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Ein österreichisches Memento

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Wir setzen im folgenden die Veröffentlichung der am 7. März 1938 überreichten Denkschrift Vizebürgermeisters a. D. E. K Winter an Bundeskanzler Schuschnigg fort.

Jedenfalls scheint die europäische Situation auf der ganzen Linie zu bestätigen, daß Deutschland wenig Zeit hat, um Österreich gleichzuschalten. Vorläufig hat Hitler eine moralische Niederlage von historischen Ausmaßen erlitten. Wahrscheinlich war sie das Gastgeschenk, das Mussolini ihm im voraus sandte! Österreich ist in diesem italienischen Spiel die Karte, die einmal gegen England, dann wieder gegen Deutschland gespielt wird. Wir sind heute das Objekt der europäischen Politik. Und doch könnten wir Mitgestalter Europas sein. Dann nämlich, wenn wir den unbedingten Willen zur Selbständigkeit militärisch, politisch und wirtschaftlich konkretisieren. Erst wenn dies geschieht, wird es ganz sicher sein, daß Mussolini uns

Abwehr oder „zizerlweiser Anschluß“?

Die zwölf Tage zwischen dem 12. und dem 24. Februar haben das österreichische Volk neuerdings schwer demoralisiert, ihm neuerdings schwere Einbußen an „Gefechtsmoral“ zugefügt. Umgekehrt ist die Zuversicht der NSDAP aufs höchste gestiegen und auch die Enttäuschung, die sie inzwischen wieder erlitten hat, verwandelt sich vor unseren Augen in eine neue gefährliche, subversive Kraft.

Freilich hat der entscheidende Wechsel von tiefer Depression und neuer Hoffnung, der durch die Rede vom 24. Februar ausgelöst wurde, auch seine positiven Seiten. Noch niemals hat die österreichische Staatsführung seit fünf Jahren das ganze Volk, soweit es österreichisch denkt, so eindeutig zusammengerissen und so klar hinter sich gebracht wie in diesen Tagen. Die Demoralisation von zwölf Tagen kann vor aller Welt aufgewogen werden, wenn jetzt nach dem großen Wurf der Rede die konsequente und zähe Kleinarbeit folgt und wenn es

sich dadurch erst erweist, daß die Unabhängigkeit Österreichs nicht als eine bloß formale verstanden wird. Wenn dies geschieht, dann können die zwölf Tage geradezu die Voraussetzung abgeben für eine neue entscheidende Begründung des österreichischen Staates und für seine Verankerung in Volksschichten, die ihm bisher ablehnend gegenüberstanden.

Wenn diese fundierte Abwehr, beruhend auf konsequenter und zäher Kleinarbeit, freilich nicht betätigt wird, dann wird das unabhängige Österreich alsbald gewesen sein, trotz aller Garantie Italiens, ja vielleicht gerade infolge dieser unverläßlichen Garantie. Das österreichische Regime befindet sich dann groteskerweise in derselben Situation wie die Sozialdemokratie 1933, die auch noch am letzten Parteitag den Schwur leistete: Rot bis in den Tod! Damals war Dollfuß in der glücklichen Rolle, in der heute Hitler sich befindet!

Nach den Regeln formaler Taktik war es die große Leistung von Dollfuß, die linke Opposition Schritt für Schritt geschlagen zu haben, nicht in einer Entscheidungsschlacht, die hätte zweifelhaft sein können. Dollfuß hat einen „zizerlweisen Staatsstreich" gemacht, so daß die demokratische Opposition zuerst auf ihn wartete, dann aber plötzlich merkte, daß er schon vorbei war. Wenn das österreichische Regime die Idee der „zizerlweisen Restauration“ verstanden hätte, wäre der 11. Juli 1936 ungefährlich geblieben. Hat Hitler die Idee des „zizerlweisen Anschlusses" nunmehr erfaßt? Wenn ja, dann ist das österreichische Regime in der tragischen Situation derer, denen

nicht mehr verkaufen kann und daß Hitler wirklich eine historische Niederlage erlitten hat. Darüber entscheiden nicht große Worte, sondern die Taten, die ihnen folgen, in ihrer Folgerichtigkeit und Zähigkeit. Nicht eine große Rede zeigt die Wendung an, sondern die Konsequenzen, die daraus gezogen werden! Das Zurückweichen vom 12. Februar und das Wiederaufholen der geräumten Position am 24. Februar war von äußeren Umständen bedingt. Das eine Mal drohte die Übermacht Deutschlands, dem wir (auch von Italien) schutzlos preisgegeben schienen, das andere Mal zeigte sich der neue Einsatz eines alten Garanten. Entscheidender als dieses Hin und Her, dieses Auf und Ab, das die wahre Unabhängigkeit eines Staates zur Farce macht, aber ist das konsequente und zähe Handeln aus eigener Kraft, das von unbeugsamem Willen zur Selbständigkeit allen Kräften ringsum gegenüber getragen ist.

es selbst 1933 dieselbe Situation bereitete. Wie damals die Führung der Sozialdemokratie den im Namen Gottes geleisteten Eiden auf die Verfassung vertraute, so vertraut heute das österreichische Regime auf die Eide seiner nationalsozialistischen Mitarbeiter und auf die Eide der nationalsozialistischen Elemente der Exekutive. Der Austromarxismus konnte 1933 34 nur mehr die Ehre retten, indem er endlich auf die Barrikaden stieg. Das österreichische Regime von heute hingegen hat noch eine letzte Möglichkeit, mehr zu tun als dies. Gewiß, es muß bereit sein, unter Umständen ebenfalls nur noch die Ehre zu retten, wissen, daß die Rettung der Ehre auch die Rettung der Zukunft sein kann. Aber noch immer kann man Österreich retten. Zwar wird Hitler ebensowenig sich versöhnen lassen wie Dollfuß! Den ehrlichen Frieden, den das österreichische Regime heute vergeblich von Hitler erwartet, hat es selbst seinerzeit den österreichischen Sozialdemokraten verweigert! Die Eide, die es heute von seinen nationalsozialistischen Mitarbeitern gehalten wünscht, hat es selbst den Sozialdemokraten gebrochen! Aber eben diese Sozialdemokraten von ehedem sind heute auf der ganzen Linie zur Verteidigung des Landes bereit. Darin liegt die Chance, die Österreich noch hat, die letzte Chance! Wenn es nicht gelingt, in vernünftiger Form, die der Situation entspricht, wiedergutzumachen, was 1933 34 an wertvollstem politischem Kapital zerstört wurde, dann ist Österreich verloren und Italien wird es im Ernstfall auch nicht retten.

Auf drei Gebieten sind raschest entscheidende Vorsorgen zu treffen: auf militärischem, arbeiterpolitischem und wirtschaftspolitischem.

Militärischer Widerstand ist möglich

Das Entscheidende bleibt seit Berchtesgaden erst recht der Wille Österreichs zum militärischen Widerstand unter allen Bedingungen.

Militärisch kann sich Österreich noch immer gegen jeden Putsch und gegen jeden Einfall der Legion verteidigen. Auch eine mit Reichswehr wattierte Legion ist noch nicht gefährlich, solange das Ganze ein isoliertes Abenteuer Deutschlands ist. So groß der Auftrieb der NSDAP seit dem 12. Februar in einzelnen Gebieten ist (und er wird noch größer werden), so sehr auch Teile der Exekutive in ihn hineingezogen sind, im Ernstfall kann dies alles heute noch durch die Tatkraft der militärischen Führung aufgewogen werden. Ein Abenteuer wird Deutschland überdies nur in dem Falle wagen, als es fürchten muß, daß eine englisch-italienische Verständigung seinen Südostplänen einen dauernden Riegel vorschiebt. Dieser Fall ist noch immer unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist das Scheitern der englisch-italienischen Besprechungen und der Antritt beider Achsenmächte zu einer europäischen Gesamtaktion, bei der dann Österreich nicht mehr auf Italien hoffen dürfte, sondern nur mehr mit sich selbst zu rechnen hätte.

Ein totaler Angriff Deutschlands auf Österreich, der überraschend erfolgt und im Zuge einer deutsch-italienischen Gesamtaktion gegen mehrere

Großmächte vonstatten geht, scheint auf den ersten Blick ein Elementarereignis, gegen das es keine Vorkehrungen gibt. Dieser Standpunkt ist jedoch ein fatalistischer. Auch der kleinste Staat muß den größten Schicksalsschlägen gegenüber den Mut zum Widerstand besitzen. Auch einem Eie- mentarereignis muß man ins Gesicht

sehen können. Denn dieses wird die Welt zwar verwüsten, aber die Welt wird auch nach ihm bestehen. Die Führung eines Staates darf keinesfalls (wie die Führung einer Partei, zum Beispiel der Sozialdemokratie 1933) insofern alles auf eine Karte setzen, als sie von dem Axiom ausgeht, daß ein befürchtetes Ereignis nicht geschehen werde, wenn es aber doch geschieht, dann mit dieser Katastrophe das Ende aller Dinge gekommen sei. Im vorliegenden Fall ist der Eintritt des Elementarereignisses überdies mit den Händen zu greifen. Die Machthaber Deutschlands werden trotz aller Friedensbeteuerungen auf ihrer abschüssigen Bahn weitergetrieben werden, weil Ideologie und Autarkie sie gleichermaßen zum Eroberungskrieg zwingen. Nur die Kapitulation der Demokratien könnte Deutschland (und wahrscheinlich auch Italien) vor der Katastrophe anhalten. Wenn sie auf friedlichem Wege bekommen, was sie wollen, brauchen sie nicht Krieg zu führen. Aller Voraussicht nach wird aber weder England noch Frankreich kapitulieren!

Wenn auch mit einer überraschenden Gesamtaktion Deutschlands gegen mehrere Großmächte zu rechnen ist, so braucht weder der erste Angriff, noch der Krieg als solcher gelingen. Es wäre ganz falsch zu sagen: Wenn der Krieg kommt, ist alles aus! Der Krieg wird wahrscheinlich unvermeidlich sein und trotzdem wird es ein „Nachher" geben. Abgesehen von der gewaltigen Übermacht der vier Weltmächte, England, Frankreich, Amerika und Rußland, die in einer Front stehen werden, hat Deutschland bei seinen Kriegsvorbereitungen zwei sehr wesentliche Dinge vergessen.

Das erste ist, daß die Autarkie nämlich keineswegs die beste Vorbereitung auf den Krieg ist. Die bessere Vorbereitung ist die Weltwirtschaft, von der man mit Beginn des Krieges, aber nicht früher, zur Autarkie übergeht. Durch seine Proklamation der Autarkie im Frieden hat Deutschland sich selbst den Krieg erklärt und sich von den Resourcen abgesperrt. Dieses Minus kann die geschickteste Clearingspolitik nicht mehr aufholen.

Das zweite ist, daß auch die autoritäre Disziplin eine viel schlechtere Vorbereitung auf den Ernstfall ist, als eine Erziehung, die in den Mittelpunkt Freiheit und Persönlichkeit stellt. Ganz ebenso wie in der Industrie das Schwinden der qualifizierten Arbeiter

eine Folge der politischen Entmachtung der Arbeiterschaft ist, so führt auch die autoritäre Erziehung eines Volkes im Ganzen keinesfalls zur Entfaltung derjenigen Kräfte, die gerade im Krieg nötig sind. Der moderne Krieg wird eine große Anzahl qualifizierter Techniker, Flieger, Tankführer, Artilleristen beanspruchen, die

nicht nur die besten Nerven haben müssen, sondern auch moralische Qualitäten und individuelle Entschlußkraft. Deutschland hat die riesenhafte technische "KriösmäscHifie,'''filcJiT diS' nötige Anzahl qualifizierter Menschen, die diese Maschine bedienen können. Die demokratischen Mächte haben keineswegs die analoge Maschine, aber sie produzieren aus dem Reservoir ihrer demokratischen Erziehung eine weitaus größere Anzahl qualifizierter Kräfte, die einen moralischen und persönlichen Einsatz zu leisten imstande sein werden. Schon im Weltkrieg hatte Deutschland Mangel an qualifizierten Fliegern, England hingegen nicht. In diesem Krieg wird das Mißverhältnis noch gewaltiger sein. Daran wird Deutschland entscheidend scheitern!

Aus diesen Überlegungen folgt, daß die Lage Österreichs im Falle eines totalen Angriffes keineswegs so verzweifelt ist, wie es zuerst scheinen mag. Österreich darf nur nicht im ersten Anstoß überrumpelt werden. Es handelt sich auch keineswegs darum, die territoriale Integrität Österreichs zu erhalten. Vielmehr würde es genügen, wenn sich die österreichische Staats- und Regierungsgewalt irgendwo auf österreichischem Territorium acht Tage lang handlungsfähig erhalten würde — wobei die Festung auch der Dachstein oder Glöckner sein könnte. Entscheidend ist, daß die legalen Träger der österreichischen Staats- und Regierungsgewalt Widerstand leisten, die rotweißrote Fahne halten und der Weltöffentlichkeit Rede stehen. Es ist keine Frage, daß es nicht nur leichter ist, der Armee eine Aufgabe zu stellen, die ihr einen enger gezogenen

Aktionsradius zuweist, sondern desgleichen auch leichter, eine zivile Levee en masäe als moralische Rük- kendeckung der Armee hierfür zu organisieren. Ebenso sicher ist aber

auch, daß ein solcher Widerstand entscheidend dazu beitragen kann, den deutschen Kriegsplan zu verteiteln. So wichtig es für Deutschland sein kann, im Handumdrehen quer durch Österreich und Ungarn nach dem Südosten vorzustoßen, so entscheidend kann das auch nur teilweise Mißlingen dieses Vorstoßes das ganze deutsche Konzept umwerfen. Ganz zu schweigen

von der moralischen Niederlage, die Deutsche durch eine in seiner Flanke kämpfenden österreichischen Armee erlitten. Darüber muß man sich allerdings klar sein, wenn man die österreichische Unabhängigkeit verteidigen will, daß wenn die Würfel einmal gefallen sind, „Deutsche“ gegen Deutsche werden kämpfen müssen!

Vom Standpunkt des Sukkurses für Österreich ist es sicher, daß einem in zwei Tagen überrumpelten Österreich niemand in der Welt Hilfe leisten wird. Wohl aber wird ein Widerstand leistendes Österreich alsbald Hilfe finden. Und auch in dem Falle, als diese Hilfe aus Gründen der militärischen Gesamtlage nicht gleich möglich sein sollte, wird ein Widerstand leistendes Österreich seine Zukunft retten und nach der Katastrophe wieder auferstehen (gleich Belgien oder Serbien im Weltkrieg). Hingegen wird ein sich Deutschland freiwillig überlieferndes Österreich mit diesem Deutschland gemeinsam unter europäische Kontrolle gestellt werden. Wenn Österreich Widerstand leisten will im Falle eines Putsches oder Abenteuers, wenn es in diesem Fall nicht kapitulieren will, dann muß es auch den Mut haben, den allerletzten Eventualitäten ins Gesicht zu schauen. Was sonst in Österreich an politischen oder wirtschaftlichen Abwehrkräften aufgebaut werden kann, hängt von diesem letzten Einsatzwillen ab, der allein erst wirklich darüber entscheidet, ob das Bekenntnis zur Unabhängigkeit eine Phrase ist oder eine Bereitschaft bis zum Tode!

(Die Veröffentlichung wird fortgesetzt.)

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