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Kater Murr und die große Politik

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Längst hätte man in Politik und Publizistik einen Begriff einführen sollen, der „Kater- murrismus“ genannt werden könnte. In der geistreichen, skurrilen Erzählung des deutschen Romantikers E. T. A. Hoffmann schickt der angebliche Verfasser von tiefsinnigen Erinnerungen, Kater Murr, diesen zwei Vorworte voraus, ein gedrucktes und ein unterdrücktes, das durch einen „Irrtum“ mitveröffentlicht wird und in dem die wahren Ansichten des kätzischen Autors zu finden sind. Der, dem es darnach gelüstet, die Stellungnahme der fernöstlichen Weltmacht und die der europäischen wie auch der asiatischen Satelliten Moskaus und Pekings kennenzulernen, ist unbedingt eine katermurrische Methode anzuraten. Denn nur selten klafft ein so großer Widerspruch zwischen den zur Schau getragenen Meinungen der in China und in den Volksdemokratien Regierenden einerseits, den nicht einbekannten Ansichten eben dieser Machthaber und endlich denen der Volksmehrheiten anderseits, wie in tfezug auf die stattgefundene Begegnung Eisenhower-Chruschtschow, samt allem, was darauf folgen könnte. Selbstverständlich herrscht in den kommunistischen Aeußerungen von Peking bis Pankow und von Warschau bis Hanoi begeisterte Einmütigkeit über eine Zusammenkunft, die dem hartnäckigen Wunsch Nikita Sergiejewitschs entsprach und die als ein gewaltiger Triumph seiner Diplomatie, seiner Friedensliebe und, dem verpflichtenden Schema gemäß, des Drucks der kriegsfeindlichen Massen der Werktätigen auch in den kapitalistischen Ländern gefeiert wird. Variationen über diesen Grundakkord begegnen uns nur insofern, als in einzelnen Volksdemokratien dabei auch freundliche Worte an die Adresse der USA wie, gelegentlich, Großbritanniens, Eisenhowers und MacMillans fallen, während in anderen, und vor allem in China, dann in Korea. Vietnam, der Mongolei, der Ton gegenüber Amerika unvermindert feindselig bleibt, das Treffen der zwei Ganzgroßen als den Yankees aufgezwungen und deren möglicher Gesinnungswandel als Utopie abgetan werden.

So weit, so gut oder auch so schlecht. Innerhalb des monolithische Geschlossenheit mimenden Blocks war und ist nichts anderes von einem gleichgeschalteten Nachrichtenapparat und von dessen Kommentaren zum politischen Geschehen zu erwarten. Es überrascht ferner nicht im leisesten, daß aus Jugoslawien, dem abgewandten Ort der kommunistischen Freud- und Leidgenossenschaft, gerührter Beifall erklingt. Was aber birgt sich an unterdrückten Nachworten des großen Mitunterdrückers China und der unterdrückten Satelliten ... was versteckt sich an wahren Gefühlen und welchen Einfluß hat die jüngste Entwicklung der Weltpolitik auf die Lage des extremistisch gewordenen Reiches der Mitte und auf die der Volksdemokratien, auf deren Beziehungen zu Moskau und auf ihr gegenseitiges Verhältnis?

China: Die Pekinger Machthaber werden von einem doppelten Alptraum geplagt: daß sich der Kreml eines Tages mit den USA weltweit verständigen und sich alsdann, natürlich unter einem großen Aufwand propagandistischer Kunst das Gegenteil nachzuweisen, jedes wirksamen Beistandes für die asiatischen Expansionspläne Mao Tse-Tungs enthalten könnte; daß sich ferner die dem einst himmlischen, jetzt statt überirdisch über-irdischen Reiches gewährte umfängliche Hilfe beim Aufbau eines riesigen Bienenstaats verminderte oder daß sie gar versickerte. China zählt außerdem auf die Hilfe des mächtigen Verbündeten, um durch die breit aufgeschlagene große Pforte den Einzug in die UNO zu feiern.

Gegen eine direkte sowjetisch-amerikanische Einigung hatte man in Peking früher mit einer nicht minder unmittelbaren Verständigung zwischen China und den USA gespielt. Derlei Druckmittel versagte aber Anno 1956, und es es ist wenig Grund, anzunehmen, daß es heute eher anwendbar wäre. So steht das Riesenland der Volkskommunen den Eventualitäten einer amerikanisch-sowjetischen Entspannung ziemlich waffenlos gegenüber. Es muß vielmehr um die Gunst Moskaus bangen, denn davon, ob Chruschtschow in Washington und Eisenhower in Moskau die Zulassung des heutigen Pekinger Regimes zur UNO.verabreden, hängt dieser von Mao und seinen Leuten sehnlichst begehrte Erfolg wesentlich ab.

Uebrigens: So völlig ohne Pressionsmöglichkeiten sind die chinesischen Parteiführer nicht. Sie können und sie werden Chruschtschows Widersacher innerhalb der KPSS aufstacheln und fördern, wenn irgend dieser die Interessen der Pekinger Genossen preisgeben sollte. Das wissend, doch nicht nur darum, dürfte sich Chruschtschow bemühen, bei einer Generalbereinigung mit den USA auf China weiteste Rücksicht zu nehmen. Immerhin, auch in dieser Hypothese verlöre es in den Augen der Moskauer Maßgebenden viel an Gewicht. Und deshalb kann die ostasiatische Weltmacht eine amerikanisch-sowjetische Entspannung unmöglich mit ehrlichem Vergnügen ansehen. Sie wird das schon darum nicht, weil die alsdann unerschütterliche Position Chruschtschows diesen ihr wenig angenehmen Partner als unumschränkten Herrn der UdSSR beglaubigte; weil dadurch auch Nehru, der sich immer mehr zum Gegenspieler Maos entwickelt, sich der chinesischen Expansion in Süd- und Südostasien mit stärkeren Aussichten widersetzen könnte. Es ist also -zu vermuten, daß die chinesische Diplomatie hintenherum mancherlei Quertreibereien starten wird und daß man auf Parteiebene, bei dem gegenwärtigen Besuch Chruschtschows in Peking, vor der Moskaufahrt Eisenhowers, die mannigfachsten Künste versuchen wird, um zu verhindern, daß zwischen den USA und der UdSSR ein, wenn auch noch brüchiger, Frieden ausbreche. Ueber dieses Thema wird sich das chinesische Führergremium eingehend mit Ho Tschi-Min unterhalten haben, der während, der letzten Wochen bei diesem zu Besuch weilte. Seine Interessen laufen derzeit denen Chinas parallel, vordringlich in der Sache der von ihm angespornten Partisanen in Laos und in der Gegnerschaft zu Südvietnam. Nicht minder solidarisch mit Peking sind die Mongolei des getreuen Tsedenbal und das Nordkorea Kim Ir-Sens. Von Moskau aus sieht man die Verschärfung der Situation in Indochina ungern, sowohl im Hinblick auf Nehru als auch auf die Angelsachsen, wenn man und weil man mit ihnen zu einem Modus vivendi gelangen will.

In Europa hat die hypothetische Annäherung der USA und der UdSSR unter den Volksdemokratien vor allem in Polen allgemeine Freude erweckt. Ein Ende des Kalten Krieges ließe eine Nation erleichtert, aufatmen, die bei einem Ausbruch des heißen Krieges vor allen anderen Völkern mit Zerstörung bedroht wäre. Die Polen wären entzückt, eine vermittelnde, ausgleichende Rolle zwischen dem Westen zu erfüllen, dem sie mit dem Herzen, und dem Osten, dem sie mit der Staatsräson zugeordnet sind. Sie hoffen auf mäßigenden Einfluß, den die USA auf den messianistischen und imperialistischen Herr- schaftstrieb der Sowjetunion ausüben könnten, und auf die Wirkung gigantischer Wirtschaftsverflechtungen zwischen Amerika und der UdSSR, wodurch die Kriegslust mancher Kreise in den Vereinigten Staaten beseitigt würde. Nicht zuletzt hat man schon jetzt, beim Warschauer Blitzbesuch Nixons, und angesichts der erhöhten Beachtung des Rapacki-Planes, wie der im Westen sich schnell steigernden Neigung, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen, für Polen günstige Früchte seiner Ost-West-Einigung erschaut und schließlich mit Genugtuung die erhebliche Steigerung des Prestiges des einen Landes festgestellt, die innerhalb des Ostblocks, wiederum im Zusammenhang mit den Gesprächen zwischen Washington und Moskau, zu verzeichnen ist.

Die Tschechoslowakei und die DDR betrachten dagegen derlei Geschehen mit gemischten Empfindungen. Begrüßt man in Prag zweifellos eine Entwicklung, die der zusammen mit Polen durch einen bewaffneten Konflikt in Europa nächstbedrohten Volksdemokratie furchtbare Verheerungen ersparte, so schweben den Kommunistenführern auf dem Hradschin allerlei zweitrangige Gespenster vor, die nach einem Ausgleich USA-UdSSR den Horizont trüben könnten: eine Auseinandersetzung über die Sudetendeutschen; der Ersatz der noch immer dominierenden stalinistischen alten Garde durch Anhänger der in Polen regierenden, Chruschtschow näherstehenden, Richtung innerhalb der Partei; Verlust der großen Gewinne, die in der Tschechoslowakei aus der Rüstungsproduktion für den Nahen und Fernen Osten bezogen werden; Minderung der relativen Bedeui tung im Schoße des kommunistischen Blocks.

Aus diesem Ueberblick möge erkannt werden, in wie beträchtlichem Grade die Begegnungen Eisenhower-Chruschtschow jedes einzelne Mitglied des Ostblocks, und überhaupt jeden Staat angehen. Wiederum erfahren wir, daß wir in ..One World“, in einer, wenn auch noch un- einen, Welt leben.

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