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Dreimal Deutschland

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Am Samstag, dem 12. September 1959, übernahm Bundespräsident Dr. Heinrich Lübke sein Amt aus der Hand von Prof. Theodor Heuß. Zehn Jahre lang hatte der weißhaarige, witzige und redegewandte Professor mit der souveränen Würde eines weisen Mannes einem Staatswesen vorgestanden, das mit seinem Ausscheiden auch den zehnten Jahrestag seines Bestehens feierte.

In diesen zehn Jahren ist die kleine Universitätsstadt Bonn ein Begriff der internationalen Politik geworden. Am Anfang sah das alles ja noch sehr nach Provisorium aus. Das Abgeordnetenhaus, ein umgebautes Lehrerseminar, die Ministerien in Privathäusern und ehemaligen Kasernen untergebracht, und oben auf dem Petersberg die Alliierten Hohen Kommissare, die mit Gönnermiene beobachteten, wie erfolgreich die Eingeborenen dieses merkwürdigen Landes inzwischen Demokratie spielen gelernt hatten. So schien das Ganze mehr ein Versuch als eine Realität, sozusagen die 9. Klasse der Schule in Demokratie. Aber der Mann, der die Hauptstadt des neuen Deutschlands mit selbstherrlicher Miene in die unmittelbare Nähe seines im rechtsrheinischen Beuel gelegenen Rosengartens verpflanzt hatte, führte dieses Experiment zielsicher und gewandt in die europäische Politik ein und wurde selbst ein entscheidender Faktor der Weltpolitik. Während Altbundespräsident Heuß durch seine edle Menschlichkeit und den darauf zugeschnittenen Stil der Repräsentanz sozusagen den Hintergrund des neuen Staatswesens bildete, ist das, was unter dem Namen Bonn verstanden wird, ganz von der eigenwilligen Persönlichkeit Konrad Adenauers geprägt. Er führte dieses Staatswesen um die vielen Klippen seiner Halbsouveränität bis zur offiziellen Souveränitätserklärung am 5. Mai 1955, und wenn es Adenauer auch nicht gelang, Westdeutschland gleichberechtigt an die Konferenztische zu bringen, so geschieht doch nichts und wird auch nichts über Deutschland beschlossen, ohne daß seine Stimme gehört wird. Ein gewisser Höhepunkt dieser Ent- wi&y.utjg, wat vor węy)jgęn ; Wochen der Besuch des .amerikanischen Präsidenten Dwigth Eisenhower, der sich nach einem triumphalen Empfang in Bonn nicht scheute, den Kanzler des Volkes, dessen bedingungslose Kapitulation er vor 14 Jahren entgegengenommen hatte, als seinen Freund zu bezeichnen. Bonn ist kein Provisorium mehr! Es ist die Hauptstadt eines Staates, der sich mit Energie und Geschick einen nicht unbedeutenden Platz erobert hat, wenn auch die zehn Jahre darüber nicht hinwegtäuschen können, daß dahinter eine zum Teil sehr düstere Vergangenheit liegt, die immer wieder ihre Schatten auf die Gegenwart wirft.

Als das nationalsozialistische Reich seinen zehnten Jahrestag feierte, kapitulierte die 6. deutsche Armee in Stalingrad, zogen an die 200.000 deutsche Soldaten in russische Gefangenschaft, war der Krieg, den der von Erfolg zu Erfolg eilende Kanzler Adolf Hitler mutwillig vom Zaun gebrochen hatte, rettungslos verloren. Als die westdeutsche Bundesrepublik an den 10. Jahrestag ihres Bestehens ging, hatte sie die niedrigste Arbeitslosenziffer, die Deutschland je gehabt hat. In diesen beiden durch die Zufälligkeit, mit der sie zustande kamen, besonders eindrucksvollen Tatsachen ist das Schicksal des deutschen Volkes, aber auch das Wesen der von ihm in jüngster Zeit entwickelten Staatsformen enthalten. Diese Tatsachen sind auch nicht ohne Beziehung zueinander: Der Eroberungszug nach Lebensraum im Osten führte zur größten Katastrophe der deutschen Geschichte. Die damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Ausweisungen, Abtretungen von einem Fünftel des ehemaligen deutschen Gebietes und die Teilung Deutschlands ließen schließlich die Bevölkerungsdichte in Westdeutschland auf ein früher gar nicht für möglich gehaltenes Maß anwachsen.' Die Eroberung deutschen Lebensraumes hatte sich in ihr Gegenteil verwandelt. In zehn Jahren brachte es die westdeutsche Bundesrepublik mit ihrem unerhörten Aufstieg fertig, aus dem völligen Zusammenbruch heraus nicht nur den schon früher ansässig Gewesenen, - sondern 'auch den. zirka sieben Millionen nach Westdeutschland Geflüchteten einen Arbeitsplatz zu verschaffen. Damit ist die deutsche Bundesrepublik zur Retterin des deutschen Volkes geworden. das' sonst unweigerlich in den im Gefolge großer Lieberbevölkerung auftretenden Unruhen, sozialen Mißständen und Katastrophen zugrunde gegangen wäre. Dies gibt ihr ein Anrecht., die Stimme aller Deutschen in der Welt zu vertre-

ten. In dieser Tatsache liegt auch ihr bei aller Labilität überindustrialisierter Länder doch gefestigter sozialer Status begründet. Die Bundesrepublik hat damit auch Europa vor einem von Spannungen und Not zerrissenen Ansteckungsherd ewiger Unruhe gerettet und hat' das geschafft, was der Weimarer Republik nie gelungen ist: ein in sich gefestigter und sozial beruhigter Staat zu sein.

Man könnte an diesem Jahrestag zu Stalingrad noch eine andere Parallele ziehen. Der Jahrgang 1922, der die meisten Opfer in Stalingrad erlitten hat, ist dieser Tage in Westdeutschland dazu aufgerufen worden, sich registrieren zu lassen, um später zu militärischen Uebungen eįngezogen zu werden. Das Echo auf diese Maßnahme war recht zwiespältig, und manche nahmen an, die Generation der Obergefreiten werde sich gar nicht stellen. Aber, nach alter Obergefreitenart murrten und fluchten sie zwar ganz gewaltig, aber sie fügten sich schließlich dem Argument,- daß sie den Schutz, den sie, wenn auch unfreiwillig, dem Hitler-Staat hatten angedeihen lassen, dem Rechtsstaat Deutschland schließlich nicht versagen konnten. Aehnlich wie ihnen ging es in der Wehrfrage den meisten Deutschen. Eine Mehrheit des deutschen Volkes beobachtete mit starkem Bedenken, wie Konrad Adenauer die Errichtung einer Bundeswehr und schließlich auch die Atombewaffnung dem Bundestag abzwang. Wie gering die Wehrbegeisterung war, ließ sich an dem kläglichen Scheitern des Versuchs, eine Freiwilligenarmee aufzustellen, ersehen. Aber als die Entscheidung erst einmal gefallen war und das liebel nicht mehr rückgängig zu machen war, als das viele eine deutsche Wehrmacht ansahen, in die der alte Ungeist eindringen konnte, entschied sich insbesondere die Jugend dafür. Man ist in Deutschland nicht begeistert Soldat, sondern man ist es, weil man die Notwendigkeit eingesehen hat. Die Pläne, die darauf abzielten„ das Entstehen einer Öffizierskaste, eines Staates im Staate, zu verhindern, sind nicht erfolglos geblieben. Trotzdem wird man auf die Bundeswehr achten müssen, denn natürlich mußten viele alte Wehrmachtsangehörige eingestellt werden, und es besteht damit die Gefahr, daß der alte Geist wieder auftaucht. Deshalb hätten viele Deutsche gerne noch zehn Jahre mit der Aufstellung einer Wehrmacht gewartet.

Zu Beginn des 10. Jubiläumsjahres der Weimarer Republik — Februar 1929 — hielt der Vorsitzende der liberalen Deutschen Volkspartei, der Außenminister Dr. Gustav Stresemann, eine ' vielbeachtete Rede über die Krise des deutschen Parlamentarismus, in der er eindring-' lieh vor der Gefahr einer nur formalen und nicht tatsächlichen Mehrheitsbildung warnte. Er meinte damit den in keinem Verhältnis zu ihrer Stärke stehenden Einfluß kleiner Splitterparteien im Reichstag, die vom Volk nicht verstanden und als Cliquenwirtschaft abgelehnt würden. Stresemann wußte damals noch nicht, daß Deutschland vor einer fürchterlichen Krise Stand, und konnte nicht ahnen, daß eine der damals ganz kleinen Splitterparteien, die NSDAP, mit ihren zwölf Abgeordneten in vier Jahren den Rechtsstaat Deutschland in Scherben schlagen würde.

Würde heute ein Politiker über das Thema die Krise des deutschen Parlamentarismus zu sprechen haben, er könnte die Rede Stresemanns nicht einmal als Material benutzen. So verschieden ist Bonn von Weimar. Nicht die Vielzahl der Parteien ist das parlamentarische Problem unserer Tage, sondern ein sich immer deutlicher abzeichnendes nicht natürlich 'gewachsenes Zweiparteiensystem beschwört die Gefahr herauf, daß das Volk das Parlament und die parlamentarische Arbeit nicht mehr ernst nimmt.

In Deutschland standen sich in den vergangenen zehn Jahren im großen gesehen zwei Parteien gegenüber, von denen die CDU/CSU seit 1953 die absolute Mehrheit im Parlament hat, so daß die SPD, rettungslos überstimmt, aus ihrer Oppositionsrolle oft genug in ein verbocktes Neinsagen abglitt. Den Deutschen blieb eine geistig-politische Auseinandersetzung vorenthalten, und es blieb ihnen, kraß gesagt, nur die Wahl, ja zu sagen und die CDU/CSU zu wählen oder aus den verschiedensten, meist innenpolitischen Gründen, die mit dem Programm der SPD nichts oder nur wenig zu tun hatten, der Oppositionspartei den Vorzug zu geben. Die SPD erhielt dabei aus den intellektuellen Schichten stärkeren Zuzug als von den verbürgerlichten Arbeitern, die 1957 teilweise der CSU den Vorzug gaben, ein Umstand, dem in dem Aufbau der SPD bislang keine Rechnung getragen wurde. Die dritte Partei, die FDP, hatte es in diesem Kampf ohne grundsätzliche politische Ideen schwer, sich zu behaupten. Das Zweiparteiensystem wird oft der Vielfalt politischen Lebens in Deutschland nicht ganz gerecht, und es ist sehr die Frage, ob sich die Verhältnisse nach einem Abgang Adenauers oder größeren wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht grundsätzlich ändern werden.

Es ließe sich über Bonn und die Bundesrepublik noch vieles sagen, insbesondere über die unselige, alle Verhältnisse belastende Teilung Deutschlands. Es ließe sich ja sehr wohl die Frage stellen, ob ein Teil Deutschlands ein wirklich souveräner Staat sein kann. Die These, die der durch politische Husarenstreiche bekannt gewordene FDP-Abgeordnete Hubertus Prinz zu Löwenstein jüngst in einer Geschichte Deutschlands von 1945 bis 1957 auf gestellt hat, daß nämlich die Bundesrepublik erst durch die Wehrhoheit ihre wirkliche Souveränität errungen habe, ist gewiß nicht haltbar. Vielmehr läßt sich die Berechtigung dieser Souveränität eines Teils von Deutschland einmal von der Freiheit der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik ableiten, mit der sie sich grundsätzlich von dem Gewaltregime Ostdeutschlands unterscheidet, zum zweiten aber von den großen Verdiensten .der Bundesrepublik um das deutsche Volk. In Westdeutschland ist in den vergangenen zehn Jahren bewiesen worden, daß in Deutschland ein freies politisches Leben möglich ist. Das Klassenziel in Demokratie wurde sozusagen voll erreicht.

Das Bild des wirtschaftlich blühenden Westdeutschlands aber gibt trotz allem nur einen Teilaspekt der deutschen Situation wieder. Das Bild ist nicht vollständig ohne das Janusgesicht des leidenden, unterdrückten. Deutschlands Jn der Ostzone, das eine eindringliche Mahnung für die nicht ungern vergessene Tatsache ist, daß Deutschland vor 14 Jahren die größte Katastrophe seiner Geschichte erlebte. So gesehen ist Deutschland noch heute eine Einheit und das souveräne Westdeutschland nur ein Teil des Ganzen. Die deutsche Situation der Gegenwart ist nicht nur von den zehn glücklichen Jahren der Bundesrepublik bestimmt. Zu ihr gehören die Leidenszeit Ostdeutschlands ebenso dazu wie die Schatten der Vergangenheit. Wie nähe uns diese und die davor liegende Epoche der Weimarer Republik noch ist, ergibt die Ueberlegung. daß der größte Staatsmann dieser Epoche, Gustav Stresemann, heute um zwei Jahre jünger wäre als Konrad Adenauer.

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