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Ein Frühlingssturm weht durch Europa

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Sie haben es nicht vorausgesehen: Soziologen, Politologen und politische Psychologen in Europa stehen vor dem Rätsel eines Ausbruches eruptiver politischer Leidenschaften, die nicht in das Schema geläufiger Klassifizierung passen. Drängt eine historische und geistige Konsequenz zum Sturm der Bastille mit der Forderung nach Aufklärung und Mitsprache des liberalen Bürgertums, führt ein klarer Weg durch den muffigen Polizeistaat des Vormärz zur Revolution des Jahres 1848 und war der Sturz des Zaren 1917, die Revolutionen in Berlin, Wien und Budapest 1918 mit der Ausrufung von Republiken letzte Folge des Machtantritts des vergessenen Proletariats — die Studenten des Jahres 1968 artikulieren nicht ihr Ziel und zeigen nicht ihre geistigen Väter an. So steht ein hilfloses „Establishment“ hochzivilisierter, durchorganisierter Staaten, Trüpp- chen und Häufchen von aktiven Agitatoren gegenüber, ohne zu wissen, was diese denn nun eigentlich vom verachteten „Establishment“ erwarten und verlangen.

Ist dieser neue „Revolutions- armismus“ etwa nur zum System erhobene Provokation? Oder nur Ventil für gesellschaftlichen Masochismus?

Man muß den Trägern der europäischen Revolution 1968 bescheinigen, daß sie ihren Mao, Che Guevara und Marcusegelesen haben — und daß ihre soziologischen Analysen auch Ordinarien verblüffen.

Man könnte sagen, daß die Revolution wahrscheinlich der letzte große Aufstand der Ideologie gegen Technokratie und Rationalismus der hochindustrialisierten Arbeitswelt im 20. Jahrhundert ist. Die kalten Rechner, Planer und Kalkulatoren haben die Ideologie ins Ausgedinge geschickt, weil sie ihre Entscheidungen in immer komplizierter werdenden gesellschaftlichen Apparaten wertfrei treffen wollen. Währungsprobleme, industrielle Standortfragen und Ausbildungsmaximen für Studenten gestatten nicht das Studium in alten Büchern, in denen Ideologie zur Steuerung der nationalen und internationalen Beziehungen angeboten wird.

So ist der Ausbruch der intellektuellen Jugend weder auf dem christlich-demokratischen Westen noch auf den marxistischen Osten zu lokalisieren.

Was an Erkenntnis bleibt, ist die Tatsache, daß junge Menschen nach Vorbildern und Weltbildern suchen, die ihnen nur Ideologien zu bieten wissen. Und daß sie angesichts der Abgegriffenheit traditioneller, vom „Establishment“ als Legitimation empfundener Traditionsideologien zu ihren Roten Bibeln greifen, sollte nicht wundern.

Wird also die große Autonomie der Zukunft zwischen suchenden, ideologieverhafteten Intellektuellen und rationalistischen, wertungebundenen Technokraten liegen?

Trotzdem scheinen angesichts von regionalen und nationalen demokratischen Wahlgängen neue Perspektiven der Innenpolitik der europäischen Länder offensichtlich.

Italiens Ergebnis zeigt einmal mehr, daß die extreme Linke Zulauf aus jenen Reihen erhält, die vom neuen Schwung agitatorisch mitgerissen sind. Auch in Skandinavien werden jene Gruppen, die den Traditionsmarxismus links überholen, bis zu noch unbekannter Größe interessant. Nur in Deutschland kann die heimatlose Linke ihre Stärke nicht im Wahllokal beweisen. Denn in der Bundesrepublik geht jetzt der Same auf, den eine unglaubwürdig gewordene Doktrin gegen den Kommunismus gelegt hat. So hat Westdeutschland seine dunkelroten Marxisten — zwar nicht in den Parlamenten, dafür aber auf den Straßen. Und der Zwerg kann riesig erscheinen, wenn man ihn mit Lautsprechern hört, jedoch in seiner Winzigkeit nicht sieht.

Breite Massen der europäischen Menschen suchen Sicherheit in den großen Sammelbecken der bürgerlichen Parteien. Sie halten die Bürgerlichen, Konservativen und Christdemokraten für stark į genug, mit dem Barrikade, ,'puk Schluß zu machen. Kiesingers CDU brachte aus Baden-Württemberg ebenso eine gute Wählerernte ein wie Moros Christliche Demokraten.

Und daneben dürfte noch auf den Trümmern der Universitätsstädte die extreme Rechte Erfolge verbuchen. Deutschlands NPD ist ein Alarmzeichen; und die extreme Linke nährt am Busen auch die extreme Rechte. Europas tragische Verlierer der Revolution 68 sind die demokratischen Sozialisten. Unter dem Druck von links stellt sich ihnen die Gretchenfrage: Wie hältst du's mit dem Marxismus?

Und ihre Regierungspartner oder Bundesgenossen fragen: Wie hältst du’s mit der ehrlichen Mitarbeit im gemütlichen, einträglichen Establishment?

Im „Reich der Dämonen“ sagt Frank Thiess, daß „dem Menschen nichts soviel Vergnügen macht wie der Rückfall in Barbarei“.

So wird die Frage nach der Zukunft der Demokratie zur Entscheidungsfrage des heißen Frühlings 1968. Die rebellische Jugend hält nichts von den kanalisierten Verfassungen, die Ruhe zur ersten Bürgerpflicht machen.

Aber die Frage nach der Brauchbarkeit und Funktionseignung der demokratischen Formen ist legitim und nicht nur studentisches, sondern grundsätzliches Anliegen aller Intellektuellen Europas. Bei aller Wirrheit der Aussage sollte ein vorhandener guter Wille den jungen Studenten nicht abgesprochen werden — und der positive Kern der gesellschaftlichen Reform Anerkennung finden.

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