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Auf schwankendem Boden?

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Auf zwei Säulen ruhte zwölf Jahre lang in Westdeutschland, was man mit dem etwas ominösen Wort Kanzlerdemokratie zu bezeichnen pflegte: auf der Außenpolitik und der freien Marktwirtschaft. Deren beide Exponenten, der Kanzler und sein Vizekanzler, bescheinigten sich zwar mitunter, daß der jeweils andere vom eigenen Ressort wenig oder nichts verstünde. Doch bilden beide eine untrennbare Einheit. Deutschlands heutige Stellung in der Welt wäre ohne Adenauers außenpolitisches Ansehen und Geschick ebensowenig zu denken wie der Aufstieg Deutschlands ohne Erhards freie Marktwirtschaft. Beide Elemente zusammengenommen ergaben ein System der Sicherheit, in der die Parole „Keine Experimente zum todlicheren Wahlschlager wurde.

Seit einem halben Jahr aber ist es um die Außenpolitik der deutschen Bundesrepublik merkwürdig still geworden. Zwar gelang es Adenauer, im Spätherbst letzten Jahres bei Kennedy die Verstimmung über die deutsche Inaktivität zu überwinden, aber Adenauers wenig später ausbrechende Erkältung hat bis heute trotz aller westöstlichen Konferenzen die westdeutsche Außenpolitik nicht wieder in das internationale Gespräch gebracht. Hätten sich die Westmächte nicht nach dem 13. August so nachdrücklich für Berlin eingesetzt, die außenpolitische Bilanz sähe noch sehr viel trüber aus. So scheint der Westen wie ein Mann hinter der Bundesrepublik zu stehen, deren Außenpolitik unter dem neuen Außenminister Schröder ziemlich planlos dahinzutreiben scheint.

Seit Ende März scheint nun auch die andere Säule im Wanken zu sein: In einer Fernsehrede warnte Bundeswirtschaftsminister Erhard vor Maßlosigkeiten der Tarifpartner, durch die eine ernste Wirtschaftskrise heraufbeschworen werden könnte. Erhard stach mit dieser massiven Warnung in ein Wespennest. Seit Monaten ist die Abschwächung der Zuwachsrate der deutschen Industrie ein vieldiskutiertes Problem. Eine so ernste Warnung kam daher nicht überraschend. Nur setzte sie Akzente, gegen die sich die Opposition und die Gewerkschaften energisch wehrten. Sie warfen Erhard vor, er hätte einseitig gegen die Arbeitnehmer Stellung bezogen, obwohl die von den Gewerkschaften ausgelöste Lohnwelle keineswegs allein schuldig an der gegenwärtigen Abschwächung der Konjunktur sei. Die Baulandpreise etwa gingen eindeutig auf verfehlte Maßnahmen der Regierung zurück. Der Wirtschaftssachverständige der SPD, Deist, warf Erhard „Panikmache“^ „unsinnige Dramatisierung der Lage“ und ähnliches vor. Unter dem Eindruck der Kritik beeilte sich Erhard, auch an die Arbeitgeber eine drastische Warnung ergehen zu lassen. Im übrigen aber hielt er an seiner Anschauung fest und bezeichnete es als unsinnig, nach Schuldigen zu suchen, wo es darum ginge, durch Maßhalten eine Krise zu vermeiden.

Was nach außen wie ein Streit um Wirtschaftstheorien aussieht, ist tatsächlich in erster Linie ein politisches Problem, und zwar nicht nur deshalb, weil ein großer Teil der Krisenfestigkeit der westdeutschen Innenpolitik in der Prosperität der Wirtschaft begründet ist, sondern weil Westdeutschland auch im hohen Grad krisenanfällig ist. Seit Jahren wurden alle auftretenden innen- und sozialpolitischer Probleme aus dem vollen Geldbeute gelöst, ohne den Versuch, an ein< Heilung der Symptome zu gehen. Das System der Wahlgeschenke hat dies&#171; Frage noch verschärft. So ist heute dei Bundesetat von einer Reihe von Zu-Schüssen belastet, die höchstwahrscheinlich bei einer Krise als erst< abgebaut würden. Diese Zuschüsse sind aber in kurzer Zeit ohne schwerwiegende Folgen gar nicht zu beseitigen., Das Bonner System pauschale] Bestimmungen läßt es zu, daß einer ar den Zuschüssen zusätzlich verdient die für den anderen lebensnotwendig sind. Ähnlich ist es bei den Steuergesetzen, die durch Ausnahmebestimmungen und Absatzmöglichkeiten sc verwirrt sind, daß sie kaum noer überblickt werden können. Hier werden seit Jahren Bestimmungen mitgeschleppt, die zu Beginn zur Ankurbelung der Wirtschaft notwendig waren, inzwischen aber längst wegfallen könnten. Der Toleranzraum, in dem in Westdeutschland ein Rückgang der Wirtschaft ohne schwerwiegend! Rückwirkungen bleiben kann, ist un verhältnismäßig gering. Das heißt eine verhältnismäßig harmlose Stagnation kann in der maßlos überbevölkerten Bundesrepublik ungeahnte Folger haben, deren Wirtschaftsstruktur nichl von Reserven, sondern von der Vollbeschäftigung gekennzeichnet ist

Bei einer solchen Rezession kam&#171; daher rasch die ganze Sozialstruktui in Westdeutschland ins Rutschen. Di&#171; nicht ausdiskutierten innenpolitischer Probleme — Westdeutschland besitzt zum Beispiel bis heute keine Ausnahmegesetzgebung —, die ganze Sozialpolitik könnten bei solch einerr Erdrutsch neue und zusätzliche Probleme hervorrufen, die zur Verschärfung der Situation beitragen würden Die Opposition bekäme vielleicht di&#171; Chance zu einem ungeahnten Triumph — nur wäre dieser Triumph teuer erkauft. Wenn auch die Sozialgesetze nur zum Teil mit Zustimmung dei Opposition erlassen wurden, so kanr sich im Ernstfall doch keine dei Parteien Von der Verantw-rtung lossprechen. Sie säßen alle in einerr Boot und bekämen alle die politischer Folgen der Krise zu spüren. Man kanr manches gegen die Art einwenden, wie in Westdeutschland die sozialen Probleme angegangen wurden, aber man muß zugeben, daß eine Reihe kaum lösbarer Probleme, wie die Flüchtlingsfrage, der Aufbau der zerstörten Wirtschaft und anderes, in einer Weise in Angriff genommen wurde, die einer echten Lösung sehr nahe kommt. Natürlich war dies nur in einer günstigen Wirtschaftslage möglich. Wer heute im Zeichen wirtschaftlicher Schwierigkeiten aber gegen das Bonner System angeht, der muß sich darüber im klaren sein, daß sich allenfalls da und dort Korrekturen erreichen lassen, daß aber das System als Ganzes nur beseitigt, aber nicht verändert werden kann.

Das weiß auch die Opposition! Sie weiß besonders, daß sie jede Sympathie verlieren würde, wenn ihr Vorgehen ab Grund einer Wirtschaftskrise angegeben werden könnte. Ihre Unsicherheit, die sich in der gereizten Reaktion auf Erhards Appell zeigt, wird von einer nicht ganz einfachen Situation hervorgerufen, in der sich die Gewerkschaften seit Jahren befinden. Die Konjunktur hat es mit sich gebracht, daß die Arbeiter immer weniger siel von den Gewerkschaften führen lassei wollten und einem kleinbürgerlicher Ideal zustreben. Gleichzeitig wurder die Industriekonzerne immer mächtige] und erweiterten dementsprechend ihrer politischen Einfluß. Die Befürchtungen diese Tendenz der letzten Jahre würd< mit dem Eintritt der mit der Industrif und dem Großbürgertum eng verbundenen FDP in die Regierungskoalitior immer stärker werden, riefen die Gewerkschaften auf den Plan, derer Tarifkämpfe im Grunde nichts andere; sind, als der Versuch, die in ein Wohl-standsieben ausweichenden Arbeite! wieder in die Hand zu bekommen un< so ein Gegengewicht gegen den steigenden Einfluß der Großindustrie zi bilden. Daher der Versuch, Vorteil&#171; zu erhandeln, in deren Genuß nui Gewerkschaftsmitglieder kommen soll ten. Die neue Regierung steht ja nich nur bei der SPD und den Gewerkschaf ten, sondern auch beim linken Flüge der CDU in dem Verdacht, einen so zialreaktionären Kurs steuern zu wol len. Minister Erhard brachte sich dahe mit seiner Warnung in den ungerecht fertigten Verdacht, die Bemühung&#171; der Gewerkschaften, ihren innerer Zusammenhang zu stärken, bekämpfet zu wollen. Tatsächlich hat die Gewerk schaft kaum eine andere Möglichkeit Mitglieder zu werben, als die, derei Wohlstandsstreben zu unterstützen.

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