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Nur noch romantischer Klang

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Radio Moskau schildert in seinen slowenischen Sendungen an Hand verschiedener Beispiele, wie sehr sich in der Sowjetunion die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung dialektisch ergänzten, wobei natürlich der Lebensstandard der Arbeiter ohne Unterlaß steige. Marschall Tito hinwiederum versicherte in seiner Neujahrsrede, daß Jugoslawien trotz der 300.000 offiziell zugegebenen Arbeitslosen im vergangenen Jahr einen „revolutionären“ Sprung nach vorne gemacht habe, was ein Erfolg des „jugoslawischen eigenen Weges zum Sozialismus“ sei.

In Slowenien steht man eher skeptisch den bisherigen, jetzigen und künftigen „(revolutionären“ Sprüngen gegenüber. Man erinnert sich an die Ära der administrativen Verwaltung nach sowjetischem Muster, als bis etwa 1950 das Ganze verstaatlichte oder, diskret gesagt, „nationalisierte“ Vermögen samt Amortisationen in Belgrad gehamstert wurde, um dann in der Selbstverwaltungsära als billiges Startkapital in die Hände der Belgrader Banken zu gelangen. Die privilegierten Belgrader Banken und Export-Import-Firmen, unter ihnen die Poljobanka (Landwirtschaftsbank), wußten sich die staatliche Kreditpolitik zunutze zu machen und schritten zum Ausbau der vollen Kreditkontrolle und zur Entscheidung über Sein und Nichtsein der einzelnen Betriebe. Nach dem Sturz des Innenministers Ran-kovic, der eine Schlüsselfigur solcher Bestrebungen und damals angeblicher Nachfolger Titos war, kam es in den Teilrepubliken zu einer beträchtlichen Lockerung der Belgrader Umklammerung, die anhielt, bis die Parteiführer in den Teilrepubliken (in Zagreb Savka Dapöevic-Kucar, in Ljublana Stane Kavcic) stürzten. Seither sind die in der neuen jugoslawischen Verfassung auf die Teilrepubliken übertragenen Kompetenzen nur noch von beschränkter Bedeutung. „Demokratischer Zentralismus“ lautet neuerdings wieder das Motto. Demgemäß blieb der slowenischen Regierung nichts anderes übrig, als 560 Millionen Dinar für die Entwicklung der südlichen Teilrepubliken und 340 Millionen zu deren Budgets beizutragen. Für Rückzahlungen der von der Internationalen Bank an Belgrad gewährten Kredite wird Slowenien überdies im gleichen Zeitraum 750 Millionen Dinar abzweigen müssen.

Was ist eigentlich Selbstverwaltung? Oder was soll sie sein? Zum Unterschied vom sowjetischen sozialistischen Modell, bei welchem der Staat durch zentrale Planung die Herstellung und die Verteilung des Nationalprodukts steuert, werden in Jugoslawien seit 1950 die Betriebe von Arbeiterräten verwaltet, die über Grundfragen der Produktion und der Betriebspolitik zu entscheiden haben. Die Planung bestimmt hier nur den Rahmen und die Richtung der Produktion. Der Markt bleibt für die Verteilung der produzierten Güter noch notwendig (und hierin liegt die wirtschafts-soziolo-gisch-ideolagische Begründung der Selbstverwaltung), bis die Ära der vollkommen klassenlosen Gesellschaft anbricht und damit auch der Staat als gesellschaftliche Institution abstirbt. Die Selbstverwaltung steht der klassenlosen Gesellschaft angeblich schon um einen Schritt näher als die in der Sowjetunion geltende zentrale Planung, da die Kompetenzen und die Entscheidungen von den Staatsorganen an die „sich selbst verwaltende“ Gesellschaft übertragen worden sind. Die Entwicklung der Produktionsmittel bringt immer größere Mengen von Verbrau chsgütenn, Automatisierung verkürzt die Arbeitszeit, befreit den Menschen vom Produktionsprozeß und verlängert die Freizeit. Am Ende steht die marxistisch-leninistische Vision einer zur Vollendung gebrachten Gesellschaft ohne Verteilung der Güter mittels Geld und Markt, eine Gesellschaft, in der jedermann von der Gütermenge nehmen kann, was er braucht.

Prof. Goridar von der Universität Ljubljana erzählte auf einem Symposium der jugoslawischen Soziologen, das im Februar 1972 in Portoroz (Slowenisoh-Istrien) stattfand, daß ausländische Kollegen ihr steigendes Interesse für das jugoslawische „Selbstverwaltungsexperiment“ bekundet hätten. In seiner Verwirklichung sähen sie nämlich die einzige Alternative für die den heutigen Gesellschaftsformen entfremdeten Menschen, sei es im Westen, sei es im Osten.

Doch gerade auf diesem Symposium wurde auch festgestellt, daß die jugoslawischen Soziologen alle Voraussagen über die künftige Entwicklung der Selbstverwaltung mieden. Dies wird begreiflich, wenn man sich die tatsächliche Entwicklung der Selbstverwaltung während der letzten zehn Jahre vergegenwärtigt. So stellten die Mitglieder des Instituts für Soziologie und Philosophie an der Universität Ljubljana fest, daß ein direktes Verhältnis zwischen der negativen Meinung über den Vorgesetzten in einem Betrieb und der Fluktuation der Arbeiter bestehe, daß es eine Verbindung zwischen dem unidemokratischen Verhalten des Vorgesetzten in einem Betrieb und häufigem Absentismus gebe und die Betriebstreue durch negative Stimmung erschwert wird. Dabei wollten rund 43 Prozent der Befragten aus Angst vor negativen Maßnahmen die Ereignisse im Betrieb nicht kritisieren. 48 Prozent der Befragten meinten, daß öffentlich formulierte Kritik früher oder später zu Vergeltungsmaßnahmen im Betrieb führe.

Untersuchungen über den Grad der Information innerhalb der Betriebe haben in einem Fall ergeben, daß 74 Prozent der Befragten die Entscheidungen des Arbeiterrates, dem das Recht über die Entscheidung und die Kontrolle im Betrieb zusteht, nicht kannten; nur 19 Prozent der Befragten kannten sie teilweise. Die Zahl der Mch'tjnformier-ten betrug in einem anderen Falle sogar 85 Prozent. Die Beteiligung an den Sitzungen des Arbeiterrates zeigt den Unterschied zwischen Theorie und Praxis noch deutlicher. Den Sitzungen der Arbeiterräte dürfen Mitglieder und Nichtmitglieder beiwohnen und alle haben das Recht zur Wortmeldung. Nur 15 Prozent aller befragten Nichtmitglieder hatten Sitzungen beigewohnt. Rund 7 Prozent waren der Meinung, es habe überhaupt keine Sitzung stattgefunden.

Der Arbeiterrat ist kollektiv verantwortlich für die Betriebspolitik und die wichtigsten Entscheidungen, die aber in Wirklichkeit von der Betriebsleitung getroffen werden. Die Arbeiter im Arbeiterrat können ja zum größten Teil gar nicht die komplizierten Probleme technischer und geschäftlicher Art beurteilen und vermögen daher die mehr oder weniger sachlichen Vorschläge nur zu bestätigen. So kommt es zu falschen Investitionen, für die niemand persönlich verantwortlich ist, zu Korruption und zu Bestechungen, die mit Verträgen und Spesenrechnungen verschleiert werden. Die Partei, der die Funktionäre zu 58 Prozent angehören (die Arbeiter nur zu 14 Prozent), greift nicht durch, weil ihre Mitglieder betroffen sind. Die Parteidirektiven, die von den Betrieben durchgeführt werden müssen, können nur praktischer Art sein, weil die Ideologie ja für den einzelnen Betrieb keine Maßnahmen vorsieht.

Soviel zum Selbstverwaltungsexperiment, das in der Tat nicht verwirklicht wurde und nicht verwirklicht werden kann. Vielleicht bat Radio Moskau die Absicht, den Jugoslawen die „wissenschaftlich“ gesteuerte zentrale Planung wieder schmackhaft zu, machen. Doch geht es in Jugoslawien derzeit darum, neue Terminologien zu schaffen und wenigstens verbal wieder neue „Produktionsverhältnisse“ einzuführen, die einer .direkten“ Verwaltung durch die Arbeiter näher sind. So ist auch die neue „Grundorganisation der vereinten Arbeit“ eine soziopoli-tisch-ideologische Bezeichnung für Betriebe, aber kaum jemand weiß, was darunter zu verstehen ist.

Der Begriff der Selbstverwaltung mit seinem romantisch-revolutionären Klang ist aber inzwischen zum Motto einiger linksradikaler Gruppen in der Dritten Welt geworden und nicht zuletzt auch ein Schlagwort für sozial engagierte Geistliche.

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