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Als Übergang - eine Kulturrevolution

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Kommunistische Systeme leiten eine neue Phase ihrer Innen- und/oder Außenpolitik stets damit ein, daß sie zunächst die Zügel straff anziehen. Erst wenn dann in der Praxis die in der Therorie kalkulierten Vor- und Nachteile und alle sonstigen Risken klar zutage treten, erfolgt im äußeren und inneren Nachvollzug die entspannende Anpassung. Solches können wir gegenwärtig im ganzen sozialistischen Lager, sprich: Ost-Block, beobachten. Angesichts der bevorstehenden Sicherheits-, Entspan-nungs- und Truppenreduzierungs-Konferenzen wird die Kandare fester angezogen. Bisher gestattete oder wenigstens geduldete Extratouren — rumänische Außenpolitik inbegriffen! — gehen nun wieder am kurzen Zügel. Am Ende der Longe steht jeweils Moskau und bestimmt Gangart und Haltung, wofür es sowohl ideologische als auch praktische Gründe hat.

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Kommunistische Systeme leiten eine neue Phase ihrer Innen- und/oder Außenpolitik stets damit ein, daß sie zunächst die Zügel straff anziehen. Erst wenn dann in der Praxis die in der Therorie kalkulierten Vor- und Nachteile und alle sonstigen Risken klar zutage treten, erfolgt im äußeren und inneren Nachvollzug die entspannende Anpassung. Solches können wir gegenwärtig im ganzen sozialistischen Lager, sprich: Ost-Block, beobachten. Angesichts der bevorstehenden Sicherheits-, Entspan-nungs- und Truppenreduzierungs-Konferenzen wird die Kandare fester angezogen. Bisher gestattete oder wenigstens geduldete Extratouren — rumänische Außenpolitik inbegriffen! — gehen nun wieder am kurzen Zügel. Am Ende der Longe steht jeweils Moskau und bestimmt Gangart und Haltung, wofür es sowohl ideologische als auch praktische Gründe hat.

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Für Jugoslawien verhält es sich nicht nur genau so, sondern noch viel komplizierter. Zwar gehört das Land nicht zum Ostblock, aber ohne diesen wäre es so, wie es ist, auch nicht entstanden oder denkbar. Zwar verfolgt Jugoslawien eine vom Warschau-Pakt deutlich differenzierte Außenpolitik, aber ohne Warschauer Pakt hätte diese doch nur geringe Effizienz. Zwar herrscht im Titoismus, was immer das auch sein mag, ein modifiziertes ökonomisches und soziales System, aber dieses kommt, wie die Dinge jetzt liegen, ohne COMECON auch nicht aus, wenn es überhaupt noch auskommt.

Wir kennen die eindrucksvollen Markierungen des jugeoslawischen Weges aus der jüngsten Zeit.

Was dem Titoismus vorschwebt, ist der „Weg zur jugoslawischen Nation“. Ohne Zweifel ist er, der Titoismus, darauf ein gutes Stück weitergekommen. Aber längst noch nicht weit genug. Unterschiede der ökonomischen Struktur, der Sprache, der Religion, des sogenannten Volkscharakters und auch der weiter zurückliegenden, sowie der jüngeren und jüngsten Geschichte sind von großer, dem „Werden der Nation“ entgegenstehender Wirksamkeit. Da gibt es Gräber, Gräben und Felsbrocken der Geschichte, die weder durch Gebote noch durch Verbote sogleich verschwinden wollen.Immerhin — und das ist auch nicht wenig! — besteht eine gewisse gemeinsame Auffassung vom Staate, vor allem unter der Jugend, eine gewisse Gemeinsamkeit der Auffassung von der Gesellschaft und das alle föderativen und sonstwie diffe-renten oder differenzierenden Erscheinungen umklammernde System „der einen, der einzigen Partei“ als allein legitimierter Trägerin des „Volkswillens“. Über alledem „schwebt“ heute, mehr noch als sie „lebt“, die mit höchster Reputation und Repräsentation ausgestattete Vaterfigur Titos. Der aber steht im 80. Lebensjahr, was schon aus rein biologischen Gründen kein langfristiger Wechsel auf die Zukunft ist.

Zunächst schien es der „Vaterfigur“ und der Partei gleichermaßen geboten, in Zeiten, wie den eingangs geschilderten, den „autonomistischen Wildwuchs“ der „Noch-Nicht-Na-tion“ (was nicht abfällig verstanden v/erden soll!) zu beseitigen. Dieser „Wildwuchs“ hat viele Wurzeln. Nicht nur die schon geschilderten einer da und dort unterschiedlichen Art und historischen Herkunft, sondern auch das sehr ungleiche soziale und ökonomische Gefälle, die fast hoffnungslose ökonomische Struktur des einen Teiles der föderativen Republiken und die aufstrebende des anderen Teiles derselben. Indem die „reichen Gebiete“ jenen Mehrertrag, den sie für sich selbst bitter benötigten, zu einem großen Teil an die „armen Gebiete“ abtreten mußten, die dadurch aber auch nicht aus ihrer Not gelangten, erhielten die „autono-mistischen Wildwüchse“ mächtigen Antrieb. Das gedieh bis hart an eine Staatskrise.

Diese zu beseitigen entstand eine Bewegung, die man als die „Rückkehr der Partei“ bezeichnen möchte. Als erstes richtete sich diese Bewegung gegen den „nationalen Separatismus“, der alsbald eine unheilvolle Aufwertung bis zum „Chauvinismus“ erfuhr. Als Ziel nahm man sich zunächst die Kroaten vor, die es diesbezüglich in der Geschichte schon immer schwer gehabt haben. Sehr rasch wurde deren „autonomistische Repräsentanz“ sowohl an der Spitze des Teilstaates als auch an jener der dort etablierten Staatspartei „beseitigt“, zugleich aber erfolgten harte Zugriffe gegen den administrativen, kommunalen und parteiorganisatorischen Mittel- und Unterbau. Besonders hart wurde der „Kulturapparat“, die Intelligenz, die Studenten, hergenommen.

Späterhin richtete sich die genannte Bewegung auch gegen ähnliche „Zentren“ in anderen Teilrepubliken, namentlich in Serbien. Auch da von der Spitze bis ganz unten rigoros und ausnahmslos.

Zugleich übernahm die Partei das allgemeine Kommando wieder, dem sie lange genug in einem für einen sozialistischen Staat ungewöhnlich hohen Maße entsagt hatte. Damit begann der — bis heute noch nicht abgeschlossene — Prozeß der „Reideologisierung“. Das erwies sich schon deshalb als des Systems wegen unumgänglich, da ja in der heuen Verfassung bedeutende Konzessionen an den föderativen Charakter des Staates gemacht wurden. Obwohl das — der „Reideologisierung“ und des Hervortretens der monolithischen Partei wegen — nicht so deutlich zum Ausdruck kommt, ist doch festzuhalten, daß der föderative Spielraum der Form und dem Inhalt der neuen Verfassung nach bedeutend erweitert wurde. Damit, so schien es manchen Beobachtern, war die Bewegung abgeschlossen. Aber das war nur schöner Schein, denn eine andere Seite der Krise, vielleicht sogar ihre wahrhaftige, trat hervor.

Die „sozialistisch-genossenschaftliche Marktwirtschaft“, ein Kernstück des Titoismus, der ohne diese keiner wäre, ist mehr als in Schwierigkeiten geraten.

Die Inflationsspirale, hier wie überall in der Welt sowohl die ökonomische wie auch in der Folge die gesellschaftliche Eigenart des herrschenden Systems aushöhlend, zeigt in Jugoslawien mehr Windungen als anderswo in Europa. 1972 stiegen die Lebenshaltungkosten um fast 17 Prozent, die Preise wichtiger Lebensmittel sogar bis zu 19 Prozent. Da weder Lohnzuwachs noch Wirtschaftswachstum mithalten konnten, sank das Realeinkommen — nach hier wie in der Welt vorgenommener amtlicher „Frisur“ um mehr als 10 Prozent!

971 sozialistisch-genossenschaftliche Groß-, Mittel- und Kleinunternehmen mit zusammen 620.000 Beschäftigten standen zum Jahresende vor dem Ruin! Hätte man diese Beschäftigten „freisetzen“ müssen, wäre das „stehende Heer an Arbeitslosen“ von etwa 350.000 Köpfen entsprechend angeschwollen, mit allen explosiven Folgen, denn alle diese Menschen hätten ja doch nicht als „Gastarbeiter“ ins Ausland wandern können.

Es bedurfte ungeheurer und vor allem „zentralistischer“ Anstrengungen, um zu retten, was noch zu retten war. Doch gegenwärtig stehen immer noch 360 „illiquide Betriebe“ auf der Liste, mit rund 200.000 Beschäftigten und wie es mit diesen weitergehen soll, weiß niemand.

Zwar konnte das Außenhandelsdefizit durch zwei Dinarabwertungen, durch Fremdenverkehrsdevisen und Rekordüberweisungen von rund einer Million Gastarbeiter aus der BRD, der Schweiz und Österreich, um 50 Prozent gesenkt, die Zahlungsbilanz sogar auf Uberschuß gebracht werden, aber doch nur unter weiteren Opfern der Bevölkerung, von der es heißt, jeder dritte Arbeitnehmer lebe vom amtlichen Existenzminimum.

Eine Serie harter Eingriffe wurde mit Jahresbeginn verfügt: Steuererhöhungen, enorme Luxussteuern auch auf Dinge, die anderswo als Artikel des täglichen Gebrauches gelten (Textalien, Kosmetika, Radios, TV-Geräte, Tabakwaren, Autos usw.) und eine allgemeine Abschöpfung durch staatliche oder kommunale Zwangsanleihen, denen sich keiner entziehen kann.

Dazu ein vorerst halbjähriges Einfrieren von Löhnen und Gehältern in sogenannten „nichtproduktiven Bereichen“ (Verwaltung, Erziehung, Kultur, Post, Bahn usw.) auf dem Stand von Juni 1972. Bine Million Arbeitnehmer in erfolglosen sozialgenossenschaftlichen Unternehmungen werden durch eine zunächst auch halbjährige Lohnkürzung (!) um 10 Prozent „am Verlust ihrer Betrieb beteiligt“. In anderen Bereichen wird mit „Schuldscheinen“ für gewisse Lohnteile gearbeitet, die erst ab 1976 eingelöst werden können.

Das sind Sanierungsmaßnahmen, wie sie anderswo zum sofortigen Sturz der jeweiligen Regierung führen würden, wenn sie überhaupt nur erwogen werden könnten! Auch die Jugoslawen mußten darauf vorbereitet werden. Das geschah, indem man vorerst die „sozialistischen Millionäre“ an den Pranger stellte. In den — längst „gesäuberten“ — Zeitungen, im Rundfunk und in der Presse sowie in allen das Land durchflutenden Parteiversammlungen wurden sie als die „wahren Schuldigen“ dem Volke vorgeführt. Mitsamt ihren zeremoniösen Kaleschen (beliebteste Marke: Mercedes-Benz), ihren Wochenendhäuschen und Strandbungalows, ihren Bankkonten und Korruptionsgeschäften. So etwas wirkt immer stimulierend. Natürlich nicht auf Dauer, denn wenn die Hätz vorbei und noch immer nichts zum Besseren gewendet ist, erheben sich neue, drängende Fragen.

Diese sind, auch wenn sie kritisch akzentuiert werden, durchaus gestattet, ja, die Parteiorgane (z. B. „Politika“, Belgrad) gehen darin sogar voran und fragen düster „Was wird aus unserem Lebensstandard?“ Befriedigende Antworten sind freilich noch nicht gefunden. Einstweilen befahl „Vater“ Tito in seiner Neu-jahrsbotschaft ein allgemeines Gür-tel-enger-schnallen.

Doch schon brandet die nächste Welle, heran und sie soll Hoffnung auf eine Wandlung versprechen:

36 lokale Parteikongresse gehen in diesem Jahr über die Bühne. Sie münden, im Frühjahr 1974, in einen alljugoslawischen Gesamtkongreß der Staatspartei. Auf diesen Kongressen wird nicht nur Rechenschaft gelegt, nach den “wahren oder vermeintlichen Schuldigen geforscht,sondern in der Hauptsache werden etwa 10.000 Funktionäre neu gewählt.

Die Partei läßt keinen Zweifel, daß es zum Großteil neue und vor allem junge Männer sein werden, die da gewählt werden sollen. Man trennt sich von den „Technokraten und Bürokraten“, von den „Opportunisten und Fraktioniisten“ und von jenem Managertypus, den das System besonders zahlreich hervorbrachte: den Wirtschaftsfunktionären, die, weil sie von der Betriebsgenossenschaft gewählt und von dieser periodisch bestätigt oder wieder abgewählt werden, sich den Genossenschaftern gegenüber „zu opportunistisch“ verhalten haben. Irgendwie bedroht das jenes System, das man bisher „jugoslawisches Modell“ nannte und welches im Grunde eine Art „Spätblüte des Rätegedankens“ ist. Denn darüber, daß sich die „sozialistisch-genossenschaftliche Marktwirtschaft“ nicht am eigenen Schopf aus der Krise ziehen kann, daß es dazu einer „zentralen Schalt- und Hebelwirkung“ bedarf, soll man sich nicht täuschen. Das aber muß die bisherige Spielart des Titoismus stark verändern, jedenfalls „auf Zeit“.

Diese Veränderung wird in der Kongreßserie auch ganz bewußt angestrebt werden. Zwangsläufig, denn, was niemand wünscht, was aber dennoch unübersehbar ist: bei einem 80jährigen „Vater der Völker“ muß man auch über diesen und die Wirksamkeit seines „Leitbildes“ hinausdenken, sei der Große, der bisher alles „managte“, auch noch so frisch und gesund ...

Über Tito hinausgedacht dürften auch die Russen haben. Der nach der etwas säuerlichen aber, wie man seither sieht, doch sehr effektiven „Versöhnung mit Moskau“, die durch den Breschnjew-Besuch offiziell beurkundet wurde (unter Zurückhaltung der — undeutlich ausgesprochenen, dennoch klar verständlichen — einschlägigen „sozialistischen Doktrin“ Moskaus) folgten: eine rasche „Annäherung“ Jugoslawiens an das COMECON, eine verstärkte wirtschaftliche und politische Kooperation und schließlich ein sowjetischer Milliardenkredit, weitaus höher, als er für Jugoslawien im darin bisher auch nicht zimperlichen Westen zu erhalten war. Erste Rate, wie man spricht: zirka 14 Milliarden Schilling, aber auf Dollarbasis gerechnet.

Es liegt auf der Hand, das sich eine Verdichtung wirtschaftlicher Beziehungen und Verflechtungen mit der Sowjetunion und den COME-CON-Ländern, die staats-sozialisti-sche, zentral gelenkte Planwirtschaft treiben, nicht „genossenschaftlich aufgefächert“ (den darin natürlich zutage tretenden „Betriebsegoismus“ mit eingeschlossen) vornehmen läßt. So tritt also ein zentral planendes Element hinzu, das sich nicht mehr vernehmlich mit Kontrolle, mit Steuern und Kreditpolitik zufrieden geben kann.

Einen eigenartigen „Problemkreis“ stellen in diesem Zusammenhang die Gastarbeiter da. Man sah sie schon bisher als eine „freudlose Notwendigkeit“, denn sie sind ein nicht zu übersehendes Eingeständnis der Unmöglichkeit für das System, ihnen ein erfreuliches Auskommen im Lande zu bieten. Diese „Auslandsmillion“ an Menschen kommt nicht nur mit einem ganz anderen Lebensstandard in Berührung, sie kommt auch in Berührung mit einem ganz anderen sozialen und politischen System — und mit unversöhnlichen Emigrantengruppen auch.

Ihre Devisenüberweisungen, möchte Jugoslawien durch diplomatische Interventionen erreichen, sollen noch gesteigert werden. Die Freigabe dieser Arbeitskräfte aber soll noch mehr zentralisiert und im Akkord mit außenpolitischen Bemühungen auch entsprechend geplant werden. Und schon hört man, daß auch da die Russen gerne einspringen möchten. Gerüchte sind zu vernehmen, daß die Sowjetunion selbst etwa 300.000 solcher Gastarbeiter, vornehmlich Fachkräfte, aufnehmen könnte. Trotz jugoslawischer „Reideologisierung“ ergeben sich auch da Probleme, die im „Gefälle der Auffassungen von Sozialismus“ bestehen und daher delikat genug sind, um nicht sehr weit hinter den „Westproblemen“ zu rangieren.

Noch ist alles im Flusse. Noch strebt die Partei mit einem glühenden Optimismus, der zwar längst nicht mehr „über Leichen“ geht, immerhin aber für viele Absetzung, Ausschaltung, ja, sogar Prozeß und Haft mit sich bringt, auf den „magischen Frühling 1974“ zu, wo der Parteikongreß verkünden soll „es ist geschafft“. Wo neue Gesichter neue Zuversicht einflößen sollen, kurz, mit dem die nunmehrige Phase des Überganges (innen- wie außenpolitisch) ihre „kulturrevolutionären Anstriche“ wieder ablegen und in eine fröhlichere soziale, ökonomische und politische Stabilität münden darf. Dann wird wohl auch die Kandare — und der Gürtel! — gelockert werden. In wie festen Händen allerdings die Longe liegen wird, kann derzeit noch nicht erwogen werden. Zumal die Hoffnung, daß dann die Gespräche über eine „Europäische Sicherheit“ schon dieser selbst Platz gemacht haben werden, hier wie anderswo — sollte man sie tatsächlich hegen — enttäuscht werden müßte. Denn das wird sehr viel länger dauern, das Ende der Prozedur aber bleibt bis dahin ungewiß.

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