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Zur augenblicklichen Lage in China

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Die Lage in China hält heute die Weh in Spannung. Weite europäische Kreise dei romanischen und angelsächsischen Ländei hielten eine Ausbreitung des Kommunismen bis zur beherrschenden Beeinflussung China! für unmöglich oder doch wenigstens für höchst unwahrscheinlich. Sie stützten sich auf die soziale Struktur des Volkes, die Großfamilie, die ja in sich eine Verschiebung des Eigentumsbegriffs zum Sozialeigentum bedeutet. Aber man dachte nicht daran, daß diese soziale Einrichtung, verbunden mit dem Konservativismus der chinesischen Bauern, auf die Erhaltung eines optimalen Gleichgewichtszustandes zielte. Wenn den menschlichen Einflüssen entzogene Verhältnisse den Gleichgewichtszustand erschüttern, dann konnte nur eine Reform die gegebene Antwort sein. Bereits im Jahre 1930 schrieb der österreichische Missionär P. Alois Macheiner S. V. D., es liege durchaus im Bereich des Möglichen, daß die chinesischen Bauern von morgen die Reformen des Kommunismus mit beiden Armen aufnehmen könnten.

In zähem Egoismus hielten die Völker des Westens an den China aufgenötigten Sonderrechten fest, und erst nach ihrem Bündnis mit China gegen die Achsenmächte sahen sie sich gezwungen, auf ihre die Souveränität Chinas verletzenden erzwungenen Rechte zu verzichten. Rußland aber schloß bereits Ende 1924 mit China einen Vertrag ab auf dem Boden der Gleichberechtigung, verzichtete auf seine Exterritorialität und die berüchtigte Boxerentschädigung, die aber China für die geistige Hebung des Volkes und für Unterrichtszwecke zu verwenden vertraglich sich verpflichtete. Wenn auch im Jahre 1927 die chinesische Nationalregierung eine Schwenkung vom internationalen Kommunismus zum chinesischen Nationalismus plötzlich vollzog, so gab damit der Weltkommunismus sein Ziel nicht auf, sondern verfolgte es weiter mit der ihm eigenen zähen Konsequenz. Lenin selbst hatte nach dem Versagen seiner Idee im Westen die Parole ausgegeben: „Wenden wir uns nach Asien und wir werden im Westen unser Ziel durch den Osten erreichen.” Deutlicher sprach kurze Zeit darauf Sinovieff auf dem Kongreß von Baku 1920: „Rußland strebt nicht danach, seine Hand auf Asien zu legen, um sein Ideal zu erreichen, noch um soziale Ideen auszustreuen, sondern die achthundert Millionen sind ihm nötig, um den europäischen Imperialismus und Kapitalismus niederzuringen.”

Der zweite Weltkrieg hat die Intensität kommunistischer Agitation fast ein Jahrzehnt lahmgelegt, da sich alle chinesischen Richtungen auf den Kampf gegen den japanischen Eindringling geeinigt hatten. Um so stärker trat der Kommunismus aber gleich nach dem japanischen Zusammenbruch in Aktion. Beide Richtungen schöpfen ihre inneren Kräfte aus jener unseligen, jahrhundertealten Politik der europäischen Großmächte, die dem armen chinesischen Volke „im Namen der europäischen Kultur” ein Stüde Land nach dem anderen abnahmen und die ständig im Aufsteigen befindliche chinesische Wirtschaft unter ihrer finanziellen Herrschaft zu behalten strebten. Wie wenig sozial die europäischen Kräfte eingestellt waren, zeigt sich hon in der Tatsache, daß beispielsweise in Schanghai in den englischen Fabriken 17 Prozent, in den italienischen 46 Prozent, in den französischen 47 Prozent der Arbeiter Frauen waren, während der Prozentsatz in den Fabriken der Chinesen nur 13 betrug. In den gleichen Fabriken waren 60 Prozent der Arbeiter Kinder unter zwölf Jähren, während es bei den Chinesen nur 10 Prozent waren. Es ist verständlich, daß der Kommunismus die sich erst bildende Industriearbeiterklasse, die nur 2 Prozent der Bevölkerung ausmachte, als genügend breite Plattform betrachtete, von der die Bolschewisierung Chinas in Szene gesetzt werden konnte.

Den stärksten Rückhalt fand aber die kommunistische Bewegung im chinesischen Bauerntum. Mord, Plünderungen und Brandschatzungen im Gefolge der Diadochenkämpfe der Generäle hörten seit 1911 nicht auf und hatten eine ständig zunehmende Verarmung des Landes gebracht, die noch durch die gewaltigen, schicksalhaft immer wiederkehrenden Naturkatastrophen verschärft wurde. Nach jüngsten Informationen sind im Laufe der Bürgerkriege und des japanischen Krieges den in ihrem Gefolge schreitenden Seuchen, wie Cholera, Pest und Typhus, hundert Millionen Chinesen zum Opfer gefallen. Das bedeutet 20 Prozent der größten aller Menschheitsfamilien und das größte Massensterben der Menschheitsgeschichte.

Nach Edgar Snow leben heute 65 Prozent des Landes unter dem Existenzminimum. Um ihr Leben zu fristen, mußten sie Grund und Boden verkaufen und wurden die Beute der Geldverleiher. Großgrundbesitzer, Beamte und Angestellte bilden zwar nur 10 Prozent der Bevölkerung, haben aber 70 Prozent des Agrarlandes inne, während sich die übrigen 30 Prozent auf die eigentliche Landbevölkerung verteilen. Auf die 80 Prozent der Bevölkerung bildenden Kleinbauern entfallen nur 15 Prozent des Landbesitzes.

Der russische Kommunismus arbeitet zielsicher auf Grund der Erfahrungen, die er in der Bolschewisierung der russischen Landbevölkerung gemacht hat. Soziologisch fügt er sich ja in das Bild des bäuerlichen Asiens ein, in dem eine Art elementarer Kommunismus lebendig ist. Denn der Osten kennt nicht die ausgeprägte Eigentumsethik des Westens. Halbkommunistische Wirtschaftsformen wie großfamiliärer Besitz kommen der Idee des Dorfgemeinschaftsbesitzes (Kolchosen) soziologisch weit entgegen. Die heutige kommunistische Bewegung ist zwar in ihrer Führung radikal, aber sie umfaßt alle Richtungen, die auf eine Besserung der Verhältnisse und die Sicherung des Lebensstandards hinzielen, von der gemäßigten Richtung bis zur radikalen. Zahlenmäßig sind die Gemäßigten in der übergroßen Mehrheit, werden aber durch die Führung in den Dienst der Radikalagrarbewegung gezwungen.

Am auffälligsten aber zeigt sich die Verwandtschaft in der geschichtlich gewordenen despotischen Herrschaftsform, die uns überall im Osten begegnet. Im ganzen Osten entsteht Großes nur unter den Händen des Despoten, wenn er das Format dazu hat, wenn ihm aber auch unter Umständen Menschenblut wie Wasser ist. Der östliche Mensch nimmt damit auch Willkür und Brutalität in Kauf. Wladimir Solowjew sagt: „Im Osten bedeutet Staat nur Herrschaft. Der Mensch des Ostens, der als Quietist und Fatalist seiner Natur und seiner Überzeugung nach in der Hauptsache sich nur für das Ewige und Unwandelbare im Dasein interessiert, ist unfähig, seine Rechte zu behaupten und hartnäckig um seine Interessen zu kämpfen. Wer stark ist, der ist auch im Recht, und dem Starken sich zu widersetzen, ist die Tat eines Sinnlosen.” In diesem Punkt treffen sich russischer Kommunismus und China. Daher sind auch die Trager der modernen Ideen starke Persönlichkeiten, die mit autonomer Gewalt die Massen in ihren Bann ziehen.

So stehen auch in China wie im ganzen Osten an der Spitze der beiden sich bekämpfenden Richtungen zwei Herrschernaturen von weit über das Ausmaß europäischer Politiker stehenden Persönlichkeiten: Tschiangkaischek als Führer der Nationalen und Mao-Tse- Tung.

Bis April 1927 stand Tschiangkaischek unter dem Einfluß Rußlands. Die Westmächte hatten dem Gründer der chinesischen Republik, Sun-Wen (Sun-Yat-Sen), auf seine Bitten, China in der schwersten Stunde ihren Beistand zu leihen, kalte Schultern gezeigt. Erst dann wandte sich Sun-Wen an Rußland und fand offene Arme. Sem Nachfolger wurde Tschiangkaischek, der noch 1925 wiederholt erklärte, daß die chinesische nationale Revolution organisch verbunden sei mit der Weltrevolution und seine Partei, der Kuomingtang, daher seine Direktiven von der Dritten Internationale empfangen müsse. Selbst Borodin, der russische Sondergesandte in China, richtete die Aufforderung an das chinesische Volk: „Einerlei, ob Kuomingtang oder Kommunist, alle müssen General Tschiangkaischek gehorchen.”

Nicht ohne Zutun Borodins wurde Tschiangkaischek Oberkommandierender im Kampfe gegen die Nordtruppen. Die Schwenkung Tschiangkaischeks vom Kommunismus zum Nationalismus im Jahre 1927 war eine radikale. Die Kommunistische Partei wurde unter Todesstrafe verboten. Es wurden im Jahre 1927 nach D’Elia allein 37.981 Kommunisten hingerichtet. Die russische Freundschaft hatte sich in Feindschaft gewandelt, ohne aber zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu führen. Immer mehr wurde Tschiangkaischek der autonome Führer der nationalen Bewegung und war bis Februar 1946 die starke Hand, die hoffen ließ, China aus seinen Wirren in eine ruhigere Entwicklung zu führen. Sein Ziel ist ein freies, vom Westen unabhängiges China, das auf Grund seiner eigenen Kräfte, ohne die Beherrschung oder stärkere Einflußnahme fremder Mächte, in seiner Entwicklung eine seiner Größe und geistigen Bedeutung entsprechende Stellung gewinnen könne. Verschiedene Gründe sind ihm für die Rückschläge der jüngsten Zeit im Kampfe nm seine Ideen zum Nachteil geworden. Zunächst war es die noch immer nicht ganz überwundene Auffassung des Westens von einer gewissen Inferiorität und Unfähigkeit Chinas. Daher zögerte er auch mit seiner Hilfe für China. Diese Reserve der Westmächte war zum großen Teil bedingt durch den inneren Feind des chinesischen Volkes: die Bestechlichkeit der Beamten und die politische Interesselosigkeit der Massen, die den Ernst der Entscheidung, um die es ging, nicht erfaßten. Inwieweit bei der Stellung des Westens zu China bis vor kurzem wirtschaftliche Interessen im Spiele. waren, läßt sich zur Stunde wohl kaum ermessen und beweisen. Jedenfalls macht es in jüngster Zeit den Eindruck, daß man trotz allen gegenteiligen Beteuerungen China seinem Schicksal überlassen wolle.

Auf der anderen Seite steht als überragende Persönlichkeit der fünfundfünfzigjährige Mao-Tse-Tung, ein Bauernsohn, der weiß, daß sein Sieg letzten Endes von Moskau abhängt. Nahezu dreißig Jahre predigte er das kommunistische Glaubensbekenntnis. Als er 1934 mit 50.000 Parteianhängern seinen großen Marsch nach Schensi antrat, war er mit einem Schlage der unumstrittene Alleinführer der Gegenrichtung von Tschiangkaischek. Die Versuche der Einigung mit ihm (1946) scheiterten an der Forderung, seine Armee aufzulösen. Beim Spiel der Sympathien und Apathien in der Beurteilung der chinesischen Verhältnisse ist sein politisches Pro gramm nicht klar zu erkennen. Jedenfalls liegt in seinem Programm der Ton auf China. „Wenn wir auch kommunistisch sind”, betont er, „so sind wir doch in erster Linie und vor allem Chinesen… Wir bleiben doch unserem Vaterland, unserer Heimat treu.” Er ging selbst so weit, 1937 zu erklären: „Ich will der Moskau Hörigkeit ein Ende mache n.”

Um Mao-Tse-Tung hat sich ein Mythos gebildet, der ihn im Glauben der Masse mit außernatürlichen Kräften begabt erscheinen läßt. Was er will? Sein Wort: „Unser Evangelium bleibt das gleiche, aber wir müssen mit seiner Anwendung noch zögern”, ist voll von Zweideutigkeiten. Eines steht jedoch fest: daß bei aller nationalen Note sein Programm sozial-kommunistisch ist. Ist er der von der Kommunistischen Internationale Geführte oder ist diese ihm nur ein Mittel, um zur Macht zu kommen?

Für den Menschen des Westens bleibt der Osten ein Rätsel. Es ist des Westens eigene Schuld, daß ihm die Seele des Ostens verschlossenes Land blieb.

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