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Die Welt ohne Fenster

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Die moderne Gesellschaft ist heute in großen Strukturwandlungen begriffen, vieles ist in Fluß, in den Malstrom der Zeit geraten: die Wanderungen von Völkern, Rassen Und Klassen bezeugen es auf ihre Weise ebenso wie die „friedlichen“ und kriegerischen Umschichtungen aller Art. Inmitten dieser vielfach noch nicht scharf akzentuierten, schwer durchsichtigen Erscheinungen ragt, ein düster-mächtiges Symbol neuer Gesellschaftsformen, ein Phänomen empor: l’univers concentrationnaire, wie es David Rousset genannt hat: die in sich geschlossene Welt der Konzentrationslager, eine gigantische Monade ohne Fenster, die heute wie gestern Millionen Menschen verzehrt und immer neue Opfer fordert und dergestalt diese unsere Welt im Gegensinn des Erfinders der Monadenlehre als schlimmste aller Welten erscheinen läßt. Ein Gegenkosmos, mit seinen eigenen Hierarchien, Stände- und Lebens-, Wert- und Wirtschaftsordnungen.

Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich eine Flut von Veröffentlichungen zunächst mit der deutschen Sonderfo'rm dieser neuen soziologischen Erscheinung befaßt. Eine Flut,

aus der wenige Publikationen von Rang hervorragen, so in Deutschland „Der SS-Staat" Eugen Kogons, in Frankreich die Werke etwa von Martin-Chauffier, Agnes Humbert, Jean Cayrol, Robert Antelme, Remy Roure, Claude Bourdet und, in der Analyse wohl am stärksten, David Rousset in seinen beiden Werken: „l’Univers concentrationnaire“ und „Le Jours de notre mort“. Um Entscheidendes vorwegzunehmen: der Ernst, der durch die Existenz riesiger KZs geschaffenen Situation scheint uns nicht so sehr durch die Tatsache ihres faktischen Bestehens gekennzeichnet als vielmehr durch jene andere, immer noch zu wenig beachtete, daß nämlich diese Institution von führenden Sprechern der sie schaffenden Systeme offen verteidigt und gerechtfertigt wird. Dies gilt sowohl für die deutsche wie auch für die an sich von dieser verschiedenen sowjetische Fassung. E s g i b t, so grotesk es im ersten Augenblick klingen mag, für den modernenatheistischen Menschen eine Versuchung des KZ.

In dem in die amtliche NS-Bibliographie aufgenommenen Werk Dr. Erich Gritzbachs „Hermann Göring, Werk und Mensch“ wird offiziell bestätigt, daß Göring sich der Einrichtung der KZs rühmte. Seiner Natur und seinem Temperament gemäß kämpfen in ihm zwei Motive um die Herrschaft: ein direkter Vernichtungswille und ein naivbarbarischer „Ordnungs-“ und „Erziehungswille“, der sich berechtigt glaubt, Menschen, die er für Verbrecher hält, in KZs zu liquidieren. Zwei Belege. In einer Rede vom 3. März 1933, die den Titel trägt:

„Wir tragen die Verantwortung", erklärt Göring: „Volksgenossen, meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristische Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendeine Bürokratie. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts." (Reden und Aufsätze, ed. Gritzbach, Zentralverlag der NSDAP, München 1942, S. 27.)

Zum anderen: In einer Rundfunkrede gegen die Vivisektion vom 28. August 1933 fordert Göring (ebenda S. 83/4)

„ein grundsätzliches entschiedenes Verbot der Vivisektion, ein Gebot nicht nur .der Tierliebe und der Rücksichtnahme auf die Schmerzen des Tieres, sondern auch der allgemeinen Menschlich keit. Nicht nur, um das Tier zu schützen, ist Tierschutz notwendig, sondern wir bekämpfen gleichzeitig unüberlegte Gleichgültigkeit, menschliche Roheit und Grausamkeit gegenüber dem Tier und seinen Schmerzen. Ich habe deshalb für Preußen das sofortige Verbot jeder Vivisektion ausgesprochen und sie unter Strafe gestellt, das heißt zunächst unter die Strafe, indas Konzentrationslager abgeführt zu werden..."

Dieses Bekenntnis zum KZ ist dann in den folgenden zwölf Jahren immer wieder von jenem Manne wiederholt worden, der die ersten Polizei- und Anhaltelager des Dritten Reiches zum KZ-Kosmos weiter entwickelte, zu jenem riesigen Komplex von Industrie- und Arbeitslagern, Menschexperimentierwerkstätten und Vernichtungslagern t Heinrich Himmler.

In unseren Tagen ruft nun David Rousset die ehemaligen Insassen der deutschen KZ auf, eine internationale Untersuchung der russischen Korrektions- und Arbeitslager zu fordern, wobei er erklärt: „Ich mache euch darauf aufmerksam, diese Welt der KZs ist kein Chagrinleder (unter Anspielung auf Balzacs berühmten Roman,

Anmerkung der Redaktion): fern davon, sich zusammenzuziehen, dehnt sie sich ohne Unterbrechung aus. Gestern kannte die Sowjetunion nur politische Internierungslager, es bedurfte des grausamen Bürgerkrieges der zwangsmäßigen Kollektivierung, um sie in dieses halluzinatorische Unternehmen zu treiben. Jetzt gibt es keinen einzigen wirtschaftlichen Sektor, eingeschlossen die wissenschaftliche Arbeit, mehr, in der die Zwangsarbeit nicht ihre Rolle spielt — und diese wird von Tag zu Tag wichtiger. Das gegenwärtige Netz der Lager erstreckt sich nicht nur über die Regionen jenseits des Polarkreises, auf die weiten sibirischen Räume, sondern selbst auf die Umgebung von Leningrad, Moskau, Kujbischew und Baku. Ja, schon zeigen sich warnende Vorläufer dieser Bewegung mit einer bedrückenden Folgerichtigkeit in ganz Osteuropa, im ganzen Vorfeld der Sowjets.“

Diese Proklamation wurde von den Führern des europäischen Kommunismus als Herausforderung aufgefaßt — sie entgegnen ihr mit einem offenen Bekenntnis zum KZ- Staat. Als letzter hat nun auch Ernst Fischer im Parteiblatt der österreichischen KP in einem Leitartikel „Kommunismus und Freiheit“ diese Confessio abgelegt: er gesteht zu, daß sich heute „Millionen anständige, aber von der antikommunistischen Propaganda eingeschüchterte Menschen in der Bürgerwelt“ vor der UdSSR fürchten und versichert diesen Millionen; „Sie könnten in der sozialistischen (sprich: kommunistischen, Anmerkung der Redaktion) Welt weit ruhiger schlafen als in der kapitalistischen.“ „Wenn man von der Unfreiheit in der Sowjetunion und den Ländern der Volksdemokratie spricht, verweist man häufig auf die neue Form des Strafvollzuges, auf das .Arbeitslager". In der Tat jedoch ist das Arbeitslager ein großer Fortschritt gegenüber dem Strafvollzug in der Bürgerwelt.'“ „Der Begriff der ,Strafe wird durch den Begriff der p rodu k- tiven ,Sühne ersetzt; der Gesetzbrecher soll nicht bestraft werden, sondern es wird der Versuch unternommen, ihn durch produktive Arbeit umzuerziehen.“

Das Arbeitslager also als ein großer sozialer, soziologischer, juridischer Fortschritt! Wenn dem aber so ist, warum darf dann nicht, wie es Rousset fordert, eine internationale Kommission jene Erziehungsstätten einer neuen Menschheit besichtigen, um aller Welt von den daselbst erzielten Fortschritten zu berichten? Ist es dann, wie das emphaisch-stolze Bekenntnis unserer Kommunisten zum Arbeitslager bezeugt, nicht geradezu selbstverständlich, daß angesehene internationale Vertreter der Rechtspflege, Gesellschafswissenschaftler und Leiter von Fürsorgeanstalten die Struktur, Arbeit und Funktion dieser Lager studieren, genau so wie Ärzte zur Weiterbildung angesehene Kliniken fremder Länder aufsuchen, genau so wie Studenten und Forscher berühmte Universitäten und Institute im Ausland frequentieren?

Jedermann ist sich nun klar darüber, daß es niemals solche Kommissionen geben wird. Warum aber? Einfach nur wegen des „Eisernen Vorhanges", wegen der bereits sprichwörtlichen Abschließung- der östlichen Welt? Gewiß auch deshalb, aber noch aus einem tieferen Grund.'Es gehört zum Wesen des „univers concentrationnaire“ der KZ- Welt, daß sie nur ohne Fenster existieren kann, ihren eigenen Gesetzen und Druckbedingungen hörig — eine völlig in sich geschlossene Welt, die nur dergestalt ihr Wesen realisieren kann. Damit aber stehen wir an der Wurzel einer wahrhaft erschütternden Gegebenheit, die kaum unserem Bewußtsein bekannt ist, obwohl Werke, wie „Die politische Insel“ Hans Freyers (Leipzig 1936) und Poppers „The open society and its enemies" (zwei Bände, London 1945) die Möglichkeit ihrer Einsicht eröffnet haben. Das KZ als hervorstechendstes Phänomen moderner soziologischer und politischer Entwicklung — und als solches weder auf Deutschland noch die UdSSR beschränkt, bereits Kogon macht 1945 im Vorwort zu seinem Buch auf die Möglichkeit künftiger KZs auch in den USA aufmerksam — das KZ als Sonderstaat, Binnenstaat, als eigenständische Gesellschaftsordnung! Das KZ liquidiert den Menschen als Person und Persönlichkeit, indem es ihn seines Gerichtsstandes beraubt: sowohl nach dem Recht des Dritten Reiches wie auch dem der UdSSR ist kein Richter und kein Urteil mehr nötig, um ein Individuum dem Lager überweisen zu können. Der Verlust des Gerichtes ist gleichbedeutend mit dem Verlust der Personenhaftigkeit: der Mensch kann sich als Person nur behaupten, wenn ihm das Recht, ein Urteil zu erhalten, gewahrt wird. Darauf aber kommt es an: nur der entpersönlichte Mensch ist „reif“, wird „Men- schenmaterial“ für die Großexperimente, die seiner harren.

Der autonome Mensch, der sich zum Herrn der Welt und Wirklichkeit proklamiert hat, schickt sich heute an, nachdem er jahrhundertelang zuerst mit Gott, dann mitder Naturexperimentiert hat, in ganz großem, umfassendem S t i 1 E x p e r i m e n t e mit dem Menschen anzustellen. Mit seinem letzten, hochwertigsten und billigsten Material. Die Stunde des Faust also, des Prometheus, des sieghaften Willens des Menschen, der imstande ist, alles zu tun, was er will, der berufen, ja verpflichtet ist, diese schlechte Welt von Grund auf umzuformen, zu verändern, zu verwandeln. Dieser letzte Satz ist ausgesprochenes und feierlich bekanntes Dogma des „D i a m a t“, des sowjetischen dialektischen Materialismus, dieser Satz ist aber auch, wenn auch oft uneingestanden, Leitsatz des szientifischen Amerikanismus, einer Weltanschauung, die heute von aberhundert Universitätslehrern, von vielen Tausend Intellektuellen der westlichen Welt vertreten wird.

Die Größe der Gefahr des univers concentrationnaire, des KZ-Alls, wird also erst erkannt, wenn die Größe der Versuchung eingesehen wird: der Versuchung, eine neue und bessere Welt zu bauen durch totalen, gelenkten Einsatz und Verwendung des gesamten zur Verfügung stehenden Menschenmaterials: ohne Hemmung, ohne eine Bindung an einen letzten göttlichen Schirmherrn des Menschengeschlechts.

Was überwindet diese Gefahr? Keine Kommission und keine Proklamation. Zunächst nur eine Weltanschauung, die den Menschen vor der Experimentierwut wissenschaftlicher Neugier und politischer Herrschsucht des Menschen schützt — nicht durch das Veto der UNO, sondern durch das Gebot des allmächtigen Gottes. Diese „ideologische“ Schirmwehr allein genügt jedoch nicht. Sie muß verstärkt werden durch eine neue Gesellschaftsordnung, die das gegenwärtige innere und äußere Chaos überwindet, die Not, das Leid, die Angst und die Verzweiflung — die zusammengefaßt als geballte Ladung die KZ-Welt als eine ungeheure Versuchung dem Menschen vorstellt, der sich vor seiner eigenen Freiheit fürchtet. Solange die Versuchung des Chaos, der Unsicherheit, die Versuchung, es kurzschlüssig durch eine falsche Totalordnung zu überwinden, auf weiten Strecken der Erde so groß ist wie heute, solange besteht überall auf der Welt die latente Gefahr des KZ- Staates.

Das ist die Mahnung des univers concentrationnaire an die Christen.

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