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Geht die Revolution weiter?

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„Ich glaube, daß die neuen Männer nur deshalb exaltiert erscheinen, weil die alten verbraucht sind. Ich bin überzeugt, daß nur die jungen Leute das nötige Feuer haben, um eine Revolution durchzuführen.“ An dieses Vokabular aus der großen Französischen Revolution wird man erinnert, wenn man die heutige Zeit betrachtet.

Anfänglich schien es, als würde die Einstellung dieser jungen „Generation ohne Engagement“ der marxistischen Anschauungen recht geben, wonach die Intelligenz immer im Gefolge der wirtschaftlich herrschenden Klasse segelt. Aber bereits auf dem Höhepunkt der Entwicklung im „Wirtschaftswunder“ erinnerte man sich dessen, was der Österreicher Josef Schumpeter vorhergesagt hatte. Schumpeter, Nationalökonom, 1919 Leiter des Finanzressorts unter Karl Renner, Verfechter des Grundsatzes „Krone ist Krone“ in der Inflation, drohte der kapitalistischen Ordnung, sie werde auf die Dauer nicht imstande sein, ihren „intellektuellen Sektor erfolgreich zu kontrollieren“. Als die Studenten in den Sechziger Jahren anfingen, zu revoltieren und auch in den bereits arrivierten Bildungseliten gewisse Gruppen der Hochschullehrer, Künstler und Theologen nach links abrückten, schien Schumpeters Prophezeiung in Erfüllung zu gehen. Letzten Endes bekam aber weder Schumpeter noch Marx recht. Denn nicht nur die kapitalistische Ordnung ist jetzt daran, die Kontrolle über den intellektuellen Sektor vielfach einzubüßen; dasselbe widerfährt auch dem Sozialismus, und zwar dem demokratischen (Berlin, London) ebenso wie dem totalitären (Warschau, Prag). In der Bundesrepublik Deutschland gingen nacheinander der SPD und der FDP die Parteiformationen für die Studenten nach links durch. 1970 schwimmt die junge Intelligenz nicht im Kielwasser einer .herrschenden Klasse“; sie begehrt auf, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Regierungschef im Lande ein Sozialist, ein Liberaler, ein christlicher Demokrat oder ein Technokrat ist.

Jetzt, da das „Generationenproblem“ den politischen Parteien, in Österreich der ÖVP und der SPÖ, weiterhin zu schaffen macht, gehen die ab, die zwischen 1950 und 1960 die „Jugend ohne Engagement“ gebildet haben. Wieder einmal sieht es so aus, als würde die politische Hinterlassenschaft der Großväter unmittelbar an die Enkel fallen. Die Großväter, das sind die inzwischen alt gewordenen Angehörigen der „Generation der politischen Jugend“ (Helmut Schelsky) aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg; ihr früherer Hang zu politischem Radikalismus (heute Rest ihrer „unbewältigten Vergangenheit“) ist nur ein Stück der Ähnlichkeit, in der sich die Enkel und die Großväter gleichen. Allerdings: Es ist eine seitenverkehrte Ähnlichkeit. Uberholte damals eine radikale Jugend rechts, dann findet jetzt das Uberholmanöver der jungen Intellektuellen auf der äußersten Linken statt. Wer sind diese Jungen?

Zunächst: Es sind junge Menschen um die zwanzig. Jungwähler, denen man zum Beispiel im benachbarten Bayern das aktive Wahlrecht ab dem 18. Lebensjahr geben möchte; Aktivisten, denen das Wahlrecht die Chance einräumt, Abgeordneter zu werden, bevor ihre Jugend zuende ist. Nicht die Alten, denen die medizinische Wissenschaft und der Sozialstaat zu einem „dritten Lebensalter“ verhelfen, bekommen mehr vom Leben, sondern die Jungen.

Noch sind in den nach traditionellen Vorstellungen aufgezogenen Parteiveranstaltungen die Alten und nur spärlich die Jungen anzutreffen. Aber die Jungen geben sich nicht die Mühe, solche Veranstaltungen unter ihre Kontrolle zu bekommen oder sie zu stören (wie es ihre Großväter taten); die Jungen meinen, daß diese „alten Fregatten“ in dem abgesenkten Wasserstand der heutigen Demokratie des Parteienstaates ohnedies nicht mehr flottzukriegen sind; den Rest wird die Revolution „fertig machen“. Gestützt auf eine fast krisensichere Versorgung in der von der Elterngeneration hergestellten

Wohlstandsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat, „riskieren“ die jungen Intellektuellen die Revolution.

Nicht die „g'studierten“ Kinder der unteren Schichten und noch weniger diese selbst gehen auf die Barrikaden. Zwar gibt es auch nach dem Wirtschaftswunder nicht wenige arme Leute; aber Revolution machen die Söhne und Töchter aus den oberen Schichten der Bevökerung. Diese ziehen zum Teil die Nachkommen der Kleinbürger hinter sich her und lassen sie als unbeteiligte Zuschauer am Rande des Geschehens Zeugen der derben Provokationen und der revolutionären Attacken sein.

Zuerst sind es alte Jahrgänge, Veteranen der Revolution von 1917/18, gewesen, die die Revolution, die damals so bald abgesetzt wurde, mit den Enkeln einstudierten, um das Stück noch einmal auf die Bühne der Weltgeschichte zu bringen: Ernst Fischer, geb. 1899, Herbert Marcuse, geb. 1998, Ernst Bloch, geb. 1885, Georg von Lukäcs, geb. 1885. Die Revolution von 1970 hat dieselbe Handlung, wie sie in den alten Textbüchern mit den alten Regieanweisungen steht:

Statt der Parlamentarischen Demokratie der Liberalen und Sozialdemokraten das Rätesystem der heutigen APO, der außerparlamentarischen Opposition. Statt des im Kapitalismus entwickelten Industrie-systems die Vernichtung des Kapitalismus, auch des Staatskapitalismus. Und statt einer Reform der Gesellschaft deren Zerstörung. Es gibt kein Programm für „nachher“; die Überlebenden werden es erleben; zuerst muß „die Macht in andere Hände kommen“.

Nicht die Hungernden begehren in Europa auf. Wo es an diesem „inneren Proletariar“ und seinen Willen, Revolution zu machen, fehlt, muß der Hunger des „äußeren Proletariats“ und der Vorwurf aus asozialen Verhältnissen in Lateinamerika, Afrika und Asien herhalten, damit die Revolution der Kinder der Wohlstandsbürger die Treibladung bekommt. Wie vor der großen Französischen Revolution ihre Regisseure, der Herzog von Orleans, der Advokat Robespierre und der massige Danton, niemals gehungert haben, wie während der russischen Revolution Lenin mit dem Geld, das seine Mutter aus ihrem Erbteil erwirtschaftete, überdauern konnte, so tummeln sich die Revolutionäre von 1970 über dem Sicherheitsnetz, das die Wohlstandsgesellschaft über Abgründe der krassen Armut und über die gefährlichen Existenzbedrohungen spannt. Daniel Cohn-Bendit landete bei der Produktion von Wildwestfilmen; Fritz Teufel macht sich an die Produktion der Ramschware der Pop-Konfektion; Karl-Dieter Wolf (Führer des SDS) arbeitet in der Stille eines Verlagslektorats, Wolfgang Lefevre steigt ins normale Abschlußexamen.

An all dem und an vielem anderen ist sowenig Neues dran wie an jeder Revolution, die nach 1789 gemacht wurde. Auch die glücklichen Überdauerer unter den Revolutionären von 1789 endeten nicht in der „zweiten Welle des Aufstands“, sondern meistens in der lebensrettenden Restauration, die ihnen, außer Brot, vor allem eine Chance gab: die Chance, weiter zu leben.

Hundert Jahre nach der Pariser Kommune exemplifiziert sie sich nicht nur in den aggressiven Akten der bewaffneten Kampfformationen, die den Staat angreifen und die Universität zum Tempel ihrer Ideologie und zum Arsenal ihrer Resistance machen. Auch sind nicht alle Helden so müde geworden wie Cohn-Bendit. Schon tauchen viele von ihnen, merklich ernüchtert, in Formationen aller politischen Parteien auf. In der BRD stärken sie den linken Flügel der SPD, der FDP und auch der christlichen Parteien, wo sie kaltkaltblütig ihre im Anschluß an Marx entwickelten Ansichten über Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verbreiten. Was an der Oberfläche wie ein „Kampf um den Proporz der Generationen“ ausschaut, ist in Wirklichkeit ein Austausch der Substanz der Parteien. Es geht beim Umfunktionieren nicht um den „jungen Wein“ in „alten Schläuchen“; es geht um einen anderen Wein in anderen Schläuchen. Welch politische Partei von heute, welch andere Formation des gesellschaftlichen Lebens könnte nach den Erfahrungen mit der jungen „Generation ohne Engagement“ auf diesen Typus, auf diese Mentalität auf das Renommee der Fortschrittlichkeit einfach verzichten? Da meistens eine grundsätzliche Alternative zum „Progress der Revolutionäre“ und zur „Neuen Linken“ fehlt, werden die Revolutionäre, so wie sie sind, an Bord genommen; in der Hoffnung, daß sie nicht an das Steuer des Schiffes herankommen oder gar in die Kapitänskajüte eindringen werden. Denn: Warum sollte gerade diese Generation der jungen Aufruhrer nicht auehi mit der Zeit „mehr Verstand bekommen“; weniger Herz, mehr Hirn? Nicht nur die Revolution geht weiter. Es geht auch das weiter, was man altvaterisch die „Entidecdogisie-rung“ nennt, das Entstehen von Leerräumen, in welche die Revolution vorprellen kann, ohne auf Ideen, Methoden und Typen zu stossen, die als Alternativen haltbar sind. Deswegen werden sich die Gegner der Revolution entscheiden müssen und erklären, was sie sind; und nicht beteuern, was sie nicht sein möchten.

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