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Für den Westen oder für den Wohlstand?

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Damit werden Kräfte aufgerufen, die bisher in Westdeutschland weitgehend im verborgenen gewirkt haben, denn 16 Jahre lang sind diese Probleme tabu geblieben. Es ist nun die entscheidende Frage, ob sie dadurch lösbarer in dem Sinne wurden, daß sie in nüchterner Abwägung des politisch Vertretbaren diskutiert werden können. Dieses zunächst innenpolitischdeutsche Problem kann sehr rasch zu einem werden, von dem die künftige Entwicklung Europas abhängt. Für Westdeutschland muß sich dabei erweisen, wie weit Adenauers Entscheidung für den Westen vom Volk auch dann mitgemacht wird, wenn sie nicht

nur eine Entscheidung für den Wohlstand ist. Die künftige, 1961 zu wählende deutsche Regierung aber wird vor der unendlich schweren Aufgabe stehen, das in den letzten Jahren erworbene deutsche Ansehen und die deutschen Rechte im Osten in eine Relation zu dem vor 21 Jahren von Deutschland vom Zaun gebrochenen und vor 16 Jahren total verlorenen Krieg zu bringen.

Ein böses Wort: „Verzichtpolitiker“

Dieses Problem kann von einem Mann und einer Partei nicht gelöst werden, wenn man nicht das Risiko eingehen will, daß es zum Gegenstand

des Parteienkampfes wird, von dem schließlich die in Westdeutschland noch vorhandenen antidemokratischen Kräfte profitieren würden. Mit dem Problem Ostpolitik ist nämlich unter Umständen alles in Frage gestellt, wa heute das politische Leben in Deutschland ausmacht. Niemand weiß das besser als Chruschtschow, der ganz offensichtlich an dieser Stelle seinen Hebel ansetzen will.

Wird man in der Bundesrepublik bereit sein, dieses Problem leidenschaftslos zu diskutieren und wird man sich wohlstandsgesättigt mit den unter Umständen schmerzlichen Folgen einer so weit zurückliegenden Niederlage auseinandersetzen können? In der Beantwortung dieser Fragen liegen die Entscheidungen dieses Jahres. Als vor einem Jahr im Zeichen der Gipfelkonferenz zum erstenmal die Möglichkeit einer Diskussion der Ostprobleme auftauchte, wurde vom Kehrichthaufen der Geschichte das Wort „Verzichtpolitiker“ hochgeschwemmt. Mit diesem Wort, das Flüchtlingspolitiker in die Debatte warfen, hatten 1916/17 die Alldeutschen, die „Nazis vor den Nazis“, jene diffamieren wollen, die bereit waren, einen ehrenvollen Frieden unter Verzicht auf Belgien einzu

gehen. Diesmal soll es diese treffen, die auch nur ein Stückchen schlesischen, ostpreußischen, pommerschen oder sudetendeutschen Boden preiszugeben bereit sind. Mit dieser harten Welle Politik machen zu wollen, heißt die Gefahr einer Isolierung heraufbeschwören, deren verheerende Rolle Deutschland unter Wilhelm II. und Hitler zu spüren bekam. Es wird in Deutschland in diesem Zusammenhang oft auf das Beispiel Elsaß-Lothringen

hingewiesen, auf das die Franzosen von 1871 bis 1918 niemals verzichtet haben. Es wird dabei aber übersehen, welch entscheidende Rolle der französische Revanchegedanke am Zustandekommen des ersten Weltkrieges hatte. Diesen Preis zu zahlen, würde heute die Vernichtung der Welt bedeuten. Dazu ist im Westen niemand bereit. An dieser letzten Konsequenz sieht jene kleine Schar vorbei, die das Wort Verzichtpolitiker wieder hochspielten und die noch immer glauben, Deutschlands Anteil an der freien Welt bemesse sich an den Divisionen, die es der NATO stellt.

Eine Mahnung zur rechten Zeit

Wie groß ihr Einfluß ist und in welchem Ausmaß es ihnen gelingen kann, im Falle der Diskussion der Ostprobleme Westdeutschlands inneres Gefüge zu erschüttern, ist schwer vorauszusagen. Das Beispiel Belgien zeigt, was in dem komplizierten Mechanismus der Vollbeschäftigung eine Gruppe

skrupelloser Radikalinskis anrichten kann. Es liegen einige Anzeichen für die beunruhigende Annahme vor, daß eine kleine Schar von Berufsflüchtlingen vor gar nichts zurückscheut, wenn es um ihre Interessen geht. In diesen unabwägbaren Auswirkungen liegt das schwierigste innenpolitische Problem begraben, das deswegen so schwer zu lösen ist, weil das von diesen Gruppen vertretene Recht gar nicht bestreitbar ist. Zwischen dem so gern vergessenen Recht des Siegers von 1945 und dem Heimatrecht der Vertriebenen wird in diesen Jahren eine Lösung gefunden werden müssen. Sie kann Westdeutschland ins Chaos stürzen, ja sie kann der politischen Richtung des Landes eine verhängnisvolle Wendung geben. Sie kann aber auch zur Gesundung, zu einem echten staatspolitischen Gefühl führen, das Westdeutschland bisher fehlt. Eine Lösung wird wohl nur im Zusammenwirken aller demokratischen Kräfte zu finden sein. Diese Möglichkeit der Zusammenarbeit der großen Parteien darf in diesem Wahljahr nicht verschüttet werden. Denn nur sie, die demokratischen Kräfte Deutschlands, nicht die Radikalinskis, werden eine freie Welt davon überzeugen können, daß es im Osten unveräußerliche deutsche Rechte gibt. Deshalb war die am Beginn dieses Jahres stehende Mahnung des Bundespräsidenten Lübke, den Gegner im künftigen Wahlkampf zu achten, mehr als eine Phrase.

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