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Haben wir ein Verteidigungskonzept?

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Die Aktualität der Frage nach dem Sinn des Bundesheeres wird immer drängender — gemessen an dem Unbehagen vieler Österreicher in bezug auf Form, ja Existenz unserer Armee. In jüngster Zeit wird nun mit — zwar demagogischen Methoden, jedoch wie es scheint — legalen Mitteln die Existenz dieser Institution selbst in Frage gestellt, und die vorhandene Malaise wie der direkte Angriff verlangen ernsthaft die Eröffnung einet Diskussion mit Argumenten, die haltbar sind und überzeugen können.

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Die Aktualität der Frage nach dem Sinn des Bundesheeres wird immer drängender — gemessen an dem Unbehagen vieler Österreicher in bezug auf Form, ja Existenz unserer Armee. In jüngster Zeit wird nun mit — zwar demagogischen Methoden, jedoch wie es scheint — legalen Mitteln die Existenz dieser Institution selbst in Frage gestellt, und die vorhandene Malaise wie der direkte Angriff verlangen ernsthaft die Eröffnung einet Diskussion mit Argumenten, die haltbar sind und überzeugen können.

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Der fehlende Glaube an den Sinn der Armee eines Kleinstaates im Atomzeitalter ist keine österreichische Spezialität. Der Glaube an die Nützlichkeit unseres Heeres im Bereiche möglicher Nuklearstrategie der Supermächte kann nur nach Studium und durch Information erworben, längst aber nicht mehr vorausgesetzt werden. Möglicherweise haben in Österreich auf diesem Gebiet Fachleute und Verantwortungsträger Unterlassungssünden begangen und damit eine sehr komplexe Problematik der intuitiven Skepsis vieler, aber auch der gezielten Aggression einzelner, insgesamt jedoch dilettie-render Gegner überlassen. In dieser Lage kann wohl nur der Versuch einer rationalen Rechenschaft helfen, die genau an den Punkten ansetzt, die in der öffentlichen Meinung am meisten zu stören scheinen.

In seiner spöttelnden Selbsterkenntnis neigt der Österreicher dazu, sein weitverbreitetes Talent zur Improvisation auch dort zu suchen — und zwar als Verhaltensweise! —, wo schwierigste staatspolitische Aufgaben bewältigt werden sollen, wie etwa im Bereiche der militärischen Verteidigung. Und so wurde die natürliche Frage nach dem Plan dieser Verteidigung, angesichts offenkundiger Schwächen, schnell zur Feststellung bewiesener Konzept-losigkeit

Der Auftrag

Um den in der Bundesverfassung, dem Neutralitätsgesetz und dem Wehrgesetz nur sehr global angedeuteten und für eine militärische Konzeption durchaus unzulänglichen Auftrag hinreichend zu ergänzen, faßte bereits die seinerzeitige Koalitionsregierung, am 11. Mai 1965, über Empfehlung des Landes-verteidigungsrates einen Beschluß, demgemäß der Sinn des Bundes -heeres darin besteht, durch Vorbereitung einer erfolgreichen Verteidigung einen Angriff auf Österreich zu verhindern und unserem Land zu ersparen, in Kriege verwickelt zu werden. Das nämlich ist die — unseren Landsleuten noch in hohem Maße ungeläufige — Konsequenz der von ihnen noch nicht bewältigten Neutralität.

Mit dieser Erkenntnis aber wird das Ziel nicht vereinfacht, sondern leider kompliziert. Die politische Umwelt hat nun einmal das Recht, zu erwarten, daß der Neutrale primär die politische Krise beherrscht, und zwar sowohl im Zustand der Spannung als auch zum Zeitpunkt etwaiger militärischer Konflikte innerhalb seiner Umwelt. Der Neutrale muß also glaubwürdige Sicherheit schaffen und nicht Unsicherheit provozieren, indem er, vom Standpunkt des einen Interessenten gesehen, zum wehrlosen Spielball des anderen, dritten, werden könnte. Unsere Neutralität ist also mindestens ein politisches Dreiecksgeschäft, von dem nicht nur wir, sondern ebenso unsere Nachbarn Nutzen haben wollen.

Die Frage nach der Chance

Ist das aber auch heute noch möglich, in der Konfrontation mit einer modernen strategischen Umwelt? Gerade diese Frage wird meist reaktionsschnell und ohne Überlegung mit „Nein!“ beantwortet — und damit ist der Stab über das Bundesheer auch schon gebrochen. Die Zweifler gehen von der Feststellung aus, daß jeder Konflikt in Europa nuklear-strategisch ausgetragen wird. Technisch ist das natürlich möglich, empirisch aber spricht

seit Hiroshima nichts dafür und alles gegen diese Behauptung. Warum? Weil die Großen beim ersten Schlagaustausch je 130 Millionen Tote hätten und das auf keinen Fall riskieren, schon gar nicht wegen Österreich.

Diese Auffassung beruhigt und schockiert gleicherweise. Es wäre also ein „proportionaler“ Konflikt, der Österreich abverlangt werden könnte, und dessen Bewältigung es deswegen nicht überforderte, weil unser politisches Gewicht und die strategische Herausforderung in einem logischen Verhältnis zueinander stünden. Diese Relation, Eigengewicht : Größe der strategischen Herausforderung, ist das Gesetz politisch-strategischen Verhaltens im Atamzeitalter. Es ist schwierig zu verstehen, aber wirksam. Österreichs politische Aufgabe ist also, in Befolgung dieses Gesetzes, auch nach den Normen des Völkerrechtes nur als „bewaffnete Neutralität“ zu lösen. Es besteht somit kein Anlaß, zu experimentieren. Im Gegenteil!

Planungsmaximen

Der nächste Schritt führt zur eigentlichen Planung. Wonach aber hat diese sich zu orientieren? Im wesentlichen wohl nach zwei Komponenten: nach den Möglichkeiten und Richtungen aggressiver Herausforderung und nach dem eigenen Potential. Hauptgefährdungsräume sind:

• das Alpenvorland im salzburgisch-oberösterreichischen Raum,

• das Tiroler Inntal und

• die südliche Steiermark.

Die Benützung dieser Räume kann bei einem Konflikt zwischen den Paktsystemen im operativen Interesse der Gegner liegen. Die Mittel, die zu einem Angriff auf Österreich angesetzt werden könnten, dürfen mit fast zwingender Wahrscheinlichkeit als „konventionell“ angenommen werden und stehen nur begrenzt zur Verfügung. Das Kräfteverhältnis Zentraleuropas West : Ost, bezogen auf Großverbände, steht 26 :100. Das bedeutet, daß der Westen nur sehr geringe Teilkräfte für eine Operation um Österreich von entscheidenderen Räumen abzweigen kann und daß auch der Osten von den wesentlichen Punkten seiner Konzentration keine uns überwältigende Mehrheit umdirigieren darf. Das wissen beide. Es muß also erwartet werden, daß jeder mögliche Aggressor bei einem etwaigen Angriff seine überlegene Technik ins Spiel bringen wird, um rasch vollendete Tatsachen zu schaffen.

Dem gegenüber steht das Abwehrpotential Österreichs. Daß es begrenzt ist und jedem potentiellen Gegner prinzipiell unterlegen, wissen wir. Sein Ansatz muß demnach so erfolgen, daß eine präventive Wirkung nach außen, aber auch Glaubhaftigkeit nach innen erreicht wird. Dabei sind drei prinzipielle Ziele im Auge zu behalten:

• Bei zentraleuropäischen Krisen oder Konflikten, deren Wirkuings-linien primär nicht gegen oder über Österreich gerichtet sind, kommt es darauf an, durch Bereitstellung unserer Abwehrkraft den Zustand der Nichteinbeziehung zu erhalten.

• Im Falle eine feindliche Operation über österreichisches Gebiet hinweg unvermeidlich erscheint, muß es das strategische Ziel sein, so nachhaltig Widerstand zu leisten, daß der eigentliche Gegner des Aggressors die Möglichkeit erhält, in seinem eigenen Interesse Österreich zu Hilfe zu kommen.

• Bei Versagen jedweder anderen Möglichkeit ist derart zu widerstehen, daß Österreich als politisches Subjekt erhalten bleibt und staatspolitisch wiederaufgebaut werden kann.

Verteidigungssystem

Diese Ziele sind, nüchtern betrachtet, erreichbar und stellen auch für ein kleines Land kein Zeichen politischer Großmannssucht d^r. Da der Druck auf Österreich in die Bedrohungsstufen Krise, Neutralitätsfall und Verteidigungsfall eskalieren kann, muß auch die Abwehr danach ausgerichtet sein.

Das bedeutet, daß im Krisen- und Neutralitätsfall stets einsatzbereite Verbände zur Verfügung stehen sollten, die sehr kurzfristigen Anforderungen genügen müssen, deren Nichtmeisterung eine neutralitäts-politische Gefahr wäre. Zur Beherrschung der Krisen- und Neutralitätsanforderungen benötigt Österreich auch eine Luftraumkon-

die Fläche des Landes behauptet. Sie wirkt durch Abnützung, durch Zeitverlust, sie macht ihrer Kleinziele wegen die Angriffsluftwaffe weniger wirkungsvoll und — sie ist erprobt.

Organisation und Durchführung

Die Einsatzverbände des Heeres sind in drei Gruppen gegliedert, die, entsprechend der jeweiligen Wehrgeographie, entweder . panzerstark (Gruppe I) oder infanteriestark (Gruppe II und III) gehalten werden. Diese Verbände, auf sich allein gestellt, können nur die begrenzten Aufgaben erfüllen, wie sie bei der Erläuterung der Grundidee aufgezeigt wurden. Sie müssen „aus dem Stand“ antreten können und werden bei Erhöhung der Gefahr um etwa 30 Prozent, bezogen auf die Bataillone, und um etwa 50 Prozent, bezogen auf das ganze Bundesheer, durch Mobilmachung verstärkt. Angesichts einer Bedrohung der österreichischen Neutralität reichen diese Verbände keinesfalls aus. Eine nachhaltige Sicherung des gesamten Grenzraumes sowie die Vorbereitung eines entsprechenden Widerstandes in der Tiefe kann nur, in gänzlich anderem Verfahren, über eine Territorialverteidigung erreicht werden. Sie ist derart geplant, daß diese Landwehr, zusammen mit dem Einsatzheer, in einer ersten Phase eine Gesamtstärke von 200.000 Mann

trolle. Diese Aufgabe überfordert seine Möglichkeiten nicht. Sie ist mit einem Luftrauimüberwachungs-

system, einer Leitelektronik und relativ wenigen Abfangjägern zu lösen.

In der äußersten und tödlichen Gefahr des gezielten Angriffs kann Österreich sich nicht allein auf die Wirksamkeit der Abwehrmittel verlassen, die nur für die Bewahrung der Neutralität genügen können. Der Überlegenheit der feindlichen Technik kann weder heute noch in Zukunft dieses Land etwas Gleichwertiges gegenüberstellen. Aber nach erfolgtem Angriff gilt es, feindliche Technik zu unterlaufen. Die hiefür erfolgversprechende Taktik hat viele Namen. Wir nennen sie „Kleinkrieg“. Es ist das die Verteidigungsart, die, territorial verankert,

erreicht und in einer folgenden Phase mit weiteren 100.000 Mann das Mobilheer auf insgesamt 300.000 Mann verstärkt.

Das also wäre das zugrunde zu legende Konzept. Es gleicht im Prinzip weitgehend der aktuellen Schweizer Konzeption.

Ob das genügt? An diesem Punkt setzt die eigentliche Kritik an der Institution des Bundesheeres ein. Die Öffentlichkeit ist beunruhigt über eine mangelhafte Ausnützung der Dienstzeit, über die inneren, geistigen und beruflichen Strukturen unserer Armee, zweifelt an der Aus-bdldungsmethodik.

Da wir wohl unbestreitbar den Auftrag haben, unsere Bevölkerung mit ihren eigenen Männern zu verteidigen, müssen wir deren Wünsche zur Kenntnis nehmen, wollen wir nicht

eine Desintegration Volk — Armee, in Kauf nehmen. Sosehr aber die selbstverständliche Berechtigung der Kritik des Volkes an seinem Heer akzeptiert werden muß, so sicher können Verbesserungen nur dort vollzogen werden, wo Fehler gemacht wurden. Alles in Frage zu stellen, auch dort, wo damit brauchbare Formen und Inhalte zum Schaden des Resultates verlorengingen, kann nicht Zweck der Überlegung sein, auch nicht der einer Reform.

Notwendige Überprüfungen

Demnach wäre zunächst der Verband des Einsatzheeres zu überprüfen. Zuerst der Sonderkomplex der Luftstreitkräfte. Ihr Auftrag kann nur sein, im Falle einer Krise die Verletzung unserer Souveränität im österreichischen Luftraum zu verhindern und zu beenden. Bei der Lösung dieses Teilprogramms wurde viel Zeit verloren — der ärgerliche Widerhall in unserer Bevölkerung, bezüglich der Unterlassungen bei Luftraumverletzungen, war die begreifliche Reaktion. Nunmehr wurde der Entschluß gefaßt, in das schwedische System einzusteigen; der Weg über Trainer und Mehrzweckflugzeug zum Abfangjäger ist vorgezeichnet. Wir stehen erst am Beginn, beim Unterschallmehrzweckflugzeug, mit dem kein schnelles Flugzeug gestellt werden kann. Der gleichzeitige Ausbau der Gesamtelektronik kommt langsam voran. Die ausgewählte Variante ist eine von den möglichen — Österreichs Lage, Größe und Gestalt werden eine perfekte Lösung nie erlauben. Unser Weg aber führt zu dem neutralitätspolitisch unabdingbaren Ziel der funktionstüchtigen Luft-raumkontrolle und der Neutralitäts-abwehr etwa in Polizeifunktion; zu mehr nicht. Und die Erreichung dieses Zieles wird noch Jahre dauern. Die noch offene Zeit ist weniger die Konsequenz einer mangelnden Planung, eher schon die Folge nicht gegebener Mittel. Effektivität, auch nur in der Kontrolle, kommt nur aus erfüllten technischen Voraussetzungen, und diese sind natürlich teuer.

Der Verteidigungsfall

Der Auftrag für den Verteidigungs-fall ist klargestellt. Zu seiner Erfüllung aber reichen die Einsatzverbände nicht aus — sie können nur nach den Prinzipien konventioneller Kriegsführung eingesetzt werden —, und hier wird die überlegene Technik zugunsten des Angreifers entscheiden. Zumindest auf den Gebieten der elektronischen Datenbeschaffung (Aufklärung), der Luftraumbeherrschung und des weitreichenden konventionellen Feuers wird Österreich nie eine vergleichbare Ausrüstung bereitstellen können. Sich hiebei in einem Wettrüsten zu versuchen, hieße jede Glaubwürdigkeit — und damit jeden Abschreckungseffekt — verspielen.

Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt nur im Abweichen von der Klassik. Letztlich kann die Technik nur von Menschen unterlaufen werden. Menschen, die im eigenen Lande sich den besten Platz zum Widerstand wählen, jeden Wald kennen und keinen Baum ungenutzt lassen. Ihre Bewaffnung ist im System vergleichsweise billig, soll sie aber effektiv sein, wird schon die mengenmäßige Versorgung kaum eine Ersparnis bringen. Das erreichbare Ziel aber ist eine glaubhafte Antwort auf jede unserer politischen Größe angemessenen Herausforderung und somit — eine echte Chance. Diese Art des bewaffneten Widerstandes ließe sich mühelos mit einem Konzept unbewaffneter „Resistance“ verbinden. Warum hier ein „Entweder — Oder“ lautstark vertreten wird, ist schwer verständlich Wer Österreich meint, wird beides addieren. Es scheint doch recht gefährlich, auf den bewaffneten Selbstschutz zu verzichten, der sich seit 1945 in vielen Fällen auch bewährt hat, um sich auf einen waffenlosen Widerstand zu verlassen, dem der Erfolgsausweis noch nicht gelang. Die Konsequenz dieser Erkenntnis ist der Ausbau einer territorialen Verteidigungsorganisation, die das ganze Land in seiner relativen Tiefe absichert. Das System der Landwehr, deren erste Grenzschutzkompanie noch auf die Zeit der vorvergangenen Legislaturperiode zurückgeht ist eine logische Entwicklung dieses Fortsetzung auf Seite 4

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