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Wächter der deutschen Demokratie

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Das rechtspolitisch bedachte und außenpolitisch taktvolle Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe über die Frage der Staatsangehörigkeit der Oesterreicher, die in Deutschland leben, hat hierzulande das Interesse für diese bundesdeutsche Verfassungsinstitution geweckt. Wie manche andere Entscheidung des Karlsruher Verfassungsgerichtes, so hat auch der Spruch vom 9. November 195 5 die Grundlinien der modernen deutschen Judikatur angedeutet: Abkehr vom engen positivistischen Formalismus und Hinwendung zur umgreifenden überpositiven Rechtsauffassung. Kennzeichnend ist ein Satz aus dem Erkenntnis, das eine Nebensache erörtert: „Denn eine auf Grund der augenblicklich bestehenden formalen Rechtslage vorgenommene Auslieferung könnte gegen Treu und Glauben verstoßen ...“

Die bundesdeutsche Verfassungsgerichtsbarkeit hat sich dem Ideal der katholischen Rechts-, Sozial- und Staatslehre sehr genähert: Nicht der Staat, nicht das Volk, nicht das Parlament ist souverän, sondern das Recht, das dem Staat vorausgeht. „Alle Staatsgewalt ist der Idee des Rechtes unterworfen, ihr verpflichtet und durch sie begrenzt“, sagt einmal Wintrich, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. Ergänzend ein Wort des sozialdemokratischen Staatsrechtlers Carlo S c h m i d : „Das Grundgesetz — das ist Westdeutschlands Bundesverfassung — kennt keine universale (totale) Machtfülle des Staates und seiner Organe .. . Staatsgewalt und Freiheit des Individuums sind nur dort vereinbar, wo der einzelne nicht mit allen, sondern nur mit einzelnen Lebensbereichen dem Staat anheimgegeben ist.“

Die Väter der bundesdeutschen Verfassung bezogen den Standpunkt, daß der Staat nicht eine formale Zwangsordnung mit beliebigem Inhalt, sondern eine politische Gemeinschaftsform sei, die einen bestimmten Inhalt erfordert. Die Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichtes greift so weit um sich, daß selbst Rechtsnormen, die der Gesetz- und der Verfassungsgeber durchaus innerhalb seiner formalen Kompetenzen und im Wege, den das Grundgesetz vorzeichnet, erlassen hat, der Vernichtung verfallen sind, wenn sie den Fundamentalsätzen der Verfassung oder den Maßstäben des überpositiven Rechtes zuwiderlaufen.

Wir wollen das Kind beim herkömmlichen Namen nennen: Was die Bundesrepublik Deutschland nach dem Erlebnis des NS-Willkürstaates mit der Einrichtung des Bundesverfassungsgerichtes zu verwirklichen unternommen hat, das ist, was man in der katholischen Rechtsphilosophie mit dem Begriff „Naturrecht“ einzu-fangen trachtet. Ein Wunschtraum der katholischen Rechtsphilosophen ist in Erfüllung gegangen. Hier ist das Widerstandsrecht institutionell von Staats wegen organisiert worden. Der Weg ist ein Wagnis, das uns Bewunderung abringen sollte. Eines aber muß ganz und gar klargestellt werden: Das naturrechtliche Element in der deutschen Bundesverfassung darf nicht als Freibrief für Weltverbesserer, Hitzköpfe, Eigenbrötler, Rechthaber und Querulanten verstanden werden. Das hieße den tiefen Sinn des kühnen Versuches grob mißverstehen, ja ihn ins Gegenteil verkehren; dieses naturrechtliche Element ist bloß als Ultima ratio, als Ventil gedacht, dessen Funktion sich gleichsam im Präventativen, im Nicht-tätig-Werden, erschöpft. Worauf es ankommt, ist, daß sich im Bewußtsein des Staatsbürgers die Gewißheit einnisten soll, eine Korrektur der Willkür sei möglich, wenn die Staatsgewalt aus den Ufern tritt.

Die Lage in Deutschland ist grotesk. Die Trommel für die Position des Gerichtes rührt jetzt nicht die Partei, die die Marke „christlich“ trägt, sondern die Sozialdemokratie mit der übrigen Opposition. Seit Monaten läuft e i n Gesetzgebungsverfahren um die Reform'der Institution. Die einen befürworten zunächst eine kleine, die „technische“ Reform; die anderen verlangen eine umfassende Umgestaltung. Jene beschränkt sich auf eine bessere Verteilung der Geschäfte zwischen den zwei Senaten, und die Einführung eines Zulassungsverfahrens für Verfassungsbeschwerden; diese konzentriert sich auf die Aenderung des Modus, wie die Richter bestellt werden. (Das Gericht zerfällt in zwei Senate. Infolge der miß-

Iungenen Geschäftsverteilung ist der erste förmlich mit Klagen und Anträgen überschwemmt, so daß man von einem Stillstand der Justiz spricht, während der zweite nur von Zeit zu Zeit angerufen wird. Das Verhältnis: 3000 gegen 30! Die „technische“ Novelle soll das Gleichgewicht herstellen und den Strom der Beschwerden etwas eindämmen.) Das Gericht selbst, der Bundesrat, die Opposition außerhalb und innerhalb der Koalition stehen auf der einen Seite, auf der anderen steht die Regierung mit der Mehrheitspartei (CDU/CSU) und fordert, die Richterwahl in einer Weise umzumodeln, die die Reformgegner zur Behauptung herausfordert, sie berge die „schwerwiegende Gefahr, daß das Bundesverfassungsgericht im Laufe der Zeit seines objektiven Charakters beraubt und zu einem Regierungsgericht“ degradiert werde.

Nach dem Grundgesetz werden die (24) Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat bestimmt. Das Ausführungsgesetz über das Bundesverfassungsgericht verfügt, daß im Bundesrat die Zweidrittelmehrheit und im Bundestag ein zwölfköpfiger Wahlmännerausschuß mit Dreiviertelmehrheit die Entscheidung trifft, was praktisch Einmütigkeit erfordert und bisweilen zu Verzögerungen führen kann. So ist die Richterwahl auf eine möglichst breite Vertrauensgrundlage bestellt. Nur wenn jede der großen politischen Gruppen, die das Staatsleben beherrschen, die Gewißheit besitzt, daß auch Persönlichkeiten am Verhandlungstisch Plätze einnehmen, die ihr Vertrauen genießen, wird jedem etwaigen Einwand der Einseitigkeit von vornherein der Boden entzogen und der Verlierer bewogen, selbst den unangenehmsten Spruch gleichsam aus autonomen Gründen hinzunehmen. Man darf nicht außer acht lassen: die Rechtsprechung erfüllt nur dann ihre Aufgaben sachgerecht, wenn zwei Elemente zusammenwirken: das subjektive Element der integren richterlichen Persönlichkeit und das objektive Element des Vertrauens, das die Bevölkerung und als deren Repräsentanten die politischen Parteien dem Gericht entgegenbringen. Zumal ein Gericht, dessen Entscheidungen sich auf politische Gegenstände beziehen, bedarf unbedingt einer breiten demokratischen Legitimation. Der Novellenentwurf der Regierung sieht nun eine Modifizierung des bisherigen Wahlverfahrens dahin vor, daß ein zweiter Wahlgang eingeschaltet wird, wenn der erste mißlingt, allerdings — und das ist der springende Punkt —, in diesem Wahlgang bedarf es geringerer Mehrheiten als im ersten: Im Bundesrat ist der Richter gewählt, der die Mehrheit des Hauses auf sich vereinigt (20 Stimmen); im Bundestag gilt als bestellt, wer die Stimmen von sieben Wahlmännern, also die absolute Mehrheit, gewinnt. Mithin wird die politische Opposition, die parlamentarische Minderheit um ihr Vetorecht gebracht, obwohl ihr nach dem Grundgesetz das Recht gehört, beim Bundesverfassungsgericht ein Kontrollverfahren zu beantragen.

Auf der anderen Seite müssen wir zugeben, daß politische Konstellationen möglich sind, die eine Wahl der Richter gänzlich blockieren. Daher schlagen wir vor: Grundsätzlich müßte man die gegenwärtige Situation belassen. Sollte sich erweisen, daß in einem gegebenen Fall die Wahl eines Richters unmöglich erscheint, dann müßte eine zweite Instanz in Wirksamkeit treten können. Bevor wir uns damit befassen, müssen wir noch ergänzen: Die Liste der Kandidaten für die Bundesverfassungsrichter wird zusammengestellt auf Grund der Wünsche der politischen Parteien, der Bundesregierung, der anderen Institutionen und Körperschaften, die das politische Leben der deutschen Bundesrepublik beherrschen, und der Wissenschaft. Die Eintragung in die Liste sollte jedoch von der Vorprüfung durch ein Fachgremium abhängen. Dieses Fachgremium könnte entweder das Kollegium der ßundesverfassungsrichter selbst sein oder ein Gremium, das sich aus den Präsidenten der Landesverfassungsgerichte zusammensetzt. Nachdem das besagte Fachgremium eine in Vorschlag gebrachte Persönlichkeit für tauglich befunden hat, soll der Betreffende in die Liste der Kandidaten eingetragen werden. Nur Persönlichkeiten, die in diese Liste Eingang gefunden haben, können vom Bundesrat und vom Wahl-

männerkollegium des Bundestages als Richter in das Bundesverfassungsgericht gewählt werden. Sollte sich, wie oben angedeutet, die Unmöglichkeit einer Wahl ergeben, dann müßte der Bundespräsident nach freiem Ermessen und ohne Gegenzeichnung die Entscheidung auf Grund der besagten Liste treffen können.

Worum geht es hier? Was hat die Frage mit Oesterreich zu schaffen? Warum regt dieses Thema eine österreichische kulturpolitische Wochenschrift auf, deren Aufgabe es ist, das christliche Gedankengut zu verbreiten und zu vertiefen?

Wenn wir uns die Kräfte und deren Repräsentanten näher ansehen, die den gegenwärtigen Notstand des Gerichtes zum willkommenen Anlaß nehmen, um dessen Zusammensetzung so zu gestalten und die Kompetenzen so zu beschneiden, daß vom ursprünglichen Institut kaum mehr etwas übrigbleibt, dann werden wir eine merkwürdige Bundesgenossenschaft entdecken. Es haben sich gefunden: Rechtspositivisten und Rechtstheoretiker, die ihre Ansicht mit dem Hinweis zu begründen suchen, das Gericht sei überfordert und gezwungen, politische, also sachfremde Entscheidungen zu treffen; Machtpolitiker aus dem Schoß der Regierung, die dem Irrtum verfallen sind, man schanze der CDU/CSU einen Nutzen zu, wenn man ihre augenblickliche Ueberlegenheit dadurch zu verewigen trachte, daß man die Bewegungsfreiheit der Opposition einengt; Mitglieder anderer Gerichtshöfe, die mit der Errichtung einer neuen, so justizmächtigen Institution nicht ganz einverstanden sind; die strukturellen Gegner der Demokratie, die nicht nur unter den angebräunten Politikern sich tummeln, sondern sehr zahlreich in der ersten Gruppe versammelt sind, die weiland theoretischen Gründer und Erbauer des Dritten Reiches.

Wir in Oesterreich besitzen das legitime Interesse daran, daß Deutschland als ein demokratischer Rechtsstaat eingerichtet bleibt. Nur wenn das Wesen der so umfassend ausgebauten Verfassungskontrolle nicht angetastet wird, wird die junge deutsche Demokratie der Gefahr entrinnen, neuerdings in einen Machtstaat abzugleiten. Der der deutschen Staatsauffassung eigene autoritäre Zug, zum Beispiel die Kanzlermaxime, der durch das Grundgesetz sogar weiterentwickelt wurde (siehe das „konstruktive Mißtrauensvotum“ bei der Abberufung und Bestellung des Kanzlers nach Art. 67 GG), erfährt erst durch eine wirksame Verfassungs-

gerichtsbarkeit das entsprechende Gegengewicht.

An der Vorentscheidung, die das Grundgesetz getroffen hat, wonach das Recht über der Politik waltet, dürfte auch indirekt keine Aenderung vorgenommen werden. Die Politik ist den Normen des Rechts unterworfen, das Recht steckt die äußersten Linien ab, innerhalb deren sich die Politik frei bewegt. Präsident Wintrich: „Die Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit ist also dort, wo die politische Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers und der P.egierung beginnt.“ Dieser Selbstbeschränkung hielt das Gericht bisher immer die Treue. Möge sich grundsätzlich nichts daran ändern!

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