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Demokratie, Toleranz, Neutralität

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Die Demokratie ist ein Regierungssystem, das keineswegs der Macht — der Autorität — entbehren kann. Man benötigt sie, um das Zusammenleben der Menschen, die ja alle Eigenpersönlichkeiten sind, in geordneten Bahnen zu gewährleisten. Um zu ordnen, braucht man vor allem den Willen dazu. Man benötigt Verstand, Klugheit und Weisheit, um Autorität ohne Gewalt auszuüben. Im demokratischen Staatsgebilde wird die Macht, die erforderlich ist, um Ordnung zu halten, verteilt. Wir haben die gesetzgebende, die vollziehende und aus dieser besonders hervorgehoben die richterliche Gewalt. Dennoch sieht der Bürger den Staat als einheitlichen Gebieter vor sich, und es wird viel von der Macht des Staates gesprochen. Das kommt aber nicht zuletzt daher, weil alle nach dem Staate rufen.

DEMOKRATIE UND FÖDERALISMUS .

Die heutige Demokratie ist nicht mehr, jene von einst, wie sie am Brunnen des alten Athen praktiziert wurde. Dort trafen sich die Bewohner dieses Stadt-Staates und übten unter einem alle staatliche Gewalt aus: Gesetzgebung, Vollziehung und insbesondere das Richteramt. Aehnliches geschieht auch heute noch in einzelnen Kantonen der Schweiz.' Alljährlich tritt dort die „Landsgemeinde“ unter freiem Himmel zusammen, und die Aktivbürger, das sind die Männer über 21 Jahre, üben die Herrscherrechte aus, indem sie die Regierung bestellen, den Kantonsrichter, ja zum Teil auch noch die Schullehrer wählen. Die Schweizer Kantone haben weit mehr staatliche Kompetenz als etwa die österreichischen Bundesländer. Auch wir in Oesterreich könnten etwas mehr Obliegenheiten dem kleineren „Staat", nämlich den Ländern, überlassen. Oesterreich ist ja ein Bundesstaat, der sich aus den neun selbständigen Ländern gebildet hat. Man hat sich also „verbündet“. Bündnis. ,heißt in (der lateinischen Spräche „Foedus". Davon abgeleitet wird das Wort „föderal". Somit bin ich beim ( Föderalist i mus"angelangt, det in der österreichischen Bundesverfassung verankert ist. Wenn man den Föderalismus vertritt, wenn man sich für ihn einsetzt, so bedeutet dies keineswegs, daß man sich vpm Gesamtstaat distanzieren will, nein, im Gegenteil, man pocht auf das Fundament des Staates, auf das Bündnis. Der Bundesstaat soll seinen Gliedstaaten, den Bundesländern, alle Aufgaben überlassen, die sie aus eigenem regeln können. Er soll ihnen nicht Rechte nehmen, sondern vielmehr Rechte übertragen. Die Länder wiederum sollten ihren Föderalismus auch dann betonen, wenn er etwas kostet, und beispielsweise bei Katastrophenschäden oder für Aufgaben, die sie in ihrem Bereich selber durchführen möchten, nicht zum Bund kommen. Da schmunzelt nämlich der Bund: „Ach, so -ist es mit dem Föderalismus bestellt!“

Es ist kein Geheimnis, daß es in Oesterreich auch Zentralisten gibt. Der Verfassungsgerichtshof wird solcher Fragen und Streitpunkte wegen von den Bundesländern, am meisten von meinem Heimatland Vorarlberg, häufig befaßt. Es gibt fanatische Verfechter auf beiden Seiten, aber gerade hier ist Fanatismus nicht am Platz, sondern vielmehr wieder die Toleranz. Ich möchte sie diesmal übersetzen mit dem sinnreichen Spruch: „Leben und leben lassen!“

DEMOKRATIE, UND PARTEIENMACHT

In der Demokratie von heute spielen die politischen Parteien eine große Rolle. Das ist nicht nur bei uns in Oesterreich so, sondern auch anderswo. Die Parteien bringen ihre Macht in den gesetzgebenden Körperschaften, in den Regierungen und in Interessenorganisationen zum Ausdruck. Was ist nun Parteimacht? Es ist der Wille einer Gesinnungsgruppe, eines Volksteiles, der die Gestaltung des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens nach den Grundsätzen, die ihm gutdünken, durchsetzen will. Ich sage also deutlich: es ist der Wille einer Gemeinschaft, nicht einer Einzelperson, eines „Führers“, eines Sekretärs oder eines Sekretariats. Das Machtstreben einzelner vertragen nicht nur die Demokratie, sondern auch die Parteien selbst nicht.

In diesem Willens- und Ideenkampf der Parteien entstehen unvermeidbare Spannungen. Die Parteien, ja nicht nur sie, sondern auch die Einzelbürger, verlieren sich in den Tagesfragen, die nur nach dem „Verlangen“, immer „noch"

besser zu leben, ausgerichtet sind. Das Materielle steht im Vordergrund. Geld und Gut, mehr Autos, mehr Freizeit. All das scheint heute wichtiger zu sein als Demokratie, Freiheit und Menschenwürde. Hier gilt es, dem einzelnen wie den Parteien z u- zuru f e n : „D enkt doch an die

Reihung der Werte“, das heißt: die sittlichen Grundsätze sind noch immer voranzustellen. Mit nur „Wohlstands- und Lebensstandardpolitik“ wird man Freiheit und Menschenwürde nicht genügend schützen. Es bedarf des Anstandes, der Opferbereitschaft und der Ausrichtung nach den immer gültigen Gesetzen der Sittlichkeit.

Kampf erfordert immer neue Kräfte, Haß und Fanatismus verschleißen sie. Darum gilt es, diese aus der Welt zu schaffen. Wenn wir gerade in den Tagen des Wahlkampfes unsere Beobachtungen machen und feststellen, wie hart und oftmals schamlos die Parteien aneinanderprallen, so wundert man sich, daß so etwas im 20. Jahrhundert noch möglich ist. Hier wage ich die Behauptung aufzustellen, daß das Volk diese Art der Auseinandersetzung nicht nur nicht wünscht, sondern verurteilt. Was ist also dagegen zu tun? Hier gilt es, auf die Parteisekretariate und -funktionäre Einfluß zu nehmen, denn ich glaube, es ist bald nur ein Kampf zwischen diesen. Die Propaganda der Parteien muß auf den Willen des Volkes Rücksicht nehmen und vor allem immer daran denken, daß dem Volk eine Richterrolle zukommt. Tut sie es nicht, indem sie dem Volk alles vormacht, alles verspricht und meint, es komme nur auf Lizitation, Hetze und Verunglimpfung des politischen Gegners an, dann unterschätzt sie den Bürger und Wähler. Dieser hat Anspruch, aufgeklärt zu werden, die Ziele der Parteien, die Ansichten und Gegensätze zu hören, denn erst dann kann er seine Richterrolle objektiv ausüben. Die Darlegungen der Parteien und ihrer Sprecher sollten aber stets in fairer Form ge- geschehen. In der politischen Auseinandersetzung, egal ob in einer Wählerversammlung, Regierungssitzung oder gesetzgebenden Körperschaft, muß es immer noch eine Brücke geben, die Brücke von Mensch zu Mensch, die Brücke des Wortes. Toleranz, das heißt Duldung des Gegners, Bereitschaft zum Anhören seiner Argumente, ist da im besonderen Maße zu üben.

DIE BERUFSORGANISATIONEN

Eine große Macht im demokratischen Staat von heute üben auch die Berufsorganisationen aus. Die Politik der Parteien wird durch sie beeinflußt. Die Sozialistische Partei zum Beispiel wird sich niemals über eine Forderung des Oesterreichischen Gewerkschaftsbundes hinwegsetzen, die Volkspartei wiederum nicht über eine der Wirtschafts- und Bauernkammern.

Es ist erfreulich, daß - im Gegensatz zu früheren Jahren — in diesen Berufsorganisationen eine weitgehende Bereitschaft zum gegenseitigen Verstehen und objektiven Abwägen der Standpunkte Platz gegriffen hat. Es war ein Zeichen der Toleranz, als beim letzten Gewerkschaftskongreß die Vorsitzenden der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft Oesterreichs und des Bauernkammertages sowie der Präsident des Industriellenverbandes der Einladung gefolgt sind. Sie wurden vom Präsidenten des Gewerkschaftsbundes in aller Form, unter mächtigem, lang anhaltendem Applaus der Gewerkschaftsdelegierten begrüßt.

Neben diesem Lichtpunkte sehen wir aber auch, daß diese Organisation ein Machtfaktoi ersten Ranges geworden ist. Mit jeder Macht sind aber auch Gefahren verbunden. Was können wir dagegen tun? Trägt nur die Organisation oder tragen wir selber ebensoviel Schuld daran? Es ist heute leider so, daß die Menschen einem Sog anheimgefallen sind. Sie wollen nicht mehr verantworten, sie wollen nicht mehr sorgen. Sie überlassen diese Dinge dem Staat und den Organisationen. Das führt dazu, daß die gewerkschaftliche Aktivität, die an sich sefrr eindrucksvoll ist, aber auch jene der anderen Berufskörperschaften, wie ich sie bereits erwähnte, zu einer Macht gelangen, die gefährlich werden kann. Verantwortungsfreude des einzelnen, Widerstand gegenüber jenen, die uns zurufen: „Wir machen für euch alles, ihr braucht euch um nichts zu kümmern“, dämmt die Macht der Organisationen ein.

TOLERANZ - NEUTRALITÄT

Neutralität bedeutete früher lediglich, sich an einem Kriege nicht zu beteiligen und die Kriegführenden nicht einseitig zu begünstigen. Das war die übliche Neutralität, wie sie erklärt wurde, wenn man nicht an einem zwischen anderen Staaten ausgebrochenen Krieg teilnahm. Eine solche Erklärung setzte also den Zustand eines Krieges voraus.

Die dauernde Neutralität, wie sie zum Beispiel die Schweiz seit 1815 praktiziert und wie sie Oesterreich eingegangen ist, besteht darin, daß ein Staat sich verpflichtet, dauernd — im österreichischen Neutralitätsgesetz heißt es „immerwährend" — neutral zu sein. Der dauernd oder immerwährend neutralę Staat darf daher nie einen Krieg beginnen, sich an keinem Krieg beteiligen und hat die Verpflichtung, seine Neutralität und Unabhängigkeit zu verteidigen. Im österreichischen Neutralitätsgesetz heißt es, daß die immerwährende Neutralität mit allen zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigt wird. Welche Mittel stehen nun zu Gebote? Kein Beitritt zu militärischen Bündnissen, Nichtzulassung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf unserem Staatsgebiet. Ist das nun alles? Nein, es gibt noch weitere Mittel: Alles zu tun, um in keinen Krieg hineingezogen zu werden und alles zu unterlassen, was den Staat in einen Krieg hineinziehen könnte. Der Staat ist also verpflichtet, eine neutrale Politik zu führen.

Die Wurzeln der Neutralität im neuen Sinn fußen daher — dem inneren Gehalte nach — in dem Sich-gegenseitig-Dulden, und zwar auch dann, wenn Gegensätze vorhanden sind. Der Wunsch nach Frieden geht voraus. Ich möchte bei dieser Gelegenheit aber deutlich sagen, daß die Bereitschaft zur Wohlgesinntheit gegenüber allen anderen Völkern und Staaten sich nicht auf die zerstörenden Ideologien ausdehnt. Hier ist die Auffassung des schweizerischen Bundesrates Petitpierre zutreffend. Er sagte:

„Unser vorherrschender politischer Gedanke ist die Toleranz, weil wir im religiösen und ideologischen Fanatismus und in nationalistischen Leidenschaften Hindernisse für den Frieden unter den Völkern und den Menschen erblicken. Auf staatlicher Ebene halten wir den Kommunismus für eine Doktrin, mit welcher man sich auseinander setzen und gegen welche man sich innerhalb der durch die Verfassung und die Gesetze gezogenen Grenzen verteidigen tnuß."

Ich glaube, daß niemand, der das Gute im Zusammenleben der Völker im Auge hat, aus einer solchen Einstellung eine Gesinnungsneutralität ableiten wird. Der neutrale Staat braucht gesinnungsstarke, vernünftige Bürger. Wieder zitiere ich einen Schweizer, den langjährigen Betreuer der eidgenössischen Außenpolitik, Bundesrat Motta, der in einer kritischen Stunde erklärte:

„Grundsätzlich ist einzig der Staat neutral.

Er wird es immer mit Festigkeit sein. Der Bürger bleibt in seinen Anschauungen und in seinem Urteil frei. Objektive Kritik ist ihm stets gestattet, wir verlangen aber von ihm, sich im Interesse des Landes einer freiwilligen Zucht zu unterziehen hinsichtlich der Art und Weise, seine Gedanken auszusprechen.“ Universitätsprofessor Dr. Verdross kommt in seinen Erläuterungen über die immerwährende Neutralität der Republik Oesterreich zur Schlußfolgerung, daß die Neutralität Oesterreichs kein Selbstzweck ist, sondern das Mittel zur Behauptung der Unabhängigkeit unseres Vaterlandes bildet. Aus dem ersten Artikel unseres Neutralitätsgesetzes geht das klar und deutlich hervor. Er lautet: „Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes, erklärt Oesterreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutrali-

Professor Verdross schließt seine Erläuterungen mit dem Satz: „Allen Oesterreichern muß daher bei ihren Aeußerungen und Handlungen stets das hohe Ziel vor Augen schweben, alles zu unterlassen, was die österreichische Unabhängigkeit gefährden könnte, und alles zu tun, was diese zu stärken geeignet ist.“

Es kommt nun aber nicht nur auf den Staat und auf die Haltung des Volkes an, unsere Neutralität zu wahren, sondern ganz besonders auf die kleine und große Umwelt. Das österreichische Parlament hat mit dem Neutralitätsbeschluß, wie ich schon sagte, die Bereitschaft zum Sichvertragen mit allen anderen Völkern und Staaten bekundet. Was wir nun erwarten, ist, daß sich Gleiches uns gegenüber erweise. Dies sowohl im Frieden, als auch — wir wollen fest hoffen und glauben, daß er nicht unvermeidlich ist — im Kriegsfälle.

Eine kleine Koexistenz zum Beispiel — ich meine Oesterreich als freier, unabhängiger neutraler Staat im Donauraum mit seinen Nachbarstaaten östlicher Orientierung — wird möglich sein, wenn man sich gegenseitig achtet, wenn man korrekte gegenseitige Beziehungen pflegt und nichts anderes im Schilde hat, als der Verständigung und dem Frieden zu dienen. Dazu ist von vornherein Toleranz erforderlich; aber nicht nur eine duldende, sondern eine mutige, aktive Toleranz. Sie vermag mehr zu festigen als papierene Garantieerklärungen. Die kleine Koexistenz könnte Beispiel sein für die große, die so notwendig ist, um der ganzen Welt, die voll der Unrast und des Haders ist, den Frieden zu geben.

Demokratie, Toleranz, Neutralitäti Es gäbe sicher viel anderes, Geistvolleres und Wichtigeres zu sagen. Eines wird jedoch allgemein anerkannt werden: Es geht darum, stets den richtigen Maßstab anzuwenden. Wo finde ich den in einer Welt, in der ein großes Ereignis das andere überstürzt, wo Technik und Physik Siegeszüge machen, wo man versucht, das Weltall zu erobern? Ich glaube, man findet immer wieder den richtigen Maßstab, wenn man sich darauf besinnt, daß trotz Weltraumeroberung und Mondlandung die sittliche Wertwelt nicht überholt ist, daß ein bißchen tätige Menschenliebe größere Werke zu schaffen vermag als jede Menge von Uran, daß uns Gott in die Welt gestellt hat mit dem Auftrag „schöpferisch“ tätig zu sein, gleich an welchem Platz wir stehen, aber nicht, der Zerstörung zu dienen.

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