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Maas—Memel oder Saar—Elbe ?

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I.

Die politische Diskussion dieser Tage ist in geradezu erschreckendem Maß dadurch charakterisiert, daß die aufgeworfenen Fragen wohl kühn und wortreich entwickelt, selten aber zu Ende gedacht werden. Mit dem Problem der deutschen Wiedervereinigung steht es — nicht nur außerhalb der deutschen Grenzen — in dieser Hinsicht besonders schlimm. Es zeigt sich an diesem Beispiel, daß weder abstraktakademische Untersuchungen jenseits der Wirklichkeit noch ein sich fälschlich „Realpolitik“ nennender Opportunismus imstande sind, jene Sicht zu gewähren, aus der allein verantwortungsbewußte wie durchführbare Lösungen gefunden werden können. Eine wilde Gerüchteflut, wuchernde Journalistenkombinationen um hingeworfene Bemerkungen vielbeschäftigter Politiker und ein geradezu hemmungsloses ' Theoretisieren haben um den sehr realen Kern dieser Schicksalsfrage Europas einen Rauchvorhang geschaffen, den man nur Schritt für Schritt durchbrechen kann. Und dennoch ist dieser Prozeß der Bewußtseinsklärung und Ur-teilsfindung gerade auch außerhalb der deutschen Grenzen dringend vonnöten. Das deutsche Wiedervereinigungsproblem stellt sich rein formal in dreifacher Form. Die sogenannte kleine Lösung bestünde in der staatlichen Zusammenlegung der heutigen Bundesrepublik mit der Deutschen Demokratischen Republik, wodurch auch das leidige Berliner Problem automatisch gelöst wäre. Die größere Lösung würde eine staatsrechtliche Aenderung des Status der heute unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete einschließen, wobei allerdings noch niemals klar die Grenzen der offiziellen bundesdeutschen Ansprüche angemeldet wurden (Schlesien-Pommern allein oder auch ein Teil Oberschlesiens und des polnisch besetzten Ostpreußens um Allenstein). In allerletzter Zeit ist sogar offiziös eine dritte, „ganz große“ Lösung in die Diskussion geworfen worden, die auch die Rückkehr der ostpreußischen Gebiete um Königsberg einschlösse, die ja bekanntlich unter dem ominösen Rechtstitel der Potsdamer Konferenz sowjetisches Staatsgebiet und unmittelbar danach auch praktisch annektiert wurden. Knapp nach der Einladung Adenauers nach Moskau wurde die Königsberger Frage ja bekanntlich als ein Verhandlungsthema beim deutschen Kanzlerbesuch genannt. Unter dem Eindruck des Nach-Genfer-Wettersturzes für Bonn ist dies allerdings bis zur Stunde nicht wiederholt worden. Lösungen vollends, die auch über diesen Rahmen noch hinausgehen und praktisch die Erweiterung deutscher Ansprüche über die Grenzen von 1937 hinaus anmelden, bedeuten höchstens in den Köpfen klinisch zu behandelnder Narren und in den Spalten der solche Wahngespinste abgreifenden kommunistischen Presse des Auslandes eine Realität. Man kann sie im Rahmen dieser Untersuchung als völlig unerheblich beiseitelassen. Die ersten beiden, hier skizzierten Lösungen des deutschen Wiedervereinigungsproblems stellen aber für jede bundesdeutsche Außenpolitik (und nur eine solche kann ja heute in Deutschland als souverän und handlungsfrei im Rahmen selbstgewählter Vertragsbindungen angesehen werden) politische Realforderungen dar, auf die weder Adenauer noch irgendein anderer deutscher Bundeskanzler der Zukunft theoretisch oder auch nur praktisch verzichten könnte. Es wird nun zu untersuchen sein, worauf sich die Unabdingbarkeit dieser Forderung aus der Perspektive deutscher Politik gründet, zum zweiten, wieweit diese Forderun-, gen ganz oder teilweise auf konkrete Unterstützung der Weltmächte rechnen können und zum dritten schließlich, welche andere Lösungen sich für das deutsche Problem im Falle der Vertagung der Wiedervereinigung auf unabsehbare Zeit ergeben können.

II.

Das staatspolitische Bewußtsein der Menschen unserer Epoche ist — mag man das bedauern oder nicht — nach wie vor geprägt vom nationalstaatlichen Denken. Die Schweizer Ausnahme bestätigt die Regel. Es ist deshalb das müßige Vergnügen von Historikern, zur Lösung der deutschen Frage eine Restauration der Kleinstaaterei in irgendeiner Form vorzuschlagen. Die buntscheckige Landkarte des 17. und ] 8. Jahrhunderts ist nie mehr wiederherstellbar. Und auch ihre, zugegebenermaßen etwas pittoreske Kulturflora (mit freien Reichsstädten, Fürstabteien und Reuß-Schleiz-Greizischen Hofstaaten) kann heute und morgen nicht mehr gedeihen. Mag eine solche Träumerei an französischen Kaminen auch in den relativ gesicherten europäischen Zwischenkriegsjahren noch ein harmloses Gesellschaftsspiel beschäftigungsloser Diplomaten gewesen sein, so ist es heute ein lebensgefährlicher Nonsens. Seit 1945 ist nämlich ein Teil dieses buntscheckigen Deutschland Machtbereich der eurasischen Sowjetunion, der Herrschaftsbereich einer strukturell gleichgearteten „weltlichen Kirche“ geworden, in deren Rahmen nur die Verwaltungsbezirke Chemnitz (Marxstadt) und Glauchau, nicht einmal mehr die althistorischen Länder Sachsen oder gar Preußen Platz haben. Somit erweist sich der Gedanke einer Koexistenz innerhalb Deutschlands als ein Hirngespinst, das keine Bonner Regierung keinem Bonner Parlament (auch nicht einem solchen mit völlig andersgearteter Mehrheit) soweit plausibel machen kann, daß es dafür ein freiwilliges Ja sprechen könnte. Man kann also mit einigem Hausverstand das Axiom aufstellen, daß jede Lösung, die die Wiedervereinigung Deutschlands im staatsrechtlichen Sinn grundsätzlich ausschließt oder auf unbestimmte Zeit vertagt, von den heute und morgen das deutsche Leben bestimmenden politischen Kräften leidenschaftlich abgelehnt würde. Jede frei gewählte deutsche Regierung könnte einer solchen Teilung überhaupt nur unter dem ausdrücklich und öffentlich verkündeten Vorbehalt zustimmen, daß sie hier einem Diktat und der nackten Gewalt weichen muß. Die weißen Handschuhe des Grafen Brockdorff-Rantzau auf dem Tisch von Versailles wären für dieses unter allen Umständen zu erwartende deutsche Nein nur ein sehr schwaches, allzu kavaliermäßiges Symbol. Eine revisionistische und irredentistische Bewegung würde einem solchen Beschluß der Großmächte folgen wie das Amen im Gebet, wie Hitler auf Erzberger. Mehr noch: Die grundsätzliche und freiwillig vertragliche Verzichterklärung auf Schlesien und Pommern wäre nur unter ähnlichen, immerfort weiterschwelenden Krisen zu erlangen, wenn auch hier vielleicht Zwischenformen in der Art eines Kondominiums mit individuellen Freiheiten für die zur Rückwanderung zugelassenen Deutschen (vielleicht wären es dann sogar weniger als man annimmt) nach langen, ermüdenden Verhandlungen zu erzielen wären. Auch der Status quo Königsbergs wäre nicht ohne große, wahrscheinlich aber zu guter Letzt doch irgendwie zu behebende Schwierigkeiten in ein Definitivum umzuwandeln. Alles aufgebauschte Gerede von heimlichem Separatismus konfessioneller oder stammesmäßiger Art aber darf angesichts dieser Realitäten nicht ernst genommen werden.

III.

So weit, so gut. Was wir aber hier aufzeigten, sind die wohl verständlichen, im völkerrechtlichen Sinn auch durchaus billigen Standpunkte der national-deutschen Politik. (Eine andere gibt es bislang trotz gelegentlicher Festreden auch in Bonn nicht.) Was aber soll dies alles in letzter Entscheidung für die Staatskanzleien der Weltmächte bedeuten? Man hat im Laufe der Jahrhunderte schon andere, heimlich bedauernd auch als berechtigt anerkannte -Grundansprüche kleinerer und mittlerer Völker übergangen. Schließlich fielen die Teilungen Polens den Großmächten auch nicht immer ganz leicht. Kann man also — und darauf konzentriert sich unsere Fragestellung — in aller Nüchternheit und Abwägung der auf dem Spiel stehenden Für und Wider, zu denen so gewichtige Dinge wie immerhin die H-Bombe gehören, von den Großmächten verlangen, daß sie um der Lebensforderungen des aus bekannten Gründen nicht einmal allzu beliebten deutschen Volks willen notfalls die eigene physische Existenz der Bedrohung eines dritten Weltkrieges aussetzen? Wäre dies wirklich, ganz abgesehen von den leitenden Staatsmännern des Westens, der Wille des amerikanischen, englischen oder gar des französischen Wählers und Staatsbürgers, Rekruten und Steuerzahlers? Ob man diese Gretchenfrage bejaht oder verneint, hängt von der Ebene des eigenen Denkens ab, hängt letztlich davon ab, was man in der Politik als letztentscheidende Realität betrachtet. Politik, die wir im vorhergehenden Absatz unter brutaler Abweisung aller beschönigenden Phrasen auf die grausamen Realitäten der deutschen Situation zurückzuführen unternahmen, mündet hier zwangsläufig in die Wertbereiche und Maßstäbe der Philosophie, endlich sogar der Theologie ein. Das oben auf seinen begrenzt nationalpolitischen Aspekt reduzierte Problem der deutschen Wiedervereinigung wird in dieser daraus folgernden Fragestellung ganz von selbst zu einem, das auch uns sehr unmittelbar angeht. Es ist ratsam, in den Briefen und Akten der Kaiserin Maria Theresia nachzulesen, mit welchen Kommentaren diese Frau und Herrscherin den üblen Teilungshandel der. Machiavellisten in Sanssouci und Petersburg um Polen, die Kaunitzschen Machenschaften in der Bukowina, bei denen ja „nur“ der böse heidnische Großtürke betrogen und begaunert werden sollte (und wurde), versah. Was hier in elementaren Cefühlsausbrüchen des Abscheus und der brennenden, wenn auch nur ungewiß formulierten Zukunftsfrage anklingt, ist heute nach fast zwei Jahrhunderten bereits in der Sprache der Philosophie ausdrückbar.

Sieht man also das deutsche Wiedervereinigungsproblem nur als nationalpolitische Angelegenheit, denkt man in den inzwischen als nicht nur unmoralisch, sondern auch als falsch erkannten Maßstäben des 18. Jahrhunderts, bleibt man bei Richelieu, Friedrich von Preußen, Kaunitz und Genossen stehen, dann freilich gibt es keine Frage. Dann ist das deutsche Wiedervereinigungsproblem im Sinne der wiederholten polnischen Teilung gelöst, und der Ruf eines deutschen Kosziuzkos „Finis“ wird kaum mehr als rhetorischen Effekt hervorrufen. Man würde, so glaubt man im Verlaß auf Statistik und Zahlenspiegel, auch mit einem immer aufbegehrenden Deutschland so oder so fertig werden, wobei man allerdings in besonders schlauen westlichen Kreisen vergißt, daß gerade ein solcherart an die Wand gedrängtes Deutschland mit größter Wahrscheinlichkeit das Steuer herumwerfen und zum echten Verbündeten Rußlands werden, mithin also die Wiedervereinigung als Geschenk des Kremls empfangen würde. Geht man aber, wie es heute unerläßlich geworden ist, in der Analyse des Wirklichen, das in der Politik wie im Einzelleben gilt, eine entscheidende Schicht tiefer, dann stellt sich das Problem anders dar. Dann wird erkennbar, daß es bei der deutschen Frage letzten Endes nicht um ein territoriales, sondern um ein geistiges Problem geht. Man konnte vor 400 Jahren zu Augsburg noch in der Täuschung leben, daß das „cuius regio — eius religio“ die religiöse Frage auf die Dauer lösen konnte, weil sich katholisches wie evangelisches Christentum wenigstens dem Grundgehalt nach noch in einem übergeordneten Kosmos der Gewissensfreiheit friedlich-schiedlich nebeneinander denken ließen, und weil die Basis dieser Koexistenz in der religiösen Toleranz selbst noch aus dem christlichen Vaterhaus des Hochmittelalters in die neue Zeit hineinreichte. Bei der Ost-West-Frage in Deutschland aber geht es um etwas anderes. Hier ist die beiderseitige Angleichung nur in rein technischen, äußerlichen Teilfragen (und auch da nur arbeitshypothetisch) möglich. Und der Bau eines gemeinsamen deutschen Staates verlangt von Anfang an ein Entweder-Oder. Bei allen Unvollkommenheiten großer und größter Art gibt es für die freiheitliche Welt keine andere verhandlungs- und bündnisfähige Realität Deutschlands als jene der heutigen Bundesrepublik. Diese Bundesrepublik aber kann nicht als Naturschutzpark konserviert werden. Sie ist von ihrem gesamtdeutschen Aspekt nicht zu trennen. Es bleibt also für die westliche Welt kaum eine andere Wahl, als entweder das Minimalprogramm der Bundesrepublik und ihrer gegenwärtigen Führung mit vollem Eigengewicht zu unterstützen und die gesamtdeutsche Forderung als eine nicht nur nationale, sondern höchsteigene zu begreifen und zu vertreten, oder aber mit der eingestandenen Preisgabe Mitteldeutschlands die Bahn einzuleiten, die auf dem Umweg über einen vielleicht aufflackernden Nach-Nazismus der Verzweiflung in Deutschland zur Preisgabe ganz Europas an ein politisches System führt, das dann weder östlich noch westlich, sondern, dem Gesetz, wonach et angetreten, getreu, „ökumenisch“-total sein wird. Auch dann wird die Ost-West-Spannung gelöst, und zwar definitiv gelöst.

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