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Die Wunde unserer Demokratie

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Es gibt verschiedene Arten der Entwertung und Entmachtung einer Verfassung. Die Verfassung kann einmal von vornherein als nichts anderes als ein Aushängeschild gedacht sein,iie soziologisch relevante Schicht schafft sich in der Verfassung ein gutes Gewissen und einen zur Irreführung der Außenwelt bestimmten Leumund. Dies ist der Fall bei den volksdemokratisehen Staaten, deren Verfassungen a limine eine Fassade und Scheinwelt neben der von ganz anderen Grundsätzen beherrschten Wirklichkeit bilden sollen.

Zu einer anderen und wesentlich komplizierteren Form der Unwirksamkeit war die österreichische Kelsensche Verfassung des Jahres 1920 verurteilt: Hier war die Verfassungsurkunde nicht von allem Anfang an eine bloße Verbalerklärung, sondern der echte Ausdruck eines Kompromisses zwischen den beiden antagonistischen gesellschaftlichen Kräften, in die unser Volk nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie zerfiel. Das Entstehen und Anwachsen der außerparlamentarischen Bewegungen und Formationen aber führte zu einem Zusammenbruch der Verfassung, wie er rein äußerlich seinen Ausdruck in der Selbst-entmachtung des Parlaments durch den Rücktritt seiner drei Präsidenten fand. Die soziologische Realität schritt über die juristische Verfassung h i n-w e.g, der Verfassungsgerichtshof selbst lieh seine Hand zur Entmachtung derjenigen Prinzipien, zu deren Schutz er ins Leben gerufen worden war-. Die vielleicht tiefste und prägnanteste Erklärung für das Scheitern des politischjuristischen Versöhnungswerkes Kelsens gab der allzufrüh verstorbene Ernst Karl Winter, der sich nach seiner Rückkehr nach Österreich wiederholt in Aufsätzen und Vorträgen mit den

Ursachen des Niederganges der Ersten Republik beschäftigte: er machte die Staatsablehnung der Linken und den Staatsmißbrauch durch die Rechte für die schließliche Katastrophe verantwortlich. In der Tat: die Sozialdemokratie gab den Staat im Vertrauen auf die künftige Gewinnung der Mehrheit preis und lebte unter dem Schutz der Verfassung, aber mit immer mehr schwindendem Einfluß auf die Handhabung des staatlichen Machtapparates. Während die deutsche Sozialdemokratie die von ihr eingenommenen Machtpositionen nicht wirksam zu nützen und gegen den Ansturm des Nationalsozialismus zu verteidigen wußte, gab die österreichische Sozialdemokratie den Kampf im Schöße der Regierung auf, um ihn außerhalb des staatlichen Apparats unter Überschätzung außerparlamentarischer Möglichkeiten weiterzuführen. War doch ihre grundsätzliche Perspektive die der endlichen Überwindung des Staates und seiner Überführung in eine freie sozialistische Assoziation. Mit dieser Haltung erleichterte sie ihren bürgerlichen Gegnern den Mißbrauch der Staatsgewalt. Auch sie verloren — allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen und Vorzeichen — den Glauben an und den Respekt vor dieser Verfassung: sie bedienten sich des Staatsapparats und der ihnen zu Gebote stehenden außerparlamentarischen Kräfte, um der in ihr mächtigen soziologischen Realität den Durchbruch zu erzwingen. Da die juristische Änderung der Verfassung eine nur unvollständige Widerspiegelung des sich im soziologischen Bereich abspielenden, in den Bürgerkrieg hineinführenden Entwicklungsganges war, zerbrach diese Verfassung letzten Endes an der übermächtig gewordenen soziologischen Realität. Sie wurde von der Verfassung 1934 abgelöst, mit der sich die aus diesem Kampf siegreich hervorgegangene Gruppe eine juristische Legitimation schuf, die aber aus inneren und äußeren Gründen niemals zur Realisierung kam.

Bei der Neugründung unseres Staatswesen? im Jahre 1945 griffen beide großen Parteien des Landes auf die Verfassung des Jahres 1920 in der Fassung der Novelle 1929 zurück. Die Zusammenarbeit der beiden wiedererstandenen politischen Kräfte war ein Gebot der Stunde, die Notwendigkeiten des Aufbaues und des Lebens unter einer vierfachen Besetzung ließen an gar keine andere Möglichkeit denken. Und das Verhältnis der beiden Parteien zur Verfassung hatte sich unter dem Eindruck der leidvollen Erfahrungen unter den Diktaturen gewandelt: die Sozialistische Partei gab sich die stetige Willensrichtung der Einflußnahme auf den Staat und kehrte in ihrer seitherigen Praxis zu ihrem Lehrmeister Renner zurück, der ihr schon in der Ersten Republik geraten hatte, den Staat an jedem greifbaren Zipfel zu erwischen und in den Dienst ihrer Sache zu stellen. Auch das konservative Lager bejahte die Zusammenarbeit der Parteien und hat an ihr trotz gelegentlicher Ausbruchsversuche festgehalten.

Der kritische Betrachter der österreichischen Wirklichkeit aber muß fast fünfzehn Jahre nach dem Abzug der fremden Truppen weit davon entfernt sein, alles in schönster Ordnung zu finden. Um es gleich vorwegzunehmen: Die österreichische Wirklichkeit ist von einer Form des Auseinanderfallens von soziologischer und juristischer Verfassung bedroht, die von den beiden skizzierten Typen abweicht, deswegen aber keineswegs optimistisch und bagatellisierend zu beurteilen ist. Unsere staatliche Grundnorm ist weder durch die lügenhafte Berufung auf sie unter gleichzeitiger Verletzung ihrer Normen noch durch das Auseinanderfallen zweier über die Verfassung hinausstrebender Kräfte bedroht wie in der Ersten Republik, sondern sie ist in Gefahr, unter Wahrung ihres Buchstabens an der fortgesetzten Mißachtung ihres Geistes zu-grunde zu gehen. Die Diskrepanz zwischen soziologischer und juristischer Verfassung ist in Österreich eine Tatsache, die nachgerade zum gemeinsamen Überzeugungsgut weiter Kreise geworden ist. Sie ist die tiefere Ursache des beklagten und gerügten „Unbehagens in der Demokratie“, das wir alle zu spüren bekommen.

Der Artikel 1 unserer Bundesverfassung lautet: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volke aus.“ Mit diesem 'mottoartigen Einleitungsartikel ist das Thema angeschlagen, das dann in den einzelnen Bestimmungen der Verfassung ausgeführt wird. Professor Kelsen selbst hat einmal in einer rechtsphilosophischen Untersuchung das Wesen der Demokratie darin erblickt, daß in dieser Staatsform möglichst viele Menschen ihrem eigenen Willen unterworfen sind oder, negativ ausgedrückt, möglichst wenige Menschen einem anderen Willen als ihrem eigenen unterliegen. Diese Herleitung der Demokratie aus der möglichsten Identität von Normschaffenden und Normunterworfenen ist auch die einzig überzeugende Argumentation für die Überlegenheit der demokratischen gegenüber jeder autoritären Staatsform: da es keine allgemein anerkannte beste Lösung der Probleme des menschlichen Zusammenlebens gibt, soll der Willensinhalt der Staatsbürger selbst die Quelle der staatlichen Befehle sein. Die Repräsentanten und Träger der politischen Macht sollen bloße Delegierte des Volkswil'lens sein, an den sie sich jederzeit als gebunden erachten. Auch in der grundsätzlichen repräsentativ aufgebauten und nicht unmittelbaren Demokratie soll der Wille der De-legierenden ungebrochenen Ausdruck finden.

Es ist jedem Kenner psychologischer und soziologischer Gesetzmäßigkeiten klar, daß sich bei jeder Gemeinschaft von Menschen Gegentendenzen bilden, die sich der Verwirklichung dieser ideal konzipieiten Forderung hemmend in den Weg stellen. Ein eigener Zweig der soziologischen Literatur, für den nur die Namen Robert Michels, Mosca und P a r e t o als Markierungspunkte angeführt werden mögen, hat die Entstehung öligarchischer Tendenzen in demokratischen Gesellschaften und Parteien untersucht, und B u r n h a m hat sogar die Relevanz der Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen Systemen mit dem Hinweis auf die gemeinsame Herausbildung einer Managerherrschaft bestritten. Die Verfassung einer Gesellschaft, und zwar die soziologische in Übereinstimmung mit der juristischen, muß daher wirksame Mittel enthalten, um diesen fast automatischen Prozeß der Verwandlung der Delegierten in unabhängige und selbständig entscheidende Machtträger zu verhindern. Fehlt ein solches Gegengewicht, muß das Prestigebestreben und die mit dem politischen Handwerk unvermeidlich verbundene Überzeugung der Repräsentanten, die Zusammenhänge nun eben besser zu verstehen, einen Apparat erzeugen, der die ursprünglich den Wählern zugedachten Funktionen arrogiert und den Volkswillen formt, beziehungsweise substituiert, anstatt von ihm seine Impulse zu empfangen.

Es wird keinem Betrachter der politischen Verhältnisse in Österreich einfallen, die weitgehende Trübung und Aushöhlung des demokratischen Grundgedankens zu leugnen und sich der Erkenntnis zu verschließen, daß es um unsere Demokratie, wenn sie an ihrer eigenen geistigen Rechtfertigung und Existenzgrundlage gemessen wird, nicht eben gut bestellt ist. Es ist schon beinahe eine Binsenwahrheit geworden, daß unsere juristische Verfassung gerade jene Organisationen übersieht und übergeht, die heute tatsächlich alle Macht in ihren Händen vereinigen. Die Parteien sind laut geltendem Recht bloße privatrechtliche Vereine, nur eine vereinzelt gebliebene' Entscheidung des Obersten Gerichtshofes aus der unmittelbaren Nachkriegszeit hat den tatsächlichen Verhältnissen, wie sie klar erkennbar in der provisorischen Regierung geherrscht hatten, R/chnung getragen und den Parteien die Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechtes zugebilligt. Die Parteien als tatsächliche Träger der Macht sind in unserer Verfassung nicht verankert, ihre Organisation und ihr Aufbau richten sich nur nach ihren eigenen Statuten und nicht nach einer übergeordneten Norm. Dieser trotz aller Reformvorschläge bis jetzt ungeänderte Zustand ist gleichsam die äußere Signatur und die Wurzel des Auseinanderfallens von soziologischer und juristischer Verfassung, die wir in Österreich beobachten können.

Die Zusammenarbeit der beiden großen Parteien hat in den nunmehr fünfzehn Jahren ihres Bestehens einen Mechanismus eingespielt, der die Entfaltung des demokratischen Grundgedankens unserer Verfassung im Keime erstickt. Es ist wiederum fast eine Binsenwahrheit, daß sich unser System durch das Fehlen einer echten Opposition in diese unerfreuliche Richtung entwickeln konnte. Leider wird diese unleugbare Tatsache meistens gerade von jenen in die Diskussion geworfen, die sich als Opposition fühlen, ohne die Chance zu haben, eine echte oppositionelle Kraft zu sein, und ohne daß der politische Charakter' dieser Kritiker sie zu begrüßenswerten und vertrauenswürdigen Anwärtern auf diesen vakanten Sitz macht. Aber dieser Umstand ändert an der grundsätzlichen Richtigkeit des Arguments nichts, und man könnte sich versucht fühlen, unter seinem Eindruck ein Zweiparteiensystem nach englischem Muster, mit einer Regierungspartei und einer Oppositionspartei, als Lösung des Problems auf weitere Sicht ins Auge zu fassen. Aber die Herrschaft einer einzigen Partei ist zu sehr durch die Schatten der Vergangenheit und die Drohung eines Bürgerblocks als Ersatzlösung für die Koalition belastet, um wenigstens vorderhand mehr als akademischen Wert zu haben. Aber die Unmöglichkeit des Zurück oder Voran zu dieser Lösung kann nicht mit einer Bejahung unserer gegenwärtigen Verhältnisse gleichbedeutend sein. Selbst bei grundsätzlicher Beibehaltung der Koalition muß es Mittel und Wege geben, um den von der Praxis verleugneten und überspielten demokratischen Grundgedanken unserer Verfassung Geltung zu verschaffen. (Ein zweiter Artikel folgt)

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