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Für eine kritisch- nüchterne Ostpolitik

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Wolfgang Leonhard trägt in seinem neuen Werk der Müdigkeit oder dem Überdruß gegenüber dem so wichtigen wie wenig anziehenden Gegenstand, der kommunistischen Ideologie, dadurch Rechnung, daß er seine Kenntnisse im Dialog, in Antwort auf Fragen von Hans-Wolfgang Krohn vom Sender Freies Berlin mitteilt (Basis des Buches ist einė Sendereihe), in der Art eines Katechismus oder kurzen Lehrgangs, mit dem das Nötige knapp und allgemein verständlich abgehandelt wird. Das Thema ist weit gefächert. Auf einen historischen Abriß (von Marx und Engels über Lenin, Stalin, Chruschtschow bis Breschnjew), folgt eine Skizze des heutigen sowjetischen Marxismus-Lenismus; an die Erörterung der sowjetischen Außen-, speziell der Europapolitik schließt sich ein Überblick über die heutigen Strömungen im Weltkommunismus, der Leonhard Gelegenheit gibt, seine Sympathien für Reformer und Euro- Autonomisten zu bekunden (charakterisiert werden das jugoslawische Modell, der Prager Frühling, Maoismus und Trotzkismus, „Eurokommunismus“ und kommunistische Strömungen und Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland). Das neueste hölzerne Eisen wird wie folgt angeboten: „So zeichnet sich durchaus die Möglichkeit eines europäischeren, offeneren Kommunismus ab, der sich auf die demokratischen Traditionen der eigenen Länder stützt, die sozialistische Umgestaltung auf demokratischem Wege und in einem wirklichen, gleichberechtigten Bündnis mit anderen fortschrittlichen Kräften zu verwirklichen sucht, wobei dieser neue Weg auch zu einem neuen Sozialismusmodell in Form eines pluralistischen demokratischen Sozialismus führen kann, der die demokratischen Freiheiten der Bürger garantiert“ (S. 206).

Zwingt nicht-„fortschrittliche“ Kräfte raus - aber wie? Und wer definiert sie? Und Kommunisten wirklich gleichberechtigt rein; wobei Freiheit und Demokratie erhalten bleiben können (!) Wie äußerte sich Manuel Azcärate, einer der spanischen KP- Führer, über Moskaus Reaktion auf Carrillos Buch? Es wäre zum Lachen, wenn es nicht traurig wäre.

Die Schwierigkeiten, die sich für die kommunistischen Parteien sowohl aus dem Legitimationszwang durch die Grundorientierungen des Marxismus-Leninismus wie durch die realen Gegebenheiten und den allgemeinen Wandel der Dinge ergeben, sind lange schon evident. Die dabei unvermeidlichen Reibungs- und Abnutzungsprozesse und ihre Folgen haben, wie die „Kosten“ des offenbar beschwerlichen Verhältnisses von Theorie und Praxis überhaupt, zwar die Vorbehalte gegenüber dem Staatssozialismus im ganzen verstärkt, zugleich hat diese Entwicklung aber auch dazu beigetragen, die Wirksamkeit der offiziellen Ideologie in jeder Hinsicht immer geringer einzuschät- "zen. Das Unvermögen der Ämtsideo- logie, mit dem Wandel von Welt und Wissenschaft Schritt zu halten, ihre Selbstdiskreditierung durch untaugliche Anpassungsbehelfe, ihr Verschleiß im Streit der Gruppen, Personen, Bekenntnisse, Bewegungen, Bündnisse und Blöcke, die bessere Kenntnis ihres Zustandekommens und ihrer Geschichte - all das hat eine Bewertung der „Ideologieproduktion“ gefördert, die zu einem Entspannungsrealismus zu passen schien, der da meinte, auch auf der anderen Seite würde lebloser Ballast unschwer wegzuräumen sein, käme man ihr nur selber willig entgegen. Die Entdeckung der Hellseher, daß sich das Ermüden der Ideologie im Staatssozialismus, ihr langsames Sterben, vor aller Augen vollziehe und Osteuropa in die nachmarxistische Ära eingetreten sei, wurde mit dieser oder jener Formel gar rasch zu einem Gemeinplatz, der jeglicher weiterer Aufmerksamkeit und Anstrengung enthob. Der nicht unwesentliche Fehler solcher Empirie und ihres Wunschdenkens besteht nun freilich darin, die herrschende Ideologie, etwa der Sowjetunion, nur im engsten Rahmen des „Klassiker“- Erbes und der Partei-Orthodoxie wahrzunehmen (die eigenen Kenntnisse vom Marxismus-Leninismus der anderen Seite zu supponie- ren), nicht aber ihre Veränderung durch Ergänzungen, Assimilationen und Weiterbildungen im Behauptungskampf, in der Rundumverteidigung.

Daß Kommunismus nicht nur Sowjetmacht plus Elektrifizierung (des ganzen Landes) ist, lies Industrialisierung, Modernisierung und (ungestillter) Konsumhunger, merken die angeblich Gebildeten unter den Verächtern der Ideologie immer erst dann, wenn wieder einmal ein Glaubenskrieg unter den Rechtgläubigen ausgebrochen ist, wie zwischen Carrillo und dęr Moskauer Orthodoxie, wenn die letzten Dinge des Kommunismus abermals im Streit stehen. Daß die Ideologie von konstitutiver Präsenz für jeden Lebensbereich des jeweiligen Regimes ist, gleichviel, ob sie nun geglaubt und gern befolgt wird oder nicht, gleichviel, ob das den Menschen und ihrem Tun und Lassen bekommt - diese obstinate Wirksamkeit bringt auch das laute Schildeschlagen der’ Glaubenskämpfer nicht wieder in Erinnerung, für dessen Echo die Medien so dankbar sorgen.

Eben deshalb ist die unermüdliche Befassung mit den mehr oder minder wechselnden Inhalten der ideologischen Rüstkammern des Staatssozialismus und seiner brüderlichen Herausforderer, nach wie vor unerläßlich, wenn man gegenwärtige und künftige Vorgänge angemessen beurteilen will; wenngleich die Beobachtung,,dęr ideologischen Emanationen nicht auf diese beschränkt bleiben darf, sondern auf das Gesamtgeschehen auszurichten ist.

Leonhards „Schlußfolgerungen für die Beurteüung der aktuellen Sowjetpolitik“ enthalten ein Plädoyer für eine kritisch-nüchterne Ostpolitik. Der Anhang besteht aus einer Chronik wichtiger Ereignisse in der Geschichte des Kommunismus von 1842 bis 1976 auf 34 Seiten und aus 15 Seiten mit Literaturhinweisen.

WAS IST KOMMUNISMUS? Wand- lungen einer Ideologie. Von Wolfgang Leonhard. C. Bertelsmann Verlag, München, 1976, 270 Seiten, öS 154,—.

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