6814620-1973_01_06.jpg
Digital In Arbeit

Bereit - für den Krieg von gestern?

19451960198020002020

Im agitatorischen Hin und Her um Bundesheer und Landesverteidigung mit stets wiederkehrenden Floskeln und Phrasen gehen jene Fragen unter, um die es eigentlich geht. „Reform“ allein besagt noch gar nichts, wenn ihr nicht eine bestimmte Strategie unterlegt wird. Von dieser, was sie für das Bundesheer und jeden einzelnen Bürger bedeutet und ob es sie überhaupt gibt, erfährt der eigentliche Träger des Verteidigungswillens, das Volk, so gut wie nichts.

19451960198020002020

Im agitatorischen Hin und Her um Bundesheer und Landesverteidigung mit stets wiederkehrenden Floskeln und Phrasen gehen jene Fragen unter, um die es eigentlich geht. „Reform“ allein besagt noch gar nichts, wenn ihr nicht eine bestimmte Strategie unterlegt wird. Von dieser, was sie für das Bundesheer und jeden einzelnen Bürger bedeutet und ob es sie überhaupt gibt, erfährt der eigentliche Träger des Verteidigungswillens, das Volk, so gut wie nichts.

Werbung
Werbung
Werbung

Jeder Krieg, heißt es, beginne so, wie der vorangegangene geendet habe. Am Ende des ersten Weltkrieges erschienen die „Tanks“ und die ersten brauchbaren Kampfflugzeuge. Zu Beginn des zweiten Weltkrieges spielten diese inzwischen hochentwickelten Waffen eine beherrschende Rolle. An seinem Ende gab es die erste Atombomibenexplosion. Dazwischen entfaltete sich der „technische Krieg“ mit seinen großflächigen Operationen, in denen die ehemals so festen Begriffe wie Front, Etappe und Hinterland zusammengeschmolzen wurden. Der Krieg war „total“ geworden und so auch nicht mehr „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mattein“, sondern „die Zerstörung der Politik mit allen Mitteln“. Der jeweils „totalen Kapitulation“ entsprach der jeweils „totale Sieger“.

Kennzeichnend für den zweiten Weltkrieg ist, daß er als Angriffskrieg begann und als solcher geführt wurde. Er endete auch als Angriffskrieg, in welchem die schließlichen Sieger das Gebiet des Feindes eroberten und besetzten.

Die unheimliche Gewalt der Explosion der ersten Atombombe — eine typische „Angriffswaffe“, zumal, wenn sie von ferngelenkten Raketen getragen wird — bestimmte die künftige „Weltstrategie“. Sie zeigt eindeutig offensiven Charakter und wirkt nur durch die drohende totale Vernichtung aller in psychologischer Rückkoppelung „defensiv“. Diese „strategische Weltsituation“ wird durch zwei erkennbare Faktoren bestimmt: erstens durch das „atomare Patt“ der Supermächte, ein „Gleichgewicht des Schreckens“, und, zweitens, durch sogenannte „Stellvertreterkriege“ da die Supermächte durch die ihnen zu Gebote stehende totale Zerstörungskraft, die auch eine Selbstzerstörung heraufführen würde, „gefesselten Riesen“ gleichen, weshalb sie das Ringen um „Vor-“ oder „Übermacht“ von anderen, meist schwachen Vasallen führen lassen.

Da, wie man weiß, auch der Frömmste nicht in Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt und da man auch weiß, daß sich die „mächtigen Schiedsrichter“ gehindert sehen könnten, solche „Matches zu pfeifen“, mußten sich — wohl oder übel — auch die neutralen oder wenigstens blockfreien Staaten dazu bequemen, sich zum Schutze vor „stellvertretenden Aggressionen“ zu bewaffnen. Das gilt natürlich auch dann, wenn solche Staaten in derzeit halbwegs „friedlichen Zonen“ liegen, und so gilt es eben auch für Österreich.

Mit „Friedenspolitik“ allein, so sehr man auf deren Erfolg auch setzen muß, ist nämlich nicht alles getan. Si vis pacem, para bellum; das gilt auch heute noch.

Doch genügt es nicht, gerüstet zu sein. Die Frage lautet: gerüstet wofür, wogegen und womit? Als mit dem Staatsvertrag und der Neutralitätserklärung Österreich damit begann, sich wieder zu bewaffnen, lag dem eine Konzeption zugrunde, die etwa so lautete: Schutz der Grenzen des Staates. Schutz zu Lande und in der Luft.

Diese Konzeption ist, soferne man auch nur ein geringes strategisches Verständnis besitzt, für einen so kleinen und schwachen Staat kaum effektvoll durchzuhalten. Gemessen an Kraft und Möglichkeiten ist diese lange Grenze, die ja in ihrer Gesamtheit geschützt werden muß, schwerlich zu halten. Abgesehen von nicht vorauszusagenden Bedrohungen durch „Stellvertreterkriege“ — wer immer dann auch dahinter stünde — kreuzen sich über Österreich zwei „weitstrategische Konzepte“. Im unerwünschten Katastrophenfall einer „großen West-Ost-Auseinandersetzung“ wird es wohl im Interesse der NATO liegen, die durch Österreich und die Schweiz querliegende neutrale Zone an ihrer schwächsten Stelle (Tirol?) zu durchstoßen, um sich rasche Nord-Süd-Verbindungen zu sichern. Dem Block der Warschau-Pakt-Staaten muß es wiederum angelegen sein, den „ostösterreichischen Brückenkopf“ zu beseitigen, der tief in das eigene Gebiet hineinreicht und „dem Feind“ nicht zur Verfügung stehen darf.

Da wir ausschließen müssen, daß sich Österreich in einem solchen Getümmel auf diese oder jene Seite schlägt, schon, weil es dann zunächst ein „Hauptkampfgebiet“ mit allen entsetzlichen Folgen werden würde, ist ihm eine reine Defensivstrategie auferlegt. Dieser Überlegung stand jedoch von Anfang an einiges entgegen.

Zunächst ließen die abziehenden Alliierten die ihnen überflüssig erscheinende eigene Bewaffnung zurück. Sie verbanden damit wohl auch den Wunsch, eben dadurch zu einem späteren Rüstungs- und Ersatzteilgeschäft mit allen Begleitfolgen zu kommen. Diese Bewaffnung war zum großen Teil veraltet — und sie war überwiegend eine „Offensivbewaffnung“.

„Offensiv“ waren auch die auf Grund von Schulung und Einsatz im zweiten Weltkrieg gewonnenen Erfahrungen des Offiziers und Unteroffizierskorps „der ersten Stunde“. Dieser „strategische Offensivgeist“ wurde weiter genährt durch Ausbildungskurse und Studien, welche beträchtliche Teile dieses Korps just in den USA und in der Sowjetunion absolvierten. Aus alledem entstand ein Heer, ausgerichtet auf eine im Ernstfall nicht haltbare Konzeption des „Schutzes der Grenzen“ an der Grenze und versehen mit zahlreichen Offensivwaffen zu Lande und in der Luft, die mit der Konzeption nicht in Einklang standen.

Die Einsicht, daß darin jede Elastizität — aber auch jeder Glaube an einen Erfolg! — verlorengehen muß, bewirkte die „erste Heeresreform“ unter Schleinzer; sie erfolgte nur zaghaft und nur stellenweise und blieb als „Umgliederung“ im Gedächtnis. Was auch noch blieb, war eine Schulung und Ausbildung von jener „klassischen Art“, die man im zweiten Weltkrieg kennengelernt hatte. Grob heraus gesagt der Versuch einer Kleinstaatarmee, das in Erinnerung behaltene System einer Großmachtarmee (mit reiner Offensivstrategie) zu kopieren, wenn auch in minimalisierter Form.

Der Versuch blieb unpopulär; da man ihn dem Volk auch nicht erklären konnte oder nicht erklären wollte — einer der vielen sträflich unterlassenen Akte „geistiger Landesverteidigung“ — begann ein „Zersetzungsprozeß“ im Kern wirksam zu werden.

Allmählich begann man „umzudenken“. Man kam dahinter, daß ein „totales“ Verteidigungskonzept notwendig sei; dieses würde sich freilich, wie auch immer beschaffen, nicht so ohne weiteres realisieren lassen. Völlige Um- und Neugliederungen boten sich an. Eine abgeänderte und differenziertere Ausbildung schien geboten. Die Bewaffnungspolitik müßte einer — wahrscheinlich kostspieligen — Revision unterzogen werden, um nur einige kritische Punkte aufzuzeigen.

Auf dem Plan erschienen Offiziere und Fachleute, die einer solchen Defensivstrategie des „größeren Raumes“ das Wort redeten. Nicht „die Grenze“ sollte gehalten werden, sondern eine in die Tiefe gestaffelte, elastische Verteidigung mit „Rund-umplätzen“ einerseits und — folgerichtig — „offenen Städten und Räumen“ anderseits, schien geboten. Das alles verstärkt durch einige sehr bewegliche Einheiten, die rasch als „Feuerwehr“ eingesetzt werden können.

Da eine „perfekte Luftverteidigung“ für Österreich weder aus finanziellen noch aus räumlichen Gründen möglich erscheint, würde dies eine völlige Schwerpunktverlagerung bedeuten, bei der sich allerdings viel Geld ersparen ließe, und auch viel Zeit und Ausbildung. Auch die Panzerwaffe, zum großen Teil „offensiv“, wird man anders ausstaffieren müssen. Und schließlich wird die Ausbildung (und 'Bewaffnung sowie Motorisierung) insoferne differenzierter (und in einzelnen Fällen, z. B. „Rundumverteidigung“) auch kürzer sein müssen, weil es ein Unterschied ist, ob jemand für „stationäre Verteidigungsaufgaben“ geschult wird oder für große Beweglichkeit.

Berücksichtigt muß auch werden, daß fü? Österreich ein von Jugoslawien im zweiten Weltkrieg erfolgreich praktiziertes Modell, der Partisanenkrieg, kaum ernsthaft in Erwägung gezogen werden kann. Das Naturell und andere Eigenschaften des Österreichers sprechen da nämlich dagegen. Solche Aufgaben könnten also nur einigen Sondertruppenteilen zugewiesen werden.

Im Hintergrund der Frage nach den „Bereitschaftstruppen“ (beweglich) und der „Landwehr“ (stationär) wird deutlich, wie weit diese Gedanken bereits gediehen sind. Dem General Spannocchi wurde die Aufgabe gestellt, eine Lösung zu finden. Das ist sicherlich keine leichte Aufgabe, denn sie muß mit einer ganzen Anzahl festgefügter Vorstellungen (die aus den Erfahrungen des letzten Krieges stammen), Vorurteilen des Prestiges und schließlich auch mit dem bisherigen Erscheinungsbild des Bundesheeres, Bewaffnung inclusive, brechen ...

Was dem Kreis um Spannocchi, der ebenso viele Freunde wie Gegner hat, vorschwebt, ist die Fernhalltung jedes Angriffes auf Österreich, auch eines von Großmächten, durch das „Offert eines unverhältnismäßig hohen Eintrittspreises“.

Niemand bei gesundem Menschenverstand wird annehmen, daß sich Österreich dem Angriff einer Großmacht oder deren Verbündeter — ob NATO oder Warschau-Pakt — lange Zeit hindurch widersetzen könnte. Wer das glauben sollte, irrt, so wie jene irren, die da meinen, Hitler würde etwa die Schweiz nicht bezwungen haben, wenn er das gewollt hätte. Was die Schweiz — neben anderen politischen Überlegungen — schützte, war vor allem der „übermäßig hohe Eintrittspreis“, den Hitler hätte zahlen müssen. Genau das aber ist auch Österreichs Chance. Nicht, daß es „seine Grenzen hält“, sondern daß die Besetzung des Landes erstens unmäßig hohe Verluste auch für den Angreifer mit sich brächte, daß sie sich infolge elastischen und gestaffelten Widerstandes unmäßig lang (das kann schon ein, zwei, drei Wochen sein!) hinziehen könnte und daß schließlich ein unmäßig hoher „Besatzungsaufwand“ (der an anderer Stelle fehlen würde) getrieben werden müßte. Scharf kalkulierende Großmächte

— und sie müssen angesichts der „Weltstrategie“ so scharf kalkulieren

— pflegen dann oft den für sie weniger verlustreichen, wenn auch technisch schwierigeren Umweg zu wählen und solche Gebiete „auszusparen“. Auch dafür gibt es Beispiele aus dem zweiten Weltkrieg und vor allem aus seither geführten Klein-und „Stellvertreterkriegen“, z. B. auch in Vietnam und Indochina.

Wie man hört, trägt sich eine Anzahl von Richtern und Justizfunktionären mit der Absicht, bei Einführung der großen Strafrechtsreform aus dem Amt zu scheiden. Sie wollen, was man verstehen muß, nicht mehr umlernen. Ein ähnlicher Prozeß erfaßt gegenwärtig auch das Bundesheer; es ist nicht nur Resignation vor der „Demontage“, und es 'ist nicht nur „Wehrunlust“, weshalb Offiziere retirieren und weshalb der Nachwuchs ausbleibt — es spielen da auch Unlust am Umlernen einerseits und Unsicherheit darüber, wie es weitergehen wird, anderseits ihre bestimmte Rolle.

Wenn man sich etwas wünschen dürfte, würde man sich mehr und bessere Information und weniger Partei- und Prestigepolitik wünschen. Das Bundesheer könnte allenfalls noch das gegenwärtige Gezerre einigermaßen heil überstehen, der Träger und Vollstrecker des Verteidigungswillens, das Volk, aber nicht!

Schöne Phrasen und unglaubwürdige Vortäuschungen sind jetzt nicht mehr gefragt. Durch sie wird der Verteidigungswille nur noch mehr gelähmt und die noch vorhandene Verteidigungsbereitschaft fehlgeleitet. Was bei der „Aktion Spannocchi“ zum Vorschein kommen und diese beschließen sollte, ist eine klare Vorstellung über Österreichs Defensivstrategie (Landesverteidigungsdoktrin) und wie man dieser am besten entspricht. Sollte man sich aus einleuchtenden Gründen, die man dann aber auch der Öffentlichkeit im Klartext vortragen soll, zu einer anderen Konzeption entschließen, der es an Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit nicht fehlen darf, dann bitte sehr, aber bitte bald. Österreich soll nicht für den „Krieg von gestern“ bereit gemacht werden, sondern für den Ernstfall von morgen, der dann gerade dieser Bereitschaft wegen hoffentlich gar nicht erst eintritt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung