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Titos Meerfahrt

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Während in Europa der Winter seinen Einzug hält und das unfreundliche Wetter gleichermaßen die Atmosphäre in der Natur und in der Politik trübt, während der Streit um Berlin und damit um das Gesamtproblem Deutschland im Kreml und am Sitz der NATO mit größtem Eifer geführt wird, begibt sich e i n europäisches Staatsoberhaupt, das zugleich absoluter Herr in seinem Lande ist wie nur je ein Monarch, auf eine weite Reise in die klimatisch gesegneteren Teile Asiens und Afrikas: Marschall Tito. In politischen Kreisen stellt man sich zu dieser Fahrt, auf der er von seiner Gattin, doch von keinem hervorragenden Mitglied der kommunistischen Oligarchie begleitet wird, eine ähnliche Frage, wie in dem einst bekannten Schlager: „Was macht der Mayer auf dem Himalaja?” Ja, was macht, zu welchem Zweck unternimmt der jugoslawische Staatschef diese Pilgerfahrt an die heiligen Stätten des siegreichen Antikolonialismus?

Doch zuvor die drei Haupthypothesen, die erörtert werden. Erstens, Tito handelt in verschleiertem Einverständnis mit Chruschtschow und besorgt in doppelter Weise die Geschäfte des Kremls, indem er die asiatischen und afrikanischen Staatslenker der sogenannten Dritten Front vor westlichen Versuchungen warnt und im sowjetischen Sinne beeinflußt. Zweitens, er dient den „Imperialisten” der Wallstreet und arbeitet bei Afro-Asiaten gegen das „Friedenslager” der sozialistischen Völker. Drittens, er sucht und bekräftigt Freundschaft mit Ländern, die keiner der beiden einander feindlichen und immer gefährlicher an den Rand eines neuen Weltkrieges drängenden Gruppen angehören, um die Menschheit vor neuem Schrecken zu bewahren und um durch löbliches Beispiel darzutun, daß zwischen Staaten von einander so unähnlicher Struktur, wie dem kommunistischen Jugoslawien und den traditionsreichen Monarchien Aethiopien upd Kambodscha, eine echte Koexistenz, ja herzliche Verbundenheit möglich ist, wenn man nur einigermaßen guten Willen dazu hegt.

Die erste Lesart hat einiges für sich, bedarf aber sehr wesentlicher Einschränkungen. Die zweite wird von den unversöhnlichen Gegnern des Marschalls verbreitet. Sie wird besonders in Pankow, Prag, Sofia und Tirana vertreten, ferner in der UdSSR durch die offenen und verkappten Widersacher Chruschtschows, in China durch die Verfechter des harten Kurses und, in seltsamer — oder gar nicht seltsamer — Ueber- einstimmung im Westen, freilich mit anderen Worten, seitens der sozialistischen und linksbürgerlichen Freunde Titos wie ziemlich allgemein in britischen Kreisen. Die einenschmähen deshalb den abgefeimten Spalter und Ketzer als Revisionisten schlimmster Sorte, wie das bei den Feiern zu Ehren der russischen Revolution in der DDR, in Bulgarien und in der Tschechoslowakei geschah — die jugoslawischen Botschafter verließen zum Zeichen des Protests an mehreren Orten den Saal der Veranstaltung. Der tschechoslowakische Vizeministerpräsident Kopecky nannte den Verhaßten einen Verräter, dessen Andenken ausgelöscht sein werde, gleich dem aller Verräter. Die andern, Titos Gönner und Bewunderer im Westen, rechnen noch immer darauf, daß er eigentlich ins demokratische Lager finden werde, und erblicken in ihm eine Art von Nehru. Die dritte Deutung stammt von den Belgrader Offiziösen, nachdem die allzu simple Berufung auf bloße Gesundheitsgründe der Reise des Staatsoberhauptes nicht ernsthaft verteidigt werden konnte.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hat es mit einer vierten Auffassung seine Richtigkeit, die durch die Zickzackentwicklung der sowjetischjugoslawischen Beziehungen und des Verhaltens Titos gegenüber den Angelsachsen bestätigt wird. Den wesentlichen Kern der Außenpolitik des Marschalls bildeten seit 1948 drei Prinzipien: bei Beachten des kommunistischleninistischen Regimes Vermeiden eines direkten Bruchs mit der UdSSR, wie groß und wie schwer auch die Zwistigkeiten mit den jeweiligen Machthabern im Kreml sein mögen; Kontakt mit dem Westen, wobei die Enge und der Umfang dieser Fühlungnahme sehr schnell vom Wechsel der augenblicklichen Gegebenheiten abhängt; Schaukeltaktik, die es nie zum offenen Kampf mit einem der beiden einander feindlichen Lager kommen läßt und die durch, mitunter sehr gewagte Manöver, bald von dem einen, bald vom anderen Zugeständnisse, Waffen, sonstige Lieferungen, Kredite verschaffen soll.

Die Reise in die warmen Zonen unseres Erdkreises stellt ein sehr wirksames Rezept dar, den bleibenden Zielen einer unheimlich geschickten Taktik und Strategie zu dienen. Tito zeigt dem Westen und dem Osten, daß er nicht allein, verlassen dasteht; daß er durch sein Wort, durch die Magie seiner Persönlichkeit Entscheide zugunsten der einen oder der anderen weltpolitischen Gruppe mitherbeiführen kann, an denen Moskau oder Washington und London viel liegt; daß er bei so wichtigen Männern, wie Nehru, Nasser und den heutigen Lenkern Indo- . nesiens — die hinter Sukarno.-dle- fr ab tat Gewalt ausüben —, aufmerksames ®eM lilü tktlehin genießt. Dadurch werden die USA und Großbritannien eher geneigt sein, dem Wunsch Jugoslawiens nach neuen Krediten und nach Lieferungen zu entsprechen. In Amerika ist das nicht so leicht. Man hat dort weder die Enttäuschung von 1955 vergessen, als der vermeinte Bundesgenosse gerührt dem wiedergefundenen russischen Väterchen in die Arme sank, noch die etwas anmaßende Erklärung von 1957, die auf fernere Hilfe Washingtons verzichtete, noch die Anerkennung der DDR als diplomatischen Partner, noch das gesamte Verhalten Titos in der Ungarnsache. Doch das Staatsdepartement und das Pentagon drücken zeitweilig die Augen über vergangene Wirklichkeit zu, und deshalb darf Belgrad, nicht zuletzt infolge der afroasiatischen Zusammenhänge, auf die geforderten 300 Millionen Dollar hoffen. Davon wird ohnedies Großbritannien einen Betrag von 14 Millionen Pfund beizusteuern haben. In London begegnet Tito von jeher geringeren Widerständen, ja, noch aus der Kriegszeit her, einer unleugbaren Sympathie, nicht nur bei Labour, sondern auch bei vielen Konservativen. Darum hat der jugoslawische Diktator zuerst nicht in Amerika, sondern in England angeklopft. Außenminister Popovič weilte während der letzten vier Oktobertage in der britischen Hauptstadt. Er wurde glänzend aufgenommen, versprach allerlei, erzählte von der kommenden Asien- und Afrikatournee seines Gebieters und kehrte mit wirtschaftlichen und politischen Zusagen bedacht heim. Bei den Angelsachsen hatte also die Reise Titos einen klaren Vorauserfolg.

Weniger ‘glücklich war er zunächst dort, wo er vor allem Eindruck machen wollte, in Moskau. Wohl war im Verlauf des Oktobers ein Nachlassen der Spannung zu verzeichnen. Der scheidende Botschafter Micunovič, der inzwischen zum stellvertretenden Außenminister vorrückte, wurde sehr artig, und ganz anders als sein aufs gröbste abgefertigter Kollege in China, verabschiedet. Chruschtschow hatte mit ihm eine lange Unterredung, von der MicunoviC sofort Tito auf Brioni berichtete. Der neue Vertreter Jugoslawiens in der UdSSR, Mojzow, wurde nicht minder liebenswürdig empfangen. Doch, obzwar die „Prawda” in einem Artikel zum jugoslawischen Nationalfeiertag äußerte, Belgrad teile in vieler Hinsicht die außenpolitischen Auffassungen Moskaus, man wünsche dem Brudervolk alles Gute und eine neuerliche Besserung der gegenseitigen Beziehungen, hieß es doch im Nachsatz, diese Annäherung hänge nur vom anderen Partner ab. Man vernahm noch schärfere Töne, vor allem anläßlich des Besuches Gomulkas in der Sowjetunion. Die jugoslawische Presse reagierte darauf empört, beleidigt und mit der Beteuerung, man werde nicht nachgeben, auch wenn der Druck von 200 Millionen, ja von 600 Millionen (China!) ausgehe. Gomulka aber habe vor Jahresfrist in Jugoslawien wesentlich abweichende Meinungen gehegt. Trotzdem klang immer wieder die Sehnsucht durch, im Kreml zu Gnaden aufgenommen zu werden und mit Polen die Gemeinschaft nicht völlig einzubüßen.

Hatte Tito mit diesem Bemühen unrecht? Es scheint, daß allen Kritiken — beileibe keinen Bannflüchen, wie aus China und den meisten Volksdemokratien — zum Trotz, Chruschtschow und Gomulka dem jugoslawischen Häretiker gar nicht so schlimm gesinnt sind. Polen hat Ende November mit dessen Land einen Handelsvertrag abgeschlossen, der für 1959 den gegenseitigen Warenaustausch von 50 auf 60 Millionen Dollar erhöht. Die Sowjetunion beginnt wieder mit zögernden Lieferungen. Die Fäden sind nicht abgerissen, und wir werden uns nicht wundern, in der erwähnten Rede Titos vom 23. November den Satz zu finden: „Wir sind mit der Sowjetunion in viel mehr Fragen einer Meinung als mit den westlichen Staaten”, was noch weit über die ähnliche Feststellung der Moskauer „Prawda” hinausgeht.

Wir sehen nur klarer und beinahe ganz klar: der jugoslawische Staatschef reist von Hauptstadt zu Hauptstadt, im Süden Asiens und im Stromgebiet des Nils. Je nachdem, wie sich der Kreml zu ihm verhält, wird er seinerseits auf Sukamo, Sianuk, auf Nehru, Nasser und Abbud, auf Haile Selassiė einzuwirken trachten. Dabei ist nicht zu unterschätzen, daß Titos Fahrten in einem Zeitpunkt geschehen, da sich im chinesischen Raum wichtige Umschwünge vollziehen. Nach dem, in Europa kaum vermerkten, doch ungemein bedeutsamen Umbruch in der Mongolei, wo der Beschützer Molotows und Stalinist Damba durch dessen Vorgänger, den mit Chruschtschow harmonisierenden Cedenbal, ersetzt wurde, ist Mao Tse-tung, der in der letzten Zeit einen erbitterten Zweikampf um die Hegemonie im kommunistischen Block ausgefochten hatte, ins Hintertreffen geraten. Tito darf daraus manche Erwartungen ableiten. Er hat ferner Moskau einiges zu bieten, wenn er den, wegen der Entwicklung im Irak, mit der UdSSR nicht mehr so zärtlich verbrüderten Nasser vor amerikanischen Umstrickungen warnt … und ihm so nebenbei Ratschläge für den Umgang mit Sowjetkoryphäen gibt. Kurz und gut, der böse Revisionist wird auf seiner Reise den Lebensinteressen der Sowjetunion nicht allzu gefährlich werden. Solange nämlich und weil Chruschtschow die Geschicke des — China her, China hin — führenden sozialistischen, kommunistischen Staates lenkt.

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