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Mao und die „Papiertiger“

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Die Welt blickt heute gebannt auf das Schauspiel der Auseinandersetzung zwischen Peking und Moskau. Aber für die Zukunft dieser Welt nicht minder entscheidend ist eine Auseinandersetzung, die nicht stattfindet: diejenige zwischen Peking und Washington. Im Grunde hat Amerika heute überhaupt keine China-Politik mehr. Man betreibt die Dullessche Blockade- und „Noncooperation-Politik“ weiter, bloß mit dem Unterschied, daß niemand mehr an einen inneren Zusammenbruch in China glaubt und alle Einsichtigen die Stunde kommen sehen, da die USA unter erheblichem Prestigeverlust Rotchina anerkennen oder ihm zumindest den Weg in die UNO freigeben müssen.

Nun könnte man sagen, das sei schließlich Amerikas Sache, was gehe das uns Europäer an. Wer so spricht, hat nicht begriffen, was gegenwärtig in Vietnam für uns alle auf dem Spiele steht. Die Situation ist doch so, daß im Augenblick der Fortbestand des Friedens in der Welt scheinbar nur von der Vernunft und vom Wohlverhalten Mao Tse-tungs abhängt. Die Amerikaner sind mit ihrem Prestige so sehr engagiert — ganz abgesehen von den Auswirkungen des Wahljahres —, daß sie gezwungen wären, auf einen aggressiven Akt Maos mit dem ganzen Gewicht ihrer Militärkraft zu reagieren. Ein chinesischamerikanischer Krieg erschiene beinahe als unvermeidlich, und wer könnte zu behaupten wagen, ein solcher Krieg könnte lokalisiert bleiben?

Aber Vietnam lehrt noch etwas anderes: die Situation dort ist im Grunde für beide Seiten hoffnungslos. Keine Seite kann heute noch hoffen, zu gewinhen. Die Vietkongs mögen noch so viele Erfolge erzielen, das Resultat wird immer nur sein, daß die USA sich noch stärker engagieren. Aber — und das ist letztlich das Entscheidende — auch eine nichtmilitärische Regelung des Vietnam-Konfliktes erscheint so lange als aussichtslos, als die USA nicht Rotchina als die Macht anerkennen — und entsprechend behandeln —, die in jenem Raume allein imstande ist, eine politische Vereinbarung zu garantieren. Das heißt: solange die USA auf ihrer gegenwärtigen China- Politik beharren, ist auch eine nichtmilitärische Lösung des Vietnam-Konfliktes — wie überhaupt des ganzen Südostasienproblems, inklusive vor allem Laos — nicht möglich. Es sei denn, unvorhersehbare Ereignisse stellten alles auf den Kopf. Aber darauf kann eine vernünftige Politik sich nicht verlassen. Mit einem Worte also: die Situation in Vietnam ist hoffnungslos, und alles spricht dafür, daß die Position der USA nur immer heikler und gefährlicher wird.

Eines der vielen Paradoxe dieser Situation ist, daß die USA mit ihrer China-Politik bisher so ziemlich genau das getan haben, was Mao als Marxist von einer „imperialistischen“ Macht — die die USA ja gar nicht sind — erwarten muß. Gewiß wird Peking kein einfacher Verhandlungspartner sein, denn seine Führer sind nicht nur gläubige marxistische Revolutionäre, sondern auch chinesische Nationalisten. Aber auch den Revolutionen geht es wie den einzelnen: sie nehmen mit dem Alter an Spannkraft ab. Mao ist 71 und ein kranker Mahn. Bald wird eine neue Generation die Führung übernehmen müssen, und manches spricht dafür, daß auch in China eine mehr technisch-wissenschaftlich und weniger idealistisch-revolutionär orientierte Generation nachdrängt. Und was den Nationalismus anbelangt, so hätten die USA es in der Hand, wieder gutzumachen, was sie an Verletzung chinesischen Nationalstolzes bisher politisch gesündigt haben.

Wenn man einen Chruschtschow žu einer Reise durch die USA eingeladen hat, kann man auch einen Mao — oder seine Nachfolger — zu einer solchen Reise einladen. Mao hat noch nie ein nichtkommunistisches Land — außer das vorrevolutionäre China — gesehen. Er sieht den „Westen“ noch weitgehend so, wie Marx und Lenin den Kapitalismus und Imperialismus beschrieben haben. Man muß ihn oder seine Nachfolger davon überzeugen, daß die Welt inzwischen weitergegangen ist. Auch die westliche.

Aber: Ist ein Mao überhaupt durch eine rationale Politik ansprechbar? Stoßen wir hier nicht auf ein völlig Fremdes, auf das ganz andere, auf etwas Irrationales, Unberechenbares, dem mit Vernunft schlechthin nicht beizukommen ist? Nun — wer die Schriften und Taten Maos etwas studiert, der gewinnt überraschenderweise recht bald ein recht eindeutiges Bild vom Glauben und Wollen dieses Herrschers über das größte Volk der Welt.

Zunächst fallen einem drei Grundkomponenten seines Wesens auf: Mao ist ein chinesischer Nationalist, ein militärisch erfahrener Revolutionär, der 25 Jahre seines Lebens mit Kriegführen verbrachte, und ein überzeugter Marxist- Leninist mit gewissen chinesischen Abweichungen. Keine dieser drei Komponenten kann nichtig gewürdigt werden ohne Berücksichtigung der beiden anderen.

Mao ist als junger Mann ausgezogen, mit einer Handvoll Menschen das Riesenreich China zu erobern — und er hat es erobert und in ein kommunistisches Reich verwandelt. Nicht mit modernen Waffen, ohne ausländische Unterstützung, gegen weit überlegene, modern ausgerüstete, vom Ausland großzügig unterstützte Armeen. Schon zehn Jahre vor seinem Sieg hatte er geschrieben, der entscheidende Faktor im Kriege sei der Mensch, nicht die Waffe, und drei Jahre vor seinem Siege — im selben Jahre, als Stalin ihm den Rat gab, seine Truppen aufzulösen und in Tschiangkai- scheks Regierung einzutreten — erklärte er in dem berühmten Inter- view mit der Amerikanerin Anna Louise Strong, er und seine Leute besäßen zwar nur Hirse und Gewehre, aber die Geschichte werde beweisen, daß diese stärker seien als Tschiangkaischeks Tanks und Flugzeuge. Die Geschichte hat es bewiesen.

Wieso waren Hirse und Gewehre, und das heißt die Menschen, stärker als Tanks und Flugzeuge, und das heißt die Waffen? Die Antwort auf diese Frage erteilt der Marxist Mao: Weil Tschiangkaischek die Reaktion vertrat, die geschichtlich zum Untergang bestimmt ist, und er, Mao, den Fortschritt, der notwendig immer siegen wird. „Alle Reaktionäre sind Papiertiger“, erklärte Mao schon 1946, und zu diesen Papiertigern zählte er sogar einen Adolf Hitler. Was nützten Tschiangkaischek seine riesige Überlegenheit und die modernen amerikanischen Waffen? Nichts, denn er war ein Reaktionär und als solcher korrupt, und dank der Korruption breiteten sich in seinen Reihen Defaitismus und Demoralisation aus, und die amerikanischen Waffen landeten schließlich — bei den Truppen Maos.

So sehr nun Mao als Marxist — und er ist vielleicht einer der letzten wirklich gläubigen Marxisten — vom notwendigen Untergang aller „Reaktion“ und vom notwendigen Sieg des Kommunismus überzeugt ist, so ist er gleichzeitig doch auch Leninist genug, um daran zu glauben, daß der imperialistische „Papiertiger“ Amerika kurz vor seinem Verenden noch versuchen werde, einen dritten Weltkrieg zu provozieren. Das widerspricht seiner Papiertigertheorie nicht, denn als Marxist denkt Mao dialektisch, und als militärischer Führer hat er gelernt, zwischen Strategie und Taktik zu unterscheiden. In dieser Dialektik von Strategie und Taktik liegt der Schlüssel zum Verständnis von Maos Politik (auch Moskau gegenüber!);

Auf lange Sicht und strategisch gesehen sind die Imperialisten Papiertiger, und ihr Untergang ist sicher. Auf kurze Sicht und taktisch gesehen jedoch sind sie sehr lebendige Tiger, die Menschen fressen können, und deshalb ist entsprechende Vorsicht geboten. Von hier aus wird auch verständlicher, was Mao wirklich meinte, als er auch die Atombombe als einen Papiertiger bezeichnete. Er sagte damals, daß nach seiner Ansicht auch die Atombombe nichts am Primat des Menschen vor den Waffen ändere und auch ein Nuklearkrieg letztlich durch das Volk und nicht durch die Bombe entschieden werde. Aber er ließ gleichzeitig erkennen, daß er sich der grauenhaften unmittelbaren Folgen eines Atomkrieges durchaus bewußt war. Die Atombombe ist also auch für ihn nur strategisch ein Papiertiger, taktisch aber ebenfalls ein äußerst gefährliches Raubtier.

Der beste westliche Rotchina- Kenner, der Amerikaner Edgar Snow, meint, es bestehe kaum ein Zweifel darüber, daß Mao einen Krieg vermeiden wolle, denn er sei nicht verrückt. Hinzu kommt, daß Mao ein äußerst vorsichtiger militärischer Taktiker ist. Er stellte die Theorie auf, man dürfe nie losschlagen, solange man — taktisch — nicht eine zehnfache Übermacht habe. Auch dürfe man nie versuchen, einen Feind auf einmal zu schlagen, sondern müsse seine Macht Schritt für Schritt brechen. Seine Taktik im chinesisch-indischen Grenzkonflikt und kürzlich während des amerikanisch-nordvietnamesischen Zusammenstoßes in der Bucht von Tonkin bestätigen, daß er vermeiden will, die USA zu einer Aktion gegen China zu provozieren.

Aber Mao ist nach wie vor ein marxistischer Revolutionär, dessen letztes Ziel die Weltrevolution ist. Ein weiterer theoretischer Grundsatz Maos lautet, dem Feind hart auf den Fersen zu bleiben, wenn ersich zurückzieht. Das entscheidende weltpolitische Ereignis unserer Zeit ist für ihn der Rückzug der Kolonialmächte aus ihren Kolonien. Also gibt es keinen günstigeren Ansatzpunkt, die Weltrevolution voranzutreiben, als die ehemaligen Kolonien und die dritte Welt der „Armen“. Während Chruschtschow fürchtet, ein aggressives kommunistisches Vorgehen in den ehemaligen Kolonien — Vietnam zum Beispiel — könnte zu einem Kriege mit Amerika und schließlich zum Atombombenkrieg führen, glaubt Mao im Gegenteil, hier könne die Weltrevolution gefördert werden, ohne daß man — bei entsprechender Vorsicht — das Risiko eines großen Krieges einzugehen . brauche. Von Chruschtschow aus gesehen, ist Mao ein gefährlicher Abenteurer, von Mao aus gesehen ist Chruschtschow ein Verräter an der Weltrevolution — „ein reicher Bauer, der auf einer H-Bombe reitet“, wie Snow die Meinung Maos von Chruschtschow interpretiert.

Aber wer könnte bezweifeln, daß Maos revolutionäre Taktik, auch wenn er gewillt ist, einen dritten Weltkrieg zu vermeiden, zumindest eine potentielle Gefahr für den Weltfrieden darstellt? Eine kleine Fehlkalkulation oder Fehldisposition in Vietnam, eine nervöse Reaktion der Amerikaner — es braucht so wenig, um ein Feuer zu entfachen, wo trockener Zunder haufenweise herumliegt. Das ungelöste Spannungsverhältnis Peking-Washington enthält eine für die Welt potentiell selbstmörderische Komponente. Sollte Präsident Johnson im November mit überwältigender Mehrheit gewählt werden, würde er über die nötige Macht verfügen, den für das amerikanische Selbstbewußtsein so schmerzlichen Schritt zu wagen, eine neue China-Politik zu entwerfen. Es wäre wohl die dringendste außenpolitische Aufgabe der neuen Administration.

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