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Ideologische Gleichgewichtsschaukel …

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Als 1948 Jugoslawiens Staatsführer Tito gegen Stalin aufbegehrte und mit dem Kreml brach, folgte die damalige Jugend der freiwilligen Eisenbahnbauten der Marschrichtung erfahrener Partisanen. Spätestens 1950 wurden die jugendlichen Aktivisten in sämtlichen Volksdemokratien der Altmetallund Hademsammlungen überdrüssig, obgleich man ihnen erzählte, das Auswendigbüffeln der Doktrin, todlangweilige Heimabende und Tiraden der Chefs seien die geradlinige Fortsetzung der sowjetischen Komsomolzenüberlieferung, des Spanienkrieges, des Widerstandes gegen Hitler. Aber siehe da, im Oktober 1956 demonstrierten Jungarbeiter und Studenten, schwammen nicht mit dem stalinistischen Strom, sondern stemmten sich dagegen. Seit damals wurde die politisch bewußte Jugend der Hoch- und Mittelschulen zum ;,Katalysator“ der Revolte oder auch des wahrhaft revolutionären Aufbruchs. 1968 erlebte man es in Paris, Prag oder auch Belgrad. Nicht irgendwelche ehemalige Gutsbesitzer oder entmachtete Reaktionäre der Vergangenheit begehrten auf, sondern die große Hoffnung, der Nachwuchs aus den Schulungslagem, Parteihochschulen, Universitäten und Kunstakademien.

Was sagt nun Moskau zu den jugendlichen Äußerungen in den Volksdemokratien Europas, über Generationswechsel — Klassenkampf, Nationalismus — Internationalismus, Trotzkismus — Leninismus usw.?

Am 30. Mai 1968 polemisierte der bekannte sowjetische Kommentator Jurij Zukov in der Moskauer „Prawda“ gegen den Protagonisten der rebellischen Jugend Herbert Marcuseund gegen den bundesdeutschen Studentenrebellen in Paris, Daniel Cohn-Bendit. Zukovs Angriffe richteten sich vornehmlich gegen die Behauptung Marcuses, wonach die in das kapitalistische System integrierte Arbeiterschaft nicht mehr imstande sei, jene revolutionäre Funktion auszuüben, die ihr Marx zugeschrieben hatte, da nur jene Kräfte eine Gefahr für den Kapitalismus bedeuten, die sich außerhalb dieses Systems befinden: Die dritte Welt, die Neger in den USA — und die Jugend. Marcuse setze an die Stelle des Klassenkampfes den Konflikt der Generationen „und schmeichelt der Studentenschaft, indem er behauptet, daß sie die wichtigste revolutionäre Kraft“ darstelle. Marcuse wolle nicht bloß den Kapitalismus, sondern jede Industriegesellschaft schlechthin bekämpfen, alle Elemente dieser Gesellschaftsform, einschließlich der kommunistischen Parteien. Dieser Ideologe der globalen Verneinung und der studentischen Rebellion gegen alles behaupte überdies, „daß Revolution nicht ,organisiert1, sondern spontan eingesetzt und durch ein Häuflein Intellektueller vorangetragen werde“. Zukov erinnert an Marcuses programmatisches Wort in der Sorbonne: „… Wir wollen eine neue und originelle Welt. Wir wenden uns von einer Welt ab, in der die ÜberZeugung erworben wird, daß man nicht vor Hunger stirbt im Tausch für das Risiko, vor Langeweile zu sterben.“

Am abgründigsten aber wirkt in der „Prawda“ die Wiedergabe eines Interviews der französischen Tageszeitung „Le Combat“ mit zwei nichtgenannten Gesinnungsgenossen von Cohn-Bendit: I. S. und P. B. In diesem sehr freimütigen Interview erklärt P. B., daß sich „in der ganzen Geschichte der Bundesrepublik die Arbeiterklasse mit dem bürgerlichen System identifiziere“ und daß „bei Euch“ in Frankreich die Arbeiter „auch nichts tun“. I. S. fügte hinzu, daß „die Arbeiterklasse dermaßen befriedigt ist, daß sie das bestehende System nicht kritisieren kann“. Der Korrespondent fragte nun: „Haben die Studenten selbst ein Bewußtsein?“ S. P.:'„Ja, denn sie gehören zu einer privilegierten Gruppe. Revolutionäre Themen werden in privilegierten Gruppen behandelt, in den sogenannten ,Mar- cuse-Gruppen‘.“

Berufung durch Bildung

Dieses Gefühl der besonderen Verantwortung, später mehr der Berufung oder „selbstverständlicher“ Vorrechte, ist nun zweifellos nur ein anderer Ausdruck für die „neue Klasse“ in Osteuropa. Nach 1917

waren die überzeugten und gläubigen Kommunisten stets darauf bedacht, dem Bildungsprozeß einer neuen exklusiven Führungsschichte entgegenzuwirken. Immer wieder wurde seither mit Nachdruck betont, daß die Proletarier, die Industriearbeiter für einen Umsturz, für eine revolutionäre Führung die entscheidende Kraft seien. Das galt und gilt für industrielle Gründerzeiten einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft. Mao Tse-tung wiederum machte die Bauern als revolutionäre Kräfte in den überseeischen Entwicklungsländern salonfähig. Be merkenswerterweise vollzog sich in Jugoslawien bereits zwischen 1919 und 1922 ein erster Widerstreit zwischen jungen Parteiintellektuellen einerseits, werktätiger Jugend anderseits. 1919 gründete man in der Belgrader Universität einen Verband der kommunistischen Jugend, SKOJ, um dann 1922 das zahlenmäßige Überwiegen der Studenten durch die Gründung eines „Bundes der Arbeiterjugend“, SROJ, wettzumachen. Nach dem Verbotsjahr 1924 blieb der SKOJ übrig und wuchs schließlich in das ZK der KP Jugoslawiens hinein. Damals wie heute aber läßt sich (bei aller Gegensätzlichkeit des Führungssystems) beobachten, wie die Erwachsenen bemüht sind, der studierenden Jugend materielle Zugeständnisse zu machen, um die Unzufriedenheit der Herzen zu dämpfen. Man kann nicht bloß von den Studenten Jugoslawiens behaupten, daß sie — ähnlich der Nach- krnegsjugend in Westeuropa und in den USA — innerhalb der jeweils bestehenden Gesellschaftsordnung jede denkbare Förderung, Nachsicht und Hilfe von Partei und Staat genießen. Student sein ist im Westen und Osten ein Privileg. Es gibt heute weithin keinen exklusiven Bildungsweg mehr, wohl aber das im Pariser „Combat“ zitierte Bewußtsein der Berufung, der Mitbestimmung — auf Grund der Bildung und Ausbildung für den leitenden Nachwuchs in Politik, Wirtschaft, Kultur.

Die Einhaltung des ideologischen Gleichgewichts, der gebahnten Mitte zwischen den Extremen, gebietet aber nicht bloß die Verketzerung und Abwehr des „kleinbürgerlichanarchistischen Individualismus“, sondern ebenso eine entschlossene Bekämpfung des maoistischen „Trotzkismus“ und „Kasemenkom- munismus“. Es geht insbesondere um die jungen „Chinesen“ innerhalb der gesamten kommunistischen Weltbewegung, untergründig auch innerhalb des Sowjetblocks. Dazu kann man in der Sowjetliteratur nachlesen, Mao behaupte „als Fürsprecher der IV. Internationale und der Trotzkisten“, daß „die Krise, die heute die Menschheit durchlebt, im Grunde eine Krise der revolutionären Führung“ sei. Die Maoisten wollten dabei unerläßliche Phasen der Revolution „überspringen“, obwohl doch Lenin z. B. das Ignorieren der demokratischen Etappe der Revolution „theoretisch eine Karikatur auf den Marxismus“ genannt habe. (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. XI, Seite 102, russ.) Moskau weiß über die Revolutionstheorie Bescheid: Bürgerliche Revolution, bürgerlichnationale Revolution, demokratischnationale Revolution, sozialistische Revolution — dann erst die Revolution, der Aufbau des vollendeten Kommunismus mit der klassenlosen Menschheitsgesellschaft, mit dem einsprachigen Weltvolk!

Die „Kulturrevolution“, der „Personenkult“, die Zeitlosigkeit der „Gruppe um Mao“ stören die Sowjetideologen. Die Polemik bemächtigt sieh auch zufälliger Aussprüche des chinesischen Führers und Abgottes. Ende 1967 etwa erwähnte der Moskauer Gesellschaftswissenschaftler B. M. Lejbzon eine gesprächsweise Äußerung Mao Tse-tungs gegenüber Studenten im Jahre 1964, um Mao und seiner „Kulturrevolution“ eine gewisse Bildungsfeindlichkeit zu testieren: „Der Lehrkurs der Wissenschaften könnte um die Hälfte gekürzt werden. Konfuzius lehrte insgesamt nur sechs Künste: Zeremonienkunde, Musik, Bogenschießen, Wagenführen, Heilige Schriften und Arithmetik!… Nimmt man sich in der Geschichte Menschen vor, die sich durch wissenschaftliche Kenntnisse auszeichneten, so gibt es unter ihnen keine hervorragenden Aktivisten… In der Minh-Dynastie gingen die Dinge gut bloß unter zwei Kaisern — Taj Tsu und Tschen Tsu. Der eine kannte überhaupt keine Schriftzeichen, der andere konnte nur wenig lesen… Wer also viele Bücher durchackert, wird darüber nicht zum Imperator.“

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