hatte, und die Liebe, die jeden Tag zunahm, seit er das Glück hatte, darin zu leben. Und bei Gott, ich bewunderte ihn. Ja: daß er sich nicht entmutigen ließ. Und daß er niemals der Versuchung unterlag, dieses unversöhnliche Schweigen durch irgendeine Heftigkeit der Sprache abzuschütteln ... Im Gegenteil, wenn er zuweilen dieses Schweigen in den Raum einströmen und bis in den letzten Winkel wie mit einem sdiweren und nicht zu atmenden Gas erfüllen ließ, so schien er von uns dreien sich dabei am wohlsten zu fühlen *.“ Er muß erkennen, daß alles Reden von diesem Lande Lüge, Täuschung von Seiten jener ist, die bestrebt sind, dessen Seele zu vernichten. Wie, das muß er von Freunden, die in führender Stellung in Paris sitzen, hören: „Wir haben die Gelegenheit, Frankreich zu vernichten, es wird gesdiehen. Seine Seele ist die größte Gefahr. Das ist augcnbliddich unsere Arbeit ... wir werden es durch unser Lächeln und unsere Schonung zugrunde richten. Wir werden aus ihm eine kriechende Hündin machen.“

Vercors ist kein Politiker, aber in seiner ruhigen Art weiß er die Lebens- und Widerstandskraft zu wecken, die ein Volk trotz Niederlage zu wahrer Größe führen können, und die allein im Geiste liegen. Und wehe, wem er genommen ist. In seiner letzten Stunde, bevor der desillusionierte Offizier den Weg nach dem Osten nimmt, wohin er sich freiwillig gemeldet hatte, da gesteht er seine bittere Enttäuschung durch die ehemaligen Freunde:

„Sie haben mich getadelt und riefen ein wenig zornig: .Sie sehen ja! Sie sehen, wie sehr Sie Frankreich lieben! Da haben wir die große Gefahr! Aber wir werden Europa von diesem Gift reinigen!' Sie haben mir alles erklärt, oh, sie haben mir nichts verschwiegen. Sie schmeicheln euren Schriftstellern, aber gleichzeitig errichten sie schon in Belgien, in Holland, in allen von unseren Truppen besetzten Ländern die Sperre. Kein französisches Buch wird mehr zugelassen.“

Werden diese zwei Ideale, das der Humanität und das des Geistes, ein Volk und mit ihm die Menschheit vor ihrem Untergang endgültig bewahren können? Werden sie die neue Zeit heraufzuführen imstande sein? Eine dritte Stimme aus dem gleichen Land und aus der gleidien Zeit, aus dem Sommer 1942, ertönt von einem Kriegsgefangenen, Nicolas Rajewsky, der seine Gedanken unter dem Titel „J e n-seits des Schweigens“* wiedergibt.

„Er aber war da, Er, der die Straßenkreuzungen beherrscht; mit ausgebreiteten Armen, die ihre Stärke allem angestauten Haß verdanken, Er, der ewig von den Menschen Verlassene.

Und der staubige Nebel hatt den tollen Sdiatten mit jenem zusammen aufgelöst, den die Soldaten seit zweitausend Jahren dem Feind auslieferten.

Herrgott, wenn niemand das Leben er-hasdien darf, es sei denn, Er werde wieder geboren.

Dann gestatte ihm wenigstens, dir am Kreuzweg in der Stunde zu begegnen, wo sein Leib vor dem Tode flieht:

Erschien Er nicht unter Schmerzen seiner Mutter, ohne sie mit ihr zu teilen?

Wanderte Er nicht, während seine Not ihn zu Boden drückte?

Aber sein Schmerz wird furditbar sein.

Und deine große Nacht in ihrem Sdiatten das Leben aufnehmen, welches Er selber gebar!“

Es sind Gedanken, Worte, vor Jahren von verschiedenen Menschen, zu gleicher Zeit gesdirieben. Frankreich ist das Land, das seit der großen Revolution in seinen Geistesbewegungen für Europa symptomatisch geworden ist. Seine Kräfte und Gewalten wirkten sooft ganz im geheimen, um dann wieder mit urplötzlicher Macht sichtbar werdend. Das Abendland ist weit entfernt davon, ein stabiles Weltbild aufzuweisen. Aber wir müssen die Blickpunkte erkennen, um ein Verhältnis zu den Ereignissen zu gewinnen. —■ Wird es die Humanität allein vermögen oder der Geist des Menschen? Sicher aber beide zusammen, mit dem, der seine Arme ausgespannt hält um die ganze Welt, die hassende und liebende, in sich zu vereinen.

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