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Der Brief der Traudl X

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Mit dem täglichen Posteinlauf ist folgender Brief in unser Haus gekommen. Der Brief eines österreichischen Mädchens, gezeichnet mit vollem Namen und Adresse. Eine Unbekannte, die für viele spricht. Da wir das Allgemeine, über die Individualität der Person Hinausgreifende an diesem Dokument herausheben wollen, erlauben wir uns, in der Antwort dieses Mädcücn als „Traudl X“ anzusprechen: als repräsentativ für so viele junge Menschen in Österreich, die sich nicht zu Wort melden und die doch Antwort erwarten, oft auf ihr stummes Fragen, und die Antwort verdienen. „Die Furche“

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Mit dem täglichen Posteinlauf ist folgender Brief in unser Haus gekommen. Der Brief eines österreichischen Mädchens, gezeichnet mit vollem Namen und Adresse. Eine Unbekannte, die für viele spricht. Da wir das Allgemeine, über die Individualität der Person Hinausgreifende an diesem Dokument herausheben wollen, erlauben wir uns, in der Antwort dieses Mädcücn als „Traudl X“ anzusprechen: als repräsentativ für so viele junge Menschen in Österreich, die sich nicht zu Wort melden und die doch Antwort erwarten, oft auf ihr stummes Fragen, und die Antwort verdienen. „Die Furche“

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Sehr geehrter Herr Redakteur!

Mit großer Verwunderung lese ich die immer häufigeren Seitenhiebe auf den Nationalsozialismus. Ich kenne diese Zeit nicht aus eigener Erfahrung, hatte auch keine Gelegenheit, Positives von Erwachsenen darüber zu hören. tioch kann ich mir nicht vorstellen, daß eine Idee, die Millionen fasziniert hat, so verabscheuungs-würdig sei. Vor allem waren doch die Akademiker die ersten Anhänger Hitlers — Menschen also, denen man viel zutrauen darf — oder soll —, daß sie Ideen prüfen, die sie verteidigen, zumindest akzeptieren.

Hitler machte grundlegende Fehler bei der Durchführung seiner Pläne Doch sagt das allein, daß sie alle schlecht waren? Man kämpft für ein vereintes Europa. Doch jeder kleinste Staat weist mit Empörung die Zumutung zurück, nicht als solcher anerkannt zu werden. Man lehrt uns, Einigkeit zu glauben, doch die Zeit, in der wir an unser Nachbarland — an Deutsche — angeschlossen waren, gilt für die dunkelste unserer Geschichte.

Eine Spanne von 20 Jahren ist doch viel zu kurz, ein geklärtes Urteil über eine geschichtliche Epoche abgeben zu können.

Und muß nicht vor allen Dingen die Jugend annehmen, daß diese Ära heute deswegen so verachtet wird, weil man außerstande ist. das Positive darin zu sehen und auszuwerten? Ist es vor allem nicht die menschliche Unzulänglichkeit zum Guten, die man durch übertrieben lautes Anprangern vergangener Fehler verdecken will? Ist denn unsere heutige Staatsform (alles, was daraus gemacht wird) so ideal, daß wir uns gestatten können, jene Epoche mit Felsblöcken zu bewerfen?

Man könnte den Nationalsozialismus viel eher dadurch bekämpfen, daß man ihm Gerechtigkeit widerfahren läßt, als daß man ihn bedingungslos verurteilt.

Ihr Brief ist ein — vielleicht sind Sie jetzt ein wenig erstaunt? — solches Zeitdokument, daß er als erstes dies verdient: eine Veröffentlichung und eine Antwort auf jeden Satz, und dann ein zweites, was noch wichtiger ist: eine grundlegende Besinnung von uns Älteren, die wir die Gedanken und Werke unseres engeren Landsmannes Adolf Hitler an Leib und Leben erfahren haben. Was haben wir alles nicht getan, um Ihnen, liebes Mädchen, und Ihrer Generation diese junge Vergangenheit so vorzustellen, wie sie es verdient, und so, daß sie nicht mehr Gift, Versuchung zu neuem Mord und Selbstmord unserer Völker werden kann? Dieser Brief richtet sich also ebenso sehr freundschaftlich an Sie, Trr 11 X, wie an die Adresse der vielen, allzu vielen, die unsere Jugend um ein Kostbares betrogen haben: um die Einsicht und Teilnahme an eigener Schuld und eigenem Versagen, um dergestalt Partner werden zu können: für ein neues Leben, auf neuen Wegen, einer besseren Zukunft zu.

„Mit großer Verwunderung lese ich die immer häufigeren Seitenhiebe auf den Nationalsozialismus.“ Hier schon muß ich Ihnen recht geben., Die westdeutsche Presse desselben Tages, der Ihren Brief ins Haus bringt, meldet: „Lebenslänglich für KZ-Schergen. Im Prozeß Sachsenhausen wurden für August Höhn zweiter Lagerführer, wegen Mordes in sechs Fällen, Beihilfe zum Mord in 343 Fällen, Beihilfe zum Totschlag in sechs Fällen 15 Jahre Zuchthaus beantragt, für Otto Böhm wegen Mordes in 43 Fällen. Beihilfe zum Mord in 510 Fällen zehn Jahre Zuchthaus beantragt.“ Dazu stand die Abschlach-tung von 10.000 russischen Kriegsgefangenen zur Debatte. Dieselbe deutsche Presse meldet auf derselben Seite: „Das Dritte Reich im Bild. Das Deutsche Fernsehen hat eine Dokumentarserie über das Dritte Reich fertiggestellt, die in der Zeit vom 21. Oktober 1960 bis zum 15. Mai 1961 in zwölf Teilen an jedem zweiten Freitagabend gesendet werden soll. Die Sendereihe beginnt mit der Machtergreifung 1933 und deren Vorgeschichte und endet mit dem völligen Zusammenbruch 1945 sowie einer nüchternen Zr'ilenbilanz der im zweiten Weltkrieg geepferten Menschenleben.“ Genug. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen: Das alles geschieht in Deutschland, nicht in Österreich.

„Ich kenne diese Zeit nicht aus eigener Erfahrung, hatte auch keine Gelegenheit, Positives von Erwachsenen darüber zu hören.“ Sie können, liebes Mädchen, Positives über diese Zeit von vielen Menschen unseres Landes hören, die in dieser Zeit dick verdient haben, nicht zuletzt durch ihre Beteiligung an der Ausraubung fast ganz Europas, die damals ihre heute noch überaus erfolgreiche Karriere begonnen haben und die dieser Zeit teilweise nachtrauern, sie zumindest liebend überschweigen, als „die schönsten Jahre ihres Lebens“; Sie finden diese Leute in hohen Staatsstellungen, im Lehramt, als Väter und Mütter vieler schulpflichtiger Kinder.

„Doch kann ich mir nicht vorstellen, daß eine Idee, die Millionen fasziniert hat. so ver-abscheuungswürdig sei.“ Es war nicht „die Idee“, sondern der Mann, unser Adolf Hitler. Zur Idee: Lesen Sie „Mein Kampf“ und Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“. Ich habe mich damals allerdings meist völlig vergeblich bemüht, meine nationalsozialistischen Freunde an der Universität zur Lektüre dieser Bücher zu bewegen; sie sahen auf ihren sehr österreichischen Traum vom „Heiligen Reich“ und auf diesen Mann.

„Vor allem waren doch die Akademiker...“ Liebes Mädchen, diese hohe Zumutung Ihrerseits ehrt die Akademiker, wird ihnen jedoch nicht gerecht; in Sachen Politik, Leidenschaft, Religion usw. sind sie meist mindestens ebenso naiv und primitiv wie die meisten anderen Menschen auch. Nur für Österreich und seine Schwärmergemeinden an den Hohen Schulen und eine gewisse ursprünglich deutschnationale Intelligenz trifft zu, was Sie für eine erste Anhängerschaft Hitlers halten, in Deutschland bilden, von einigen ekstatischen Frauen in München abgesehen, die Massen der Zukurzgekom-menen. Gescheiterten, der Schläger und der entlassenen Soldaten eine erste Anhängerschaft.

„Hitler machte grundlegende Fehler bei der Durchführung seiner Pläne Doch sagt das allein, daß sie alle schlecht waren?“ Informieren Sie sich selbst. liebes Mädchen, rasch und billig, aus Hitlers erster Hand: „Der Nationalsozialismus - Dokumente 1933-1945“ (Fischer-Bücherei Nr. 1^2) und „Die Entfesselung des zweiten Weltkrieges“ (ebenda, Nr. 323, enthält alle wichtigen Dokumente) vergessen Sie dabei nicht auf „Die Zerstörung der deutschen Politik — Dokumente 1871—1933“, herausgegeben von H. Pross (ebenda, Nr. 264). Sie sehen da, wieviel von der Narretei und den mörderischen Ideen und Plänen unseres engeren Landsmannes in einflußreichen deutschen Kreisen in den 50 Jahren zuvor vorgedacht, vorgeplant wurde. Hitlers Pläne waren alle schlecht, weil sie alle, nach seiner eigenen Aussage dem Krieg, seinem Sieg, seinem KZ-Europa dienten.

„Man kämpft für ein vereintes Europa .. .“ Hier berühren Sie einen der wundesten Punkte des heutigen ..Europäismus“ Wenn sich heute kleine und „kleinste Staaten“ gerade auch in West- und Nordwesteuropa so sehr gegen eine gewisse „europäische Integration“ wehren, dann deshalb, weil ihnen der Schrecken von Göbbels' „Abendland“ und Hitlers „Vereintem Europa“ noch in allen Gliedern liegt, soweit nicht eine Elite ihres Landes diesem „Vereinten Europa“ zum Opfer fiel. In diesen Ländern dort sprechen die Toten eine vernehmliche Sprache; hierzulande wird ihr Wort nicht verstanden oder mißdeutet.

„Man lehrt uns, Einigkeit zu glauben, doch die Zeit, in der wir an unser Nachbarland — an Deutsche — angeschlossen waren, gilt für die dunkelste unserer Geschichte.“ Einigkeit, liebes Mädchen, kann blutigen Eintopf, Gleichschaltung, Vernichtung des „unwerten Lebens“ und Ausrottung einer „entarteten Kunst“ und Austreibung und Vernichtung der besten Köpfe eines Landes bedeuten... Ich darf Sie daran erinnern, daß sogar etliche der besten und klügsten Köpfe der österreichischen Nationalsozialisten am 13. März 1938 entsetzt waren über den ..Anschluß“. Sie dachten an eine Föderation, nicht an eine totale Vereinnahmung durch Hitlers Truppen. Polizei, Industrie.

„Eine Spanne von 20 Jahren ist doch viel zu kurz, ein geklärtes Urteil über eine geschichtliche Epoche abgeben zu können.“ Nein, liebe Traudl. Wir besitzen, in den Dokumenten des Dritten Reiches, eine einzigartige, lückenlose Selbstdarstellung, wie wir sie über keine andere Epoche der Weltgeschichte besitzen; wir besitzen darüber hinaus die Dokumentation der Taten, die in Europa, von Brest und Paris über Berlin und Wien bis Warschau, bis in den Kaukasus begangen wurden. Wir besitzen zum dritten das reine Wort reiner Zeugen, von Blutzeugen, der Mädchen, Frauen und Männer nicht zuletzt der deutschen Opposition, die am Galgen endeten. Sehen Sie diesen Menschen einmal ins Gesicht und vernehmen Sie ihr Wort im Angesicht des Todes, etwa an Hand der Sammelbände:, ,Du hast mich heimgesucht bei Nacht“ (München 1955), Eberhard Zeller: „Geist der Freiheit“ (München 1954) und „20. Juli 1944“ (Bonn 1960). Ihr eigener Lebensweg und der Ihrer Familie und Ihrer Kinder und Nachkommen in den nächsten fünfzig und mehr Jahren wird genau abhängen von dem, was Sie, liebes Mädchen, und die Ihren aus dem, was da geschehen ist und stark nachwirkt, machen.

Erlauben Sie mir, Ihren letzten Absatz im ganzen anzugehen. Er enthält so große Probleme, daß sie in keiner Weise durch einen Kurzbrief „erledigt“ oder gar gelöst werden können. In ihnen spricht sich die Fremdheit einer jungen Generation gegenüber dem politischen Betrieb von heute und ein an sich gesundes Empfinden, eine Suche nach Gerechtigkeit für alle aus. Sie' fordern Gerechtigkeit für den Nationalsozialismus! Ernst, lebensernst und todernst genommen, heißt das aber: Gerechtigkeit für die Menschen, die ihm zum Opfer fielen, die sich ihm zur Verfügung stellten, die an ihn glaubten. Das heißt: keine Pauschalurteile, keine Massenentnazifizierung, sondern die Sorge, die rechtliche und mitmenschliche Sorge für alle, die „dem Nationalsozialismus“ als seine Täter und seine Opfer, aktiv und passiv, verfielen. Gerechtigkeit für die „Bewegung“ und das Ideengut des Nationalsozialismus heißt: Darstellung seiner geschichtlichen Wurzeln, seiner Herkunft und seiner verhängnisvollen Wirkung in der Gegenwart. Es dürfte Ihnen entgangen sein, welche entsagungsvolle Arbeit einerseits nicht wenige Historiker seit 1945 geleistet haben, um den Nationalsozialismus in allen seinen Quellgründen zu erforschen. Ebensosehr scheint es Ihnen zu entgehen, wie sehr viele Menschen, gerade auch Nichtnationalsozialisten, hier und heute in Österreich seine schiefen Blicke, seine haßerfüllten Einstellungen geerbt haben. Sie sehen unsere Demokratie blaß, lustlos, blutlos, sehen, vielleicht, im Nationalsozialismus den Aufbruch einer elementaren Leidenschaft. Von den bis 30. September 1960 in diesem Jahr als Neonazi in Österreich festgenommenen Personen sind zwei Drittel Jugendliche. Das ist ein Gericht, nicht über unsere Jugend, wohl aber über unsere gesellschaftlichen Verhältnisse, über das Klima in unserem Lande. Hier kann und muß Abhilfe geschaffen werden. Demokratie vermag dies, denn sie ist ihrem Wesen nach „Gespräch“, Selbstkritik, Selbstreform. Der Nationalsozialismus kennt, seinem Selbstverständnis und Selbstbekenntnis na c h, keine Selbstkritikund Selbstreform: er konnte nur durch Selbstmord und Mord enden — geschichtslogisch hat er sich selbst Gerechtigkeit erwiesen — ich hoffe, daß Sie, liebe Traudl X, sich dieser seiner Selbstdarstellung nicht verschließen werden, wenn Sie das wagen, was leider heute in Österreich sehr wenige Menschen wagen, nämlich ihm wirklich ins Gesicht zu sehen, dem größten Feind des Menschen, nicht nur des deutschen Volkes und unseres Österreichs, dem wir in unserer Lebenszeit begegnet sind und mit dessen Folgen, nämlich der Zerreißung Deutschlands und der Eingliederung Osteuropas in Moskaus Sphäre, wir und unsere Nachkommen noch lange zu ringen haben werden. In diesem Sinne bin ich, mit den aufrichtigen Wünschen für Sie und unsere Zukunft, Ihr

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