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Belgrad und der „Neuner-Klub“

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Tito zog es vor, auf der Insel Brioni zu bleiben. Zum erstenmal ließ er das Zentralkomitee der jugoslawischen Kommunisten letzte Woche wichtige Beschlüsse fassen, ohne selbst aufzutreten. Mag er „im Urlaub“ gewesen sein, wie es offiziell hieß, oder seine Gesundheit schonen müssen — Tito hat auch politische Gründe, vor seinen Reisen nach Wien und Moskau mit eigenen Äußerungen vorsichtig zu sein. Die

Reise nach Moskau ist ohnedies noch in Schwebe; eine Verstimmung in der sowjetischen Führung, aber auch bei manchen Parteispitzen Osteuropas, ist unverkennbar, wenn sie auch noch nicht laut wurde: Jugoslawiens innen- und außenpolitischer Eigensinn wirkt wieder einmal als unbequeme Herausforderung in einem Augenblick, da der Weltkom-mundsmus von ideologischer Unsicherheit geplagt wird.

Attraktiver werden!

Die Jugoslawen nehmen darauf wenig Rücksicht, sie nutzen den Schwebezustand, um das eigene Modell des Sozialismus attraktiver zu machen. Schneller noch und konsequenter als bisher soll die Wirtschafts-, Staats- und Parteireform in liberaler Richtung vorangetrieben werden: so beschloß das Zentralkomitee. Noch rascher soll das Selbstverwaltungssystem (das gegenwärtig schon die Betriebe über 70 Prozent ihrer Einnahmen frei verfügen läßt) die „Formen staatlicher Wirtschaftslenkung ablösen“ und zu einer „freien Auswirkung der Marktgesetze führen“. Noch steckt das Land wirtschaftlich mitten in der Reformkrdse, doch die Industrieproduktion stieg 1966 um 5 Prozent, die der Landwirtschaft sogar um 18 Prozent, während die Zahl der Beschäftigten um 2,7 Prozent sank. 250.000 Jugoslawen arbeiten im Ausland. Man fordert sie auf, in die Gewerkschaften der Gastländer einzutreten, um sich zu schützen, aber der westliche Konjunkturschwund wird viele zur Rückkehr zwingen. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit wurde in der Debatte des Belgrader Zentralkomitees beschworen; das ZK-Mitglied Orozen sprach von 200.000 Arbeitslosen. Aber die Reformer ließen sich nicht irremachen, Vollbeschäftigung heißt für sie nicht mehr — wie in anderen sozialistischen Ländern — Überbeschäfti-gung. „Das Problem der Arbeitslosigkeit besteht“, heißt es im Beschluß des ZK „aber es darf nicht als Vorwand zu Entscheidungen benutzt werden, die eine Intensivierung der Wirtschaft verlangsamen“.

Und die Partei?

Auch sich selbst stellt die jugoslawische Partei in Frage: ihre „hierarchische Struktur“ müsse verschwinden, ihre führende Rolle dürfe sich nicht mehr auf Machtpositionen stützen, „schneller als bisher“ müsse sie solche Rolle aufgeben und statt dessen zur „ideellen Vorhut“ der Gesellschaft werden, einer Kraft also, die sich nicht unmittelbar in die Staatsverwaltung einmischt. Die Parteibeschlüsse seien demokratisch zu fassen, das bedeute „als Voraussetzung einen freien Kampf der Meinungen“. — Das klingt so kühn als sei es von Djüas, dem begnadigten Ketzer, formuliert. Auch nach der Ausschaltung von Rankovii und seiner Gefolgschaft bleiben Zweifel, ob und wie sich all das realisieren läßt. Aber die Entwicklung Jugoslawiens zu einer immer offeneren Gesellschaft (seit 1. Jänner können alle Ausländer ohne Visa einreisen) wirkt auf die sozialistische Umwelt. Und sie bleibt auch nicht ohne Einfluß auf die Versuche Moskaus, durch eine Weltkonferenz der verbündeten Parteien diese wieder auf eine „Generallinie“ zu vergattern.

Kritik und Einheitsfront

Die Jugoslawen erinnern sich noch zu gut jener Konferenzen von 1957 und 1960, die — mit polemischen Ausfällen gegen Titos Modell — zu faulen Kompromissen mit den damals schon aufsäßigen Chinesen führten: „schädliche und durch die Praxis dementierte Deklarationen“, seien damals herausgekommen, schrieb am Wochenende die Belgrader „Borba“. Solche Generaldokumente seien genauso überholt wie jede Lenkung des Weltkommunismus aus einem Zentrum, warnte Vladimir Popovic vor dem ZK.

Die Jugoslawen wissen sich dabei einig mit den rumänischen, italienischen und sogar (in diesem Punkt) mit den nordvietnamesdschen Kommunisten. Sie kennen auch das stille Unbehagen, das andere, enger mit Moskau verbundene Parteien Bre-schniews Konferenzplan entgegenbringen. Doch zugleich bekommen die Jugoslawen immer mehr die

Kritik der sozialistischen Bruderländer zu spüren, die lange Jahre verstummt war.

Wirklich Sorge bereitet aber den Jugoslawen nicht ein kritischer Kommentar, sondern der immer deutlichere Versuch der Sowjetführung, sich die Besorgnis mancher Parteiführer in Osteuropa über „ideologische Aufweichung“ und nachlassende Disziplin zunutze zu machen und mit der Parole „China“ und „Vietnam“ den zerbröckelnden Block innerlich und äußerlich wieder fester an sich zu schmieden. Die Wirren in China begünstigen diesen Versuch, weil sie Breschniew ermöglichen, zwischen Mao Tse-tung und seinen Gegnern, den „wahren Kommunisten“, zu unterscheiden und so die angestrebte Einheitsfront nicht direkt „antichinesisch“ formieren zu müssen. Breschmiews Rede in Gorki letzte Woche, die auch versteckte Kritik an Belgrad enthielt, war von dieser Taktik bestimmt.

Neue „kleine Entente“?

Vieles deutet darauf hin, daß wieder einmal die Haltung gegenüber dem Titoismus zum Prüfstein für die Entwicklung in Osteuropa wird-Freilich, die Tendenzen zur Verhärtung und zur Auflockerung, die im Widerstreit liegen (auch in der Frage Deutschlands und der europäischen

Sicherheit), treffen heute anders als 1957 oder 1960 — auf Bündnissysteme in Ost und West, deren Differenzierung schon weiter fortgeschritten ist. Auch das asiatische Engagement der großen Mächte verbessert die Chancen der kleineren Staaten, aus dem Bannkreis der Ideologien zu springen. Deshalb versprechen sich die Jugoslawen heute von einer europäischen Konferenz der Parlamentarier mehr als von einer Konferenz der kommunistischen Parteien. Der von Belgrad angeregte „Neuner-Klub“ (Belgien, Bulgarien, Dänemark, Finnland, Österreich, Jugoslawien, Ungarn und Schweden) hat Ministerkonsultationen in aller Stille aufgenommen, um — quer durch die politischen Gruppierungen — eine Art Vorspiel zu einer Sicherheitskonferenz zustande zu bringen. Österreichs Außenminister Toncic gehört zu den emsigsten Förderern dieses Plans, und Titos Besuch in Wien — Mitte Februar — wird nicht nur einen Alterswunsch des Präsidenten erfüllen, vielleicht wird dabei der Grundstein zu einer „kleinen Entente“ neuer Art gelegt, die von Skandinavien bis zum Balkan reichen würde.

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