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Titos letzte Weichenstellung

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Von einem Jugoslawen zu sagen, er habe „nichts mehr im Gewehr”, ist ein vernichtendes Urteil. Diese serbische Redewendung grenzt an eine Beleidigung, an die Behauptung nämlich, der Betreffende habe nichts mehr zu bieten und sei abzuschreiben. Ein englischer Journalist wandte die Formel kürzlich auf Tito an, was den jugoslawischen Präsidenten doppelt treffen mußte: als Staatsmann und als Jäger.

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Von einem Jugoslawen zu sagen, er habe „nichts mehr im Gewehr”, ist ein vernichtendes Urteil. Diese serbische Redewendung grenzt an eine Beleidigung, an die Behauptung nämlich, der Betreffende habe nichts mehr zu bieten und sei abzuschreiben. Ein englischer Journalist wandte die Formel kürzlich auf Tito an, was den jugoslawischen Präsidenten doppelt treffen mußte: als Staatsmann und als Jäger.

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Tito aber hat nicht nur Stolz, sondern auch Humor, und so ging er am Schluß des Zweiten Selbstverwalterkongresses in Sarajewo darauf ein. Nicht mir wehrte er sich gegen den Vorwurf, er bewies auch durch eine feurige und unzweideutige Rede, daß noch genügend Munition vorhanden ist, daß er noch nicht daran denkt, das Feld kampflos zu räumen, wie Beobachter der südslawischen Szene meinten.

„Wir werden jene Lernte daran zu hindern wissen, uns zu entzweien und unsere sozialistische Entwicklung zu hemmen. Welche aber sind es, die unser Selbstverwaltungs- system am meisten kritisieren? Der Arbeiter, der nur schwer sein Auskommen findet, sicher nicht. Auch nicht der Pensionierte, der von 70.000 oder 80.000 Dinar (alten!) leben muß, aber jene, die 350.000 Dinar beziehen und die Autos besitzen. Sie kritisieren unser System, und der Arbeiter, der es kritisieren sollte und der das Recht dazu hat, entschließt sich immer noch nicht daziu, denn er wartet darauf, daß es eines Tages besser werde... Unter den Kritikern aber gibt es pensionierte Generäle, die an den Kaffeehaustischen plaudern, die alles negativ finden, was ihnen nicht paßt. Unter ihnen gilbt es Megailomanen, die nichts anderes wünschen, als Präsident zu werden oder wenigstens Minister. Ich sage euch: wir kennen sie, ich kenne sie. Unsere Leute fragen sich, warum wir nicht sagen, wer sie sind. Wenn wir sie zur Rechenschaft ziehen werden, werden Wir sie sehen”, wetterte der Staatspräsident.

Tito sprach frei — ohne Manuskript und ohne Rücksicht. Es war jener Tito, wie man ihn von früher her kannte, ein ganz anderer Tito als jener, der zur Eröffnung des Kongresses eine eher fade Ansprache vom Blatt las. Trotzdem hatte er auch am ersten Tag Beifall geerntet, denn seine überragende Persönlichkeit ist. unbestritten, und die überwältigende Mehrheit des Volkes steht gerade in dieser überaus kritischen Phase des Landes unmißverständlich zum „Landesherm”, der denn auch bei seiner Ankunft vor der Kongreßhalle mit dem Ruf „Tito — Patria” begrüßt wurde. Tito — und darin liegt seine einmalige Chance — ist weder Kroate, noch Serbe, weder Montenegriner noch Mazedonier, Tito ist auch nicht einmal Jugoslawe, er ist Jugoslawien. Wie wird dies mit seinem Nachfolger sein? Sicher wird er es auch schon rein wegen der nationalen Aufsplitterung des Vielvölkerstaates schwer haben. Nicht zuletzt im Blick auf den irgendwann einmal bevorstehenden Wechsel haben sich ja auch die Zwistigkeiten verschärft, sachlich vertieft durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Der Zweite Selbstverwalterkongreß, der vom 5. bis zum 8. Mai in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo stattfand, war auch auf diese zwei Aspekte ausgerichtet: auf die Natio-

nidlitätenfrage und auf die Wirtschaft. Die Staatsführung ist überzeugt, durch eine Festigung des Selbstverwaltungssystems der Probleme besser Herr zu werden.

„Entwicklungshilfe” für den Süden

Staatspoiitisch und strukturell heißt das für den einen Teil der Problematik eine Ausweitung des Föderalismus, Tatsächlich war Jugoslawien 1945 als zentralistischer Staat wiedererstanden, und Tito hatte sich damals nicht gescheut, mit eiserner Hand zu regieren, um die brüchige Einheit durchzusetzen. Im Laufe der zweieinhalb Jahrzehnte hat er syste-

matiisch die Zügel gelockert und das Land mehr und mehr dezentralisiert. Ein großes Hemmnis war der Umstand, daß das Land von einer einzigen und überdies sehr straff organisierten Partei regiert wurde. Tito hat im vorletzten Schritt auch hier einen Wandel vollzogen: erstens einmal ist die Partei, so weit sie dies, ohne einen inneren Zerfall befürchten zu müssen, überhaupt kann, ebenfalls dezentralisiert worden, und zweitens hat er ihr eine andere Rolle zugeordnet: sie ist weniger Regierungsträger als vielmehr Träger der Ideologie. Der letzte Schritt soll jetzt gemacht werden, und der Kongreßv von Sarajewo hat ihm vorbehaltlos zugestimmt: die Verfassung soll in dem Sann abgeändert werden, daß den Republiken und autonomen Regionen vermehrte Selbständigkeit zuerkannt wird. Dem Bund sollen nur noch jene Angelegenheiten zustehen, die von gemeinsamem Interesse sind, und das Regierungspresseamt nannte in diesem Zusammenhang ausdrücklich: Verteidigung der Unabhängigkeit, Kampf für den Weltfrieden, Einheit des sozialistischen Selbstverwaltungssystems, Einheit des Marktes. Dieser letzte Punkt soll verhindern, daß die hoch- entwickelten Regionen des Nordens — Slowenien, Kroatien und teilweise Nordserbien — sich wirtschaftlich zu- sehr von den Südregionen entfernen. Da ja das Wirtschafts- und Sozialgefälle parallel zu den nationalen Unterschieden verläuft, müßte sich sonst eine tödliche Gefahr ergeben, die nur durch eine Art von inner- jugoslawischer „Entwicklungshilfe” überwunden werden kann. Die Verfassung von 1963 ging noch davon aus, daß die Rechte im Bund realisiert werden, wenn dies im gemeinsamen Interesse liegt, nur in allen andern Fällen in den Teilrepubliken. Jetzt soll diese Reihenfolge direkt umgekehrt werden und überdies werden neben den sechs Teilrepubli- ken (Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Mazedonien) auch noch die beiden zu Serbien gehörenden autonomen Regionen Vojvodina (mit der ungarischen, also katholischen Minderheit) und Kossovo-Metochia (mit den mohammedanischen Albanern) erwähnt.

Demokratisierung der Wirtschaft?

Der Selbstverwaltungskongreß postulierte aber nicht nur eine Änderung auf verfassungsrechtlicher Ebene, er wollte auch das System im Lande selbst besser ordnen und intensivieren. Hier: stellt sich die Frage: Was ist überhaupt Selbstverwaltung? Auf diese Frage erhält man immer wieder die stolze Antwort, es sei . die Verwirklichung der alten Parolen der Pariser Kommune und Lenins „Die Fabriken den Arbeitern, das Land den Bauern”. Das klingt sehr schön, doch ist es konkret nicht zu fassen. Einer der besten Selbstverwaltumgsfachileute, der Belgrader Professor Najdan Paschitsch, erklärte auf die gleiche Frage lachend: „Ich halbe vor einigen Jahren ein Buch über Selbstverwaltung geschrieben. Darin finden Sie eine genaue Definition, aber ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie ich sie definiert habe.” In einer offiziellen Broschüre des jugoslawischen Gewerkscbaftsbundes heißt es: „Im System der Selbstverwaltung werden die Produktionsmittel, als Eigentum der gesamten Gesellschaft, im Rahmen der durch Verfassung und Gesetz festgelegten Rechte und Verpflichtungen den Arbeitern, die mit ihnen arbeiten, zur Verwaltung übergeben. Die Arbeiter bestimmen, unmittelbar und über ihre gewählten Organe, was und in welchen Mengen produziert werden soll, und verfügen allein über die Früchte ihrer Arbeit.” Das klingt sehr schön, und die Selbstverwaltung wäre denn auch tatsächlich einer der eindeutigsten Wege zu einer Demokratisierung der Wirtschaft. Jugoslawien ist ‘das einzige Land, das dieses System in seiner Verfassung verankert und jetzt erneut gefestigt hat. Daß das System, wie selbst die führenden Staatsmänner von Tito über Kardelj und den Ministerpräsidenten Ribičič jetzt in Sarajewo zugegeben haben, nicht vollkommen funktioniert, hat verschiedene Gründe. Nicht zuletzt liegen sie darin, daß Jugoslawien ein teilweise unterentwickeltes Land ist, so daß zum Beispiel Forderungen nach Rationalisierung nur beschränkt verwirklicht werden können, weil es immer noch viel zuwenig Arbeitsplätze gibt. Der zweite Grund liegt in den Rückständen aus der früheren Zeit, also in etatisti- schen und bürokratischen Schlacken, gegen die jetzt energisch vorgegangen werden soll. Und der dritte Grund liegt darin, daß sich in der Praxis zwischen dem Staat und den Betrieben eine unerhört mächtige Mittelschicht entwickelt hat, die das Selbstverwaltungssystem weit gehend paralysierte. Der jugoslawische Ministerpräsident Mitja Ribičič nannte diese Schicht beim Namen: die Handelsbanken, die Ver- sicherungsimstitute und die Außenhandelsorganisationen. Vor allem die Handelsbanken hatten offenbar „kapitalistisches Blut geleckt”, denn sie hatten sich mehr und mehr auf kurzfristige und daher rentable Kredite verlegt, damit aber den aufstrebenden Unternehmen nötige und wirtschaftlich gerechtfertigte Kredite verwehrt. Es stellte sich prompt der zweite Nachteil ein, indem mehr und mehr Unternehmen über ihre eigenen Verhältnisse lebten und Investitionen Vornahmen, die keineswegs gedeckt waren. Ribičič dachte diesen Teufelskreis zu Ende. Er verwies darauf, daß das Überziehen der Kredite mitschuldig war an der Illi- quddität des Staatshaushaltes, daß dies mithalf, die Inflation weiter anzuheizen, und daß schließlich die Inflation wiederum den Zentralismus und die Staatsintervention zu rufen droht, womit das Spiel von vorne beginnen würde.

„Selbst dafür sorgen ..

Wenn das, was in Sarajewo beschlössen wurde, Realität wird, könnte es wirklich dazu beitragen, aus dem Teufelskreis herauszukommen. Den Betrieben sollen die Früchte ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zur Selbstverwaltung zustehen, was nicht nur das Interesse fördern wird, sondern was vor allem auch zur Folge haben dürfte, daß sich die Rentabilität erhöht, weil ja die schmarotzerische Zwischenbürokratie wegfällt.

Es bleibt dann immer noch die Einschränkung, daß der Bund die „Einheit des Marktes mit allen gegenseitigen Abhängigkeiten, Verpflichtungen, Rechten und Kompensationen” zu gewährleisten hat. Hier wird sich also zeigen müssen, ob dias innere Zusammengehöriigkeits-

bewußtsein wirklich schon so stark ist, daß es der Versuchung, die jede Autonomie dairstellt, und der Selbstzucht, die die Solidarität mit den zurückgebliebenen Regionen verlangt,

gewachsen ist. Ein Außenstehender kann darüber kein exaktes Urteil abgeben. Es gibt Tausende von Gegebenheiten, die dafür, ebenso viele aber, die dagegen sprechen. Nun sind ja — auch in anderen Ländern — nicht alle schmerzenden oder boshaften Zwistigkeiten zwischen verschiedenen Regionen so ernst zu nehmen, als ob sie den Bestand der Landeseinheit gefährden würden, aber in Jugoslawien sind die Gegensätze historisch viel tiefer und die Einheit noch zu jung.

Tito weiß um diese Gefąfir; er setzt alles daran, ihr zu begegnen, und der Selbstverwaltungskongreß von Sarajewo diente nicht zuletzt diesem Ziel. Nicht nur durch seine strukturellen Beschlüsse, auch als Manifestation war er ein Mittel in diesem Sinn. So war es auch kein Zufall, daß er ausgerechnet in der bosnischen Hauptstadt abgehalten wurde. Serbien und Kroatien kamen schon deshalb nicht in Frage, weil der Gegensatz zwischen diesen beiden Nationalitäten am .schärfster! ist, und zudem wollte man die eher wirtschaftlich zurückgebliebenen Republiken nicht durch eine Bevorzugung der fortschrittlichen vor den Kopf stoßen. Überdies kennt Bosnien keine eigentlichen Nationalitätenprobleme, weil sie in seinem eigenen Bereich so sehr aufge- splittert sind, daß sie sich gegenseitig aufheben. Und schließlich wollte Tito auch unausgesprochen daran erinnern, daß man sich während des zweiten Weltkrieges in den bosnischen Bergen zur gemeinsamen nationalen Tat über alle nationalistischen Eigenheiten hinweg gefunden hatte. Genau diese Haltung schwebt ihm vor für jeden einzelnen, um Jugoslawieh aus den gegenwärtigen Schwierigkeiten herauszuführen und ihm vor allem für den kritischesten aller Augenblicke, den Rücktritt Titos, genügend Kraft zu verleihen. So sagte der Präsident denn in seiner Schlußrede in Sarajewo: „Ich denke, daß dieser Kongreß nicht nur die Selbstverwaltung stärken wird, sondern daß er den politischen Faktoren unseres Landes Kraft gibt, den Faktoren, die ihr hin und wieder etwas vorantreiben müßt. Aber erlaubt vor allem nicht, daß die Dinge nur von oben kommen, ihr müßt selbst dafür sorgen, daß die Dinge in Bewegung geraten.”

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