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Wahlkampf und Sittlichkeit

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Die bisher üblicherweise vor den Nationalratswahlen geschlossenen Vereinbarungen zwischen der österreichischen Volkspartei und der Sozialistischen Partei Österreichs über die Führung eines fairen Wahlkampfes sind diesmal bis zur Stunde noch nicht zustande gekommen. Brieflich versicherten allerdings Generalsekretär Dr. W i t h a 1 m vorbehaltlos und Zentralsekretär Probst mit einer gewissen Einschränkung im Namen ihrer Parteien den nach wie vor bestehenden Wunsch zum Abschluß eines derartigen Abkommens und ihren Willen zur Vermeidung ehrenrühriger Behauptungen über den politischen Gegner während der Wahlzeit. Man mag dies als eine Art Gentleman' Agreement gelten lassen und auf dessen Einhaltung im Wahlkampf hoffen.

Die für den demokratischen Stil in unserer Republik mitverantwortlichen Staatsbürger dürfen sich jedoch mit einer solchen Erledigung der Sache nicht zufrieden geben. Der Anlaßfall konfrontiert uns unausweichbar mit der grundsätzlichen Frage, ob es denn überhaupt erst einer Vereinbarung bedarf, um in einer Demokratie zu einem fairen Wahlkampf verpflichtet zu sein, oder ob da nicht Dinge berührt sind, die ich von selbst verstehen sollten, s

Die politischen Parteien als Kampforganisationen zur Gewinnung einer rechtsinhaltlich unbeschränkten Macht, die demokratische Verfassung als eine zu diesem Zweck gerade noch in Kauf genommene Spielregel, das wäre ein wahrhaft infernalischer Triumph der Unbelehrbarkeit über die abgrundtiefen Erfahrungen unserer Generation mit dem Mißbrauch ungebundener politischer Macht.

Sicherlich können wir die Dinge auch weniger dunkel sehen und uns mit einem Seitenblick auf die politische Vernunft der Erwartung hingeben, die Praxis aller Demokraten werde besser sein als alle doch nur am Papier stehenden Grundsätze. Überdies könnte ein Verteidiger der Gegebenheiten, wie sie sind, auf die schon bestehende Regelung des politischen An-stands im Bundesverfassungsgesetz hinweisen.

Die eben wiedergegebene Beweisführung übersieht den Umfang der These von der „normativen Kraft des Faktischen“, die in ihren Geltungsbereich auch das demokratisch gestaltete Staatsleben einbezieht. Da das Volk — so könnte man umreißen -7 mit dem Stimmzettel aus Parteiidealen Richtmaße der Gerechtigkeit verfertigte, sei der Rechtsinhalt jederzeit willkürlich abänderbar. Ein Wesenszug der Demokratie liege deshalb in einer Lockerung der Herrschaft des Rechts zugunsten der politischen Parteien, denn andernfalls hätten diese nicht genug Chancen, durch Erzeugung und Ausnützung innerpolitischer Spannungen die Mehrheit zu erlangen. Musterbeispiel einer derart pragmatisch ausgerichteten Machtverteilung zwischen Mehrheit und Minderheit sei England, wo der Führer der Opposition als allenfalls durch die nächste Wahl zum Führer der Mehrheitspartei werdender Abgeordneter ein ebenso hohes Einkommen wie der Ministerpräsident beziehe.

Gerade am Beispiel Englands kann jedoch gezeigt werden, wie brüchig die Behauptung über die Parteien ist, sie seien nur ihrem eigenen Standpunkt verpflichtet und müßten daher als berechtigt angesehen werden, zu dessen Durchsetzung alle Mittel anzuwenden, die der Gegner hinnimmt. Wer die englischen Verhältnisse nur einigermaßen kennt, weiß, daß es nirgend in der Welt engere Grenzen für den Anstand im politischen und staatlichen Leben gibt wie in England, ohne daß dies einer schriftlichen Niederlegung bedürfte. Der Grund ist einfach. Jedem Engländer ist bei seinem Verhalten al Staatsbürger klar, daß er nicht einem oft gar nicht publizierten Gesetz, .sondern, einer als rechtlich bindend anerkannten sittlichen Grundvorstellung nachkommt, deren Beachtung er daher auch von dem Mann im öffentlichen Leben verlangt.

' Niemand glaube, in Österreich käme dem persönlichen Gewissen als Mittler zwischen der staatlichen Ordnung und der Rechtsbefolgung kein Bedeutung zu. Unser Bürgerliche Gesetzbuch spricht von natürlichen Rechtsgrundsätzen, nach denen der Richter einen Fall lösen soll. Im Strafgesetz ist ausdrücklich bestimmt, daß ich niemand mit der Unkenntnis des Gesetzes entschuldigen könne, weil dessen Inhalt der sittlichen Natur des Menschen entspreche. Auch nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes müssen zur richtigen Auslegung der Verfassung einige Grundwerte hinzugedacht werden. Univ.-Prof. Doktor A n t o n i 0 11 i hebt in seinem Werk „Allgemeines Verwaltungsrecht“ hervor, wie sehr ein Jurist irre, wenn er bei der Rechtsanwendung an dem unmittelbaren Wortsirin des Gesetzes allein hängen bleibe. G. Winkler baut seine Lehre von der absoluten Nichtigkeit von Verwaltungsakten von der Einsicht in die Unzumutbarkeit des Respekts vor einem grob mangelhaften Rechtsakt auf.

Wem diese Beispiele aus dem Bereich der Rechtstheorie noch nicht genügen, öffne seinen Blick den Lehren der Geschichte und der Wirklichkeit des Staatslebens. Kein Staat ändert seine gesamte Rechtsordnung über Nacht. Selbst bei einem Umsturz gilt der Inhalt vieler Vorschriften weiter. Der revolutionäre Umbau unserer Verfassung nach dem ersten Weltkrieg, der fast das gesamte Justiz- und Verwaltungsrecht der alten Monarchie unberührt ließ, ist dafür ein gutes Beispiel. Beim Vergleich zwischen der Zeit des Hitler-Regime und der bundesrepublikanischen Ordnung wagt ein deutscher Staatsrechtslehrer bei einem Vortrag in Wien kürzlich die Behauptung, Verfassungsrecht vergehe, Verwaltungsrecht bestehe, womit er die bemerkenswerte Konstanz der Vorschriften über die Verwaltungstätigkeit kennzeichnen wollte. Wir wissen über die Bemühungen in diktatorisch regierten Staaten, durch ein wohldosierte Gleichmaß von ogenannter Volksaufklärung und Propaganda langsam die Bedenken der Bevölkerung gegen eine uniittliche Handhabung der Staatsgewalt einzuschläfern. Allerding gibt es selbst nach Meinung der Diktaturen hier eine klare Grenze, wie die nunmehr vorliegenden Arbeiten des Deutschen Archivs für Ze;tgeschichte erweisen, wonach die schrecklichen Untaten des Dritten Reiche nur ein kleiner, wenige tausend Köpfe zählender Personenkreis beging, dessen Tätigkeit aber vor den Augen der Öffentlichkeit ängstlich geheimgehalten wurde.

Alle diese Erwägungen und Beispiele führen zur eingangs gestellten Frage zurück, ob ich die Pflicht zur Führung eine fairen Wahlkampfe in Österreich mit einen in der Verfassung garantierten Grund- und Freiheitsrechten nicht von selbst ergibt oder ob e dazu doch einer besonderen Vereinbarung zwischen den Parteien bedarf. Die Antwort erfließt aus der unter Beweis gestellten Einsicht, daß die Verderbung des Gewissens durch den Staat nicht ohne Schranken ist und daher jede Partei, die im Staate um Einfluß und Stimmen kämpft, wegen der Verbindung von staatsbürgerlichem Verhalten und sittlichem Gewissen genötigt ist, ein Minimum an Moral und Anständigkeit an den Tag zu legen.

Wenn die Parteien dieser damit gegebenen Basis für eine gemeinsam anerkannte Anständigkeit doch nicht ganz trauen, sondern den Abschluß von Wahlvereinbarungen versuchen, so rührt dieser Umstand von der historisch bedingten tiefen Entfremdung der Meinungen zwischen den beiden österreichischen Großparteien her, welchen Inhalt das politische Gewissen habe. Die Koalition als Weg des Brückenschlages führt aus diesem Grund seit der als Gemeinsamkeit gefühlten Erreichung der österreichischen Unabhängigkeit immer weniger zu einer gemeinsamen Sprache. Aber gerade diese heute so vielfach beklagte Un-beweglichkeit und sachliche Un-ergiebigkeit unserer demokratischen Einrichtungen läßt erkennen, wie auch in einer Demokratie im letzten Grund und auf lange Sicht gesehen nicht ein in beliebigen Anordnungen sich niederschlagender Volkswille regiert, sondern die dahinter stehende, oft verdeckte, oft unterdrückte, aber niemals auf die Dauer ausschaltbare objektive Sittlichkeit. Allen Wählern sollte dies während der Wahlzeit als Warnung vor falscher Propaganda, allen wahlwerbenden Parteien als Ansporn zu einem echten Ringen um die sittlichen Kräfte im Herzen jedes Staatsbürgers mit dem vollen Gewicht der damit verbundenen Verantwortung bewußt werden.

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