6714227-1964_35_04.jpg
Digital In Arbeit

Insekten oder Igel?

Werbung
Werbung
Werbung

Der Regierungsbericht über den Stand der Landesverteidigung ist zweifellos ein Ereignis, das einmal als Meilenstein auf dem Weg des Aufbaues unserer Landesverteidigung bezeichnet werden könnte, wenn aus ihm Konsequenzen gezogen werden. In der Schweiz, die ja nicht nur in der Art ihrer Neutralität, sondern auch in der Art der Handhabung der Demokratie als Muster gelten kann, ist ähnliches — Botschaften des Bundesrates an die Bundesversammlung — im Zusammenhang mit Gesetzesvorlagen eine Selbstverständlichkeit. Während der Regierungsbericht nur Feststellungen trifft, umfassen diese Botschaften allerdings mehr Erwägungen und Vorschläge. Eine Botschaft, die sich mit den Grundfragen der schweizerischen Landesverteidigung in diesem Jahrzehnt auseinandersetzte, gab es zum Beispiel 1960 zur Begründung einer Regierungsvorlage über eine neue Organisation des Heeres, während eine andere 1961 die Grundzüge der schweizerischen Luftverteidigungspolitik darlegte. Diese Botschaften sind also- Orientierung der- Öffentlichkeit, Begründung für beantragte Gesetze und Kredite, Leitlinie für die Führung der Wehrpolitik.

Ein heilsamer Schock?

Wenn allerdings die Feststellungen der Mängel im ersten österreichischen Regierungsbericht einen gewissen Schock hervorriefen, so bewies dies wohl, daß die Information über die Landesverteidigung bisher an der Oberfläche blieb, daß anderseits aber auch die Volksvertretung von ihren Möglichkeiten, sich und der Öffentlichkeit ein klares Bild zu verschaffen, wenig Gebrauch gemacht hat. So bleibt zweierlei zu hoffen:

• daß die Diskussion des Regierungsberichtes im Parlament und in der Öffentlichkeit zur Klärung jener Probleme führt, die im ersten raschen Anlauf von 1955 noch gar nicht übersehen wurden, und

• daß anderseits ähnliche Regie rungsberichte zu einer selbstverständlichen, wiederkehrehden

Es solle jedoch kein Anlaß zur Kritik sein, daß dieser erste Regierungsbericht als wichtigste Grundlage unserer Verteidigungspolitik die Verfassung zitiert (zu der ja auch das Neutralitätsgesetz zählt). Es sei nicht bestritten, daß dem Regierungsbericht der heiße Atem fehlt, der mitreißend „die essentiellen Dinge nennen könnte, derentwegen die österreichischen Soldaten nötigenfalls auch das höchste Opfer auf sich nehmen sollen” (Josef Toch: „Von den Insekten lernen”, Nr. 30 der „Furche”). Diese fehlenden Formulierungen, die aber doch dem Geist unserer Verfassung entsprechen müssen, werden hoffentlich in der Diskussion über den Regierungsbericht noch ausgesprochen werden.

„Schutz der Grenzen” (Art. 79, B-VG) sagt nämlich auch heute noch Wesentliches aus, auch wenn eine moderne Auslegung nötig ist, da subversive Angriffe, Luftlandungen und Luftkrieg überhaupt die Grenzen überspringen, „Die Neutralität mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verteidigen” (Neutralitätsgesetz 1955) —das unterstreicht eindeutig den unbedingten Verteidigungswillen, das A und O jeder Landesverteidigung, und zwar gar nicht so trocken. Aus dem Sinn der (bewaffneten) Neutralität läßt sich aber ableiten, daß die Landesverteidigung so stark und so eingesetzt sein soll, daß krieg- führende Parteien in der Einbeziehung unseres Territoriums in ihre Kriegführung keinen Vorteil mehr finden können. „Schutz der Grenzen” und „Verteidigung der Neutralität” verweisen also auf die Vorbeugung gegen eine Aggression als erste Aufgabe unserer Landesverteidigung! Weshalb die Verteidigungspolitik so zu führen wäre, daß die Überzeugung der Nachbarn von unserem Willen und unserer Fähigkeit zur Verteidigung gegen jeden Angreifer immer fester wird. Dies geschieht allerdings noch nicht.

Im Falle eines Falles

Nehmen wir einmal den Fall einer Aggression zwecks Ausnützung österreichischen Gebietes in einem Krieg zwischen Nachbarn. Die Aggressionskräfte — Teilkräfte eines Nachbarn — müssen dann zur Erhaltung der Überraschung unser Gebiet möglichst schnell durchqueren. Daher werden vorwiegend gepanzerte Kräfte eingesetzt werden, unterstützt durch Flieger, aber auch durch vorgeworfene Luft- landetrup’pen und durch subversive Kräfte. Um das zu verhindern, brauchen wir im Durchmarschraum eine rasch wirksame, kraftvolle Abwehr, die nicht ausweicht, sondern das Gelände entschlossen verteidigt und den Vorwärtsdrang des Aggressors verläßlich stoppt. Können wir unsere Nachbarn überzeugen, daß wir dazu gewillt und befähigt sind, bietet eine Aggression keine Vorteile mehr, dann wird sie unterbleiben.

Kritik an der „Insektentaktik”

Läßt sich aber diese erste Aufgabe der österreichischen Landesverteidigung durch eine „Insektentaktik” lösen, wie sie JosefsTpcH in seinem schon erwähnten Artikel ceinpragšąręį Zeichnete: „ įi einėr Unzahl kleiner und kleinster Handlungen und ebensolcher Gruppen” das Heil zu suchen, „deren Auswirkung …mit einer großen Zahl von Insekten verglichen werden (kann): das einzelne ist nur schmerzhaft, ihre Gesamtheit aber tödlich”? Diese Frage muß verneint werden: Insektentaktik bedeutet zu sehr Ausweichen und Abwarten günstiger Gelegenheit, verlangt keinen hohen Eintritts- oder Durchmarschpreis und entspricht nicht dem Vorbeugungsgedanken. Insektentaktik setzt ein tiefes Eindringen des Feindes, mehr noch: eine Okkupation ja geradezu voraus! Wo immer sie bisher angewandt wurde, hatte sie, wenn überhaupt, so erst nach erheblicher Zeit eine merkbare, nicht nur örtliche Wirkung.

Anderes ist noch zu bedenken. Insektentaktik verlangt, soll sie nicht nur kurzfristig und räumlich begrenzt angewandt werden, die volle Unterstützung der Bevölkerung. Was macht aber der Okku- pator, um den „Insekten” diese Aktionsbasis zu entziehen? Er beeinflußt die Bevölkerung gegen die Insekten, mit schonender Behandlung und Belohnung, mit Verboten oder durch Terror. Die Insektentaktik führt zum Kampf um die Bevölkerung und damit auch gegen die Bevölkerung. Repressalien entzünden den Haß. List und Täuschung sind unerläßlich. Uniform? Offenes Führen der Waffen? Deutlich erkennbare Abzeichen? All das erschwert doch nur das Überleben der Insekten! Insektentaktik führte bisher immer noch zum Partisanenkampf mit den anscheinend unvermeidlichen Exzessen.

Und wie war seine Auswirkung? In der erwähnten Botschaft des schweizerischen Bundesrates von 1960 werden zunächst die Beispiele Rußlands und Jugoslawiens wegen anderer Voraussetzungen als nicht verantwortbar, wohl mit Recht, abgelehnt. „Die Erfahrungen in Frankreich, Holland und Italien haben gezeigt, daß die Tätigkeit der Widerstandskämpfer weder die Kriegführung noch die außenpolitische Stellung der betreffenden Regierungen in erheblichem Ausmaß beeinflußte. Das Gewicht, das die kleineren allüerten Staaten im zweiten Weltkrieg in die Waagschale legen konnten, bestand im Vorhandensein von Regierungen sowie militärischen… Machtmitteln außerhalb der besetzten Gebiete” (Kursivsatz vom Verfasser).

Warum so viele Panzer?

Je kleiner das Heer, desto weniger Platz hat es also für leicht ausgerüstete „Insekten”, um so höher muß — im Sinne einer möglichen Vorbeugung durch die Fähigkeit zu rascher massiver Abwehr — der Anteil an gepanzerten und feuerstarken Kräften sein. Je größer aber das Heer, um so eher wird es zusätzlich auch Kräfte umfassen können, die nur leicht — immer aber mit wirksamer Panzerabwehr

— ausgerüstet sind. Diese Kräfte können dann in Teilgebieten und zeitweilig, aber stets nach den Regeln des Kriegsrechtes, auch insektenartig kämpfen, wenn die Lage dies vorteilhaft erscheinen läßt.

Solange wir aber nur sieben Brigaden besitzen, die erst durch Mobilmachung auf volle Stärke gebracht und durch drei weitere Brigaden verstärkt werden können — die Mobilmachung ist aber noch immer nicht gesetzlich untermauert! —, sind relativ starke gepanzerte Kräfte unerläßlich.

Warum aber ist das Heer so klein? Warum ist nicht, wie Toch mit Recht fordert, „der überwiegende Teil der Bevölkerung (an der Landesverteidigung) beteiligt”? Haben wir nicht schon sieben Jahre hindurch jeweils

30.000 bis 40.000 Soldaten ausgebildet?

Wir haben zwar weit über 200.000 „Arbeiter angelernt”. Dazu sind neun Monate noch ausreichend. Aber ohne den entsprechenden Anteil an „Vorarbeitern, Gehilfen, Werkmei stern, Angestellten und Ingenieuren” sind diese angelernten Arbeiter einfach nicht verwendbar. Für diese höhere Ausbildung sind aber neun Monate zu kurz, ist in unserem Wehrsystem nicht ausreichend vorgesorgt. Allgemeine Wehrpflicht und freiwillige Waffenübungen passen nicht zueinander!

Erst die Beseitigung dieses Widerspruchs würde die personellen Hemmnisse für einen sinnvollen Heeresausbau beseitigen. Dann erst könnte die unerläßliche, aber noch fehlende Masse durch einen kräftigen Ausbau von Reserveverbänden geschaffen werden. Freilich müßten auch die Ziele, die legistischen Maßnahmen und die materiellen Grundlagen der Verteidigungspolitik für die nächsten Jahre von den demokratischen Parteien gemeinsam abgegrenzt werden, um die Wehrpolitik der Tagespolitik zu entziehen und um fundierte fachliche Vorschläge zu ermöglichen.

Der Schweizer Igel

Auf der „Expo” 1964 in Genf, der schweizerischen Landesausstellung, ist der Pavillon der Armee selbst als Symbol gestaltet, nämlich als Igel. Die Aussage ist klar: Wir wollen das Land nach allen Seiten unangreifbar machen! Wir wollen weiter Vorbeugen wie schon in zwei Weltkriegen! Zwischen den Stacheln des Igels mögen sich auch zahlreiche Insekten bewegen — aber das Leitbild auf lange Sicht, das auch wir brauchen, können nicht die Insekten sein, wohl aber der Igel.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung