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An einen Kommunisten

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Lieber Freund! I

Ich habe in der letzten Zeit, anläßlich des 22. Parteitages der KPdSU, oft an Dich gedacht. Nein, ich habe nicht „triumphiert", und habe nicht die Absicht, zu sagen: „Hab’ ich nicht recht gehabt, als ich von der Partei wegging?“ Es hat mich eher traurig gestimmt, daß das Lügen auch jetzt noch weitergeht.

Sie machen Stalin jetzt zum Sündenbock für eine ganze Vergangenheit, die sie loswerden wollen. Freilich stand er an der Spitze und war sowohl die Verkörperung als auch der stärkste Motor der Partei. Aber wie hieß es in der Grußbotschaft des 14. Parteitags der KPÖ — einer Botschaft, die in etlichen Variationen auch von allen anderen kommunistischen Parteien an ihn gesandt wurde: „Wir grüßen den großen Mann, der die Kraft, die Idee und den Willen der internationalen Arbeiterklasse verkörpert, unseren großen Lehrer, den genialen Vollender des Werkes von Marx, Engels und Lenin, Genossen Stalin.“ Ja, er war die Verkörperung eines Prinzips, das sich jeder von uns und er am besten zu eigen gemacht hatte. Jeder in irgendeiner Funktion, jeder, der sich im Besitz des Mitgliedsbuchs befand, in dem noch immer das Stalinsche Zitat zu finden ist, das also beginnt: „Wir • Kommunisten sind ein besonderer Menschenschlag, wir sind aus einem besonderen Material gebaut…" Damit nahm er sich und nahmen auch wir uns das Recht, Millionen Menschen i h r Recht aufs Leben abzusprechen. Oh, es begann für jeden einmal sehr theoretisch und allgemein, es ging ja in Wirklichkeit nur um einen theoretischen Begriff, den ein gelehrter Herr mit Vollbart und Gehrock in einem Leseraum des Britischen Museums vor mehr als hundert Jahren formuliert hatte: Karl Marx. Die Einleitung zu seinem „Manifest“ hätte uns eigentlich argwöhnisch machen müssen: „ ᾠ ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus." Ein Gespenst, ein Schrecken. Wer darf anderen ein Schrecken sein? Wem wurde da aus der Seele gesprochen? Den ausgebeuteten Proletariern? Wollten sie das wirklich? Wußten sie nicht selber besser, daß sie keine Kategorien waren, daß nicht jeder von ihnen ein potentieller Ausbeuter ist, wenn ihm Macht gegeben ist? Von wievielen anderen Arten der Ausbeutung und Unterdrückung war in der politischen Ökonomie des Karl Marx nicht die Rede?

Damit begann eine Kette, in der Stalin nur ein Glied, wenn auch ein sehr mächtiges, gewesen war. Es war und ist der alte Llnfug: einen metaphysischen oder theoretischen Begriff so weit zu verdinglichen, bis reales Menschenblut aus ihm strömt.

Zeichen moralischer Stärke?

Nun geht die Kette weiter. Und alle, die sich mit Stalin schuldig gemacht und die von ihm ausgegebenen Direktiven ausgeführt und weitergegeben haben, „streifen" die Schuld „als bereits überwundene Methoden der Vergangenheit" ab. Sie, die stolz waren, daß ihr Wesen ein Reiser von Stalins Wesen war, das sie als den „Humanismus unserer Zeit“ verkündeten, sehen nun „in der entschlossenen Ausmerzung von Vorkommnissen, die dem Sozialismus zutiefst wesensfremd sind und geeignet waren, ihn zu diskreditieren, ein Zeichen großer moralischer Stärke“. (Der Vorsitzende der KPÖ.)

Welche Zeichen moralischer Stärke haben sie geliefert, als ihre Genossen in der Ljublianka verschwanden? Ja, welche Zeichen moralischer Stärke zeigen sie heute, da es doch naheläge, die Rehabilitierung der durch Stalin liquidierten österreichischen Kommunisten und Schutzbündler zu fordern und deren Schicksal ihren hiesigen Angehörigen bekanntzugeben — heute, da sich niemand mehr auf die Anwesenheit sowjetischer Truppen und Sicherheitsorgane ausreden kann?

Doch sie können immer und ewiglich nur empfangen und weitergeben, was ihnen von der in Rußland jeweils vorherrschenden Gruppierung an Parolen und Theorien übergeben wird. Der Generalsekretär der KPÖ, der noch auf dem 14. Parteitag der KPÖ als eines von Stalin Echos sagte, beim Übergang zum Sozialismus muß sich der Klassenkampf verschärfen, und dazu eine langgewundene theoretische Erklärung abgab, verkündet heute:

„Die allgemeine Politik in der Sowjetunion war auch früher richtig, aber gerade in der Stellung Stalins und in der Theorie, die er 1937 entwickelte, lag eine Wurzel der Fehler, nämlich in der Theorie von der ständigen Zuspitzung und Verschärfung der Gegensätze auch noch in einer Zeit, wo es keine Ausbeuterklassen in der Sowjetunion mehr gab ᾠ Auf der Grundlage dieser Theorie von der ewigen Verschärfung des Kampfes sind die Repressalien eingetreten, deren Opfer unschuldige Genossen wurdenᾠ" Man kann auch zum Opfer eines Echos werden.

Ebenso war er als Sekundant gegen Tito und Gomulka imstande, auf dem 14. Parteitag der KPÖ ein Lenin-Zitat zu liefern, mit dem bewiesen wurde, daß es keinen friedlichen Übergang zum Sozialismus (entsprechend den spezifischen Bedingungen in verschiedenen Ländern) geben könne, während er heute, Chruschtschows Erfordernissen entsprechend, sagt: „Schon Lenin hat von einer solchen Möglichkeit unter bestimmten Bedingungen gesprochen."

Dialektik? Ja, aber nicht eine, die von realen objektiven Voraussetzungen in der Entwicklung von Ländern bestimmt wird, sondern vom Wind, der aus Moskau bläst.

Der Mythos der Unfehlbarkeit blieb

Niemand soll verurteilt werden, weil er sich geirrt hat. Hier wird aber, obwohl der Mythos der Unfehlbarkeit mit der Demontage des Stalin-Mythos untergegangen ist, der Mythos von der Unfehlbarkeit des Prinzips, welches Stalin möglich machte, und damit auch die Position seiner Mitschuldigen aufrechterhalten. Doch auch jene ohne Positionen waren mitschuldig — wir alle. Möge keiner heute überrascht tun. Damals war es bloß keine Schuld, sondern richtig und Ehre und Prinzip. Keiner, der nicht im Tschekisten ein höheres Wesen gesehen hätte.

Das Seltsame an all dem ist, wie sehr eine Partei, welche den Histori-

zismus zu ihrem Banner erhoben hatte, in den akzidentellen und kriminalistischen Personalismus abgesunken ist. Die Auseinandersetzung Stalins mit Trotzki, Sinowjew, Kamenew und den anderen wurde damit abgeschlossen, daß diese zu Spionageagenten und niedrigstem Verbrechergesindel erklärt wurden. In Wirklichkeit aber hatte es sich um eine Auseinandersetzung zwischen drei historisch bedingten Prinzipien gehandelt. Das Regime Stalins hatte sich unter den Bedingungen der heutigen Periode national und international als unhaltbar und überlebt erwiesen. Dennoch waren die Nachfolger Stalins nicht imstande, es auf eine andere Weise loszuwerden, als indem sie Stalin ent- historisierten und ihm die nur zu symptomatischen, aber historisch notwendigen Begleiterscheinungen eines auf persönlichen Despotismus aufgebauten Regimes ankreideten.

Wirken für Österreich?

Die Frage ist nur, und jetzt komme ich wieder zu Dir, mein alter Genosse, was hat ein Österreicher und anständiger Mensch mit all dem noch zu schaffen?

Du meinst, es gäbe einiges in Österreich zu tun, all die Dinge, derenthalben wir seinerzeit der KP beigetreten waren? Ich bin auch der Meinung, daß viel zu tun ist. Ich glaube aber, daß die KP der letzte Ort ist, wo man erfolgreich für unser Land wirken kann. Und nicht wegen ihrer Kleinheit und ihres geringen Anhangs. Das würde mich nicht stören. Als wir ihr in den dreißiger Jahren beitraten, hatte sie, wenn ich nicht irre,

dreißigtausend Mitglieder in ganz Österreich und fünfundvierzigtausend Stimmen bei den Wahlen. Nur — damals haben wir im Kommunismus noch eine geistige Kraft erblickt. Wir ebenso wie viele von den Besten der radikalen Intelligenz: Gide, Barbusse, Rolland, Heinrich Mann, Feuchtwanger, Dreiser und viele andere. Und wir hatten noch den ganzen Glauben an die Mission dieser Partei in den herannahenden Katastrophen des Faschismus und des zweiten Weltkriegs. Was aber kann ein Kommunist heute noch von der Partei erwarten? Du meinst, das sei eine seltsame Frage in einer Zeit, in der der Kommunismus eine so große reale Macht geworden ist? Nicht der Kommunismus, sondern die Sowjetunion, und unter real ist nur zu verstehen, daß šie materielle und militärische Stärke besitzt. Aber materielle Stärke haben auch schon andere besessen.

Besser Zugluft als Zellenwände

Du sagst: Der Kommunismus ist nichtsdestoweniger ein Dorn im Fleisch des Kapitalismus, eine — wenn nicht anders — letzte Zuflucht der Arbeiter, wenn es wieder zu einer Krise kommen sollte.

Eine Zuflucht, von der alle — selbst Kommunisten — hoffen, daß sie ihnen erspart bleiben möge.

Du sagst: In Afrika, Asien und Lateinamerika denkt man nicht so. Aber auch dort erblickt man in den Kommunisten nur die materielle Kraft, und man steht ihnen wegen ihres Atheismus mißtrauisch gegenüber.

Du sagst: Mag sein, daß auch ich nicht mehr an die Partei glaube, aber ich glaube an den Kommunismus.

Wer tut das nicht! Auch wenn jeder einen anderen Namen dafür hat Lind daher bedarf man dafür jener Partei nicht mehr, die zufällig die kommunistische heißt.

Du sagst: Gar so zufällig ist das wohl nicht.

Doch. Auch wenn Chruschtschow auf dem 22. Parteitag davon gesprochen hat, daß man in der Sowjetunion dem Kommunismus entgegengehe, dann nähert man sich dort in Wirklichkeit nur den Fleischtöpfen des Westens. Man ist aber so schwer belastet mit den Vorzeichen der Despotie — der vorgestrigen, der Stalinschen und der heutigen —, daß der Westen schon jetzt einen kaum einholbaren Vorsprung auf allen Gebieten menschlicher und sozialer Freiheit besitzt.

Du sagst: Trotz des „Unbehagens in der Demokratie"? Und des geistigen Vakuums? ,

Ich sage: Manchem zieht es zu stark in unserer nach allen Seiten hin offenen Gesellschaft. Aber das ist immer noch besser, als von Zellenwänden umgeben zu sein.

Du fragst: Kannst du mir eine bessere Partei nennen?

Ich sage: Jede andere, weil sie ihren Mitgliedern nicht all das verspricht, was die kommunistische niemals einzulösen imstande war und sein wird. Jede andere, weil sie nicht, wie die kommunistische, jedes Mittel für ihren Zweck in Anspruch zu nehmen bereit ist. Jede andere, weil sie nicht — außer den faschistischen — den anderen Parteien und den anderen Menschen das’ Recht auf Existenz und Anderssein abspricht. Und wenn Dir keine von ihnen paßt, dann hast Du immer noch die Möglichkeit, eine eigene zu gründen — allerdings nicht dort, wo eine kommunistische regiert. Alle anderen Parteien sind besser, weil sie bereit sind, absolute ethische Werte ebenso anzuerkennen und zu respektieren, wie Geschichts- und Gesetzbücher und Kunstwerke, und weil sie sie nicht für ihren Tagesgebrauch ständig „relativieren“.

Du sagst: Die kommunistische Partei hat auch ihr eigenes Ethos, ihre eigenen Helden.

Ich sage: Sie hat das Ethos und die Helden bei jeder Wegbiegung abgewertet. Es kann gar nicht anders sein; nicht die Menschen — auch Stalin nicht — zwangen dazu, sondern das Prinzip.

Welches andere ich zu bieten habe? Es heißt: dem eigenen Gewissen zu folgen und nicht den Direktiven eines Politbüros.

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