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Es gibt keine Ausrede für Mord

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„Heute hält der Mensch in seinen sterblichen Händen die Macht, nicht nur die menschliche Armut in all ihren Formen zu beseitigen, sondern auch das menschliche Leben in all seinen Gestalten zu vernichten. Und doch wird überall auf Erden noch immer um den gleichen revolutionären Glauben gerungen, für den unsere Ahnen gekämpft haben: den Glauben, daß die Rechte des Menschen kein Gnadengeschenk des Staates sind, sondern aus der Hand Gottes kommen.“

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„Heute hält der Mensch in seinen sterblichen Händen die Macht, nicht nur die menschliche Armut in all ihren Formen zu beseitigen, sondern auch das menschliche Leben in all seinen Gestalten zu vernichten. Und doch wird überall auf Erden noch immer um den gleichen revolutionären Glauben gerungen, für den unsere Ahnen gekämpft haben: den Glauben, daß die Rechte des Menschen kein Gnadengeschenk des Staates sind, sondern aus der Hand Gottes kommen.“

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Dieses Bekenntnis stellte John F. Kennedy an die Spitze seiner Amts-antrittsrede, die er am 20. Jänner 1961 vor den Repräsentanten der Vereinigten Staaten von Amerika in Washington hielt. Auf dem Gipfel seines politischen Erfolges. Bei der rechtmäßigen übernähme der Macht der mächtigsten Nation dieser Zeit. Keine Kanzelrede also, kein Enzy-klikenzitat, kein Vortrag des katholischen Bildungswerkes! Dennoch dürfen wir annehmen, daß Kennedy seine Aussage sehr wohl auch aus christlicher Überzeugung traf, obgleich wir aber auch wissen, daß diese Überzeugung nicht nur eine christliche, auch nicht nur Gemeingut der Weltreligionen, sondern auch die Überzeugung der Antike, voran der griechischen, ist. So läßt Sophokles seine Antigone sich gegenüber dem Gesetz des Gewalthabers auf das ungeschriebene Gesetz berufen, dem der Mensch verpflichtet sei, auch wenn es das größte Opfer koste.

Das Bekenntnis Kennedys bietet sich also als tragfähige gemeinsame Basis für alle an, die es verneinen, daß die Rechte der Menschen Gnadengeschenke des Staates seien, gleichviel, ob sie christlicher, sonst religiöser, oder auch nicht religiöser, aber dem Ursprung und dem Bestehensrecht menschlichen Lebens gegenüber von ehrfürchtiger Überzeugung und Haltung sind.

Das Grundrecht

Gewiß ist die Rechtsausstattung des Menschen nur ein Aspekt des Menschentums, aber für die Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und dem Staat der entscheidende, für die grundsätzliche Politik wie für die pragmatische der wichtigste. Ist doch der Staat ein Rechtssystem. Weswegen auch eine richtig verstandene Sozialpolitik keine Wohltätigkeitspolitik, keine staatliche Gnadentätigkeit, sondern Rechtspoditik ist.

Das erste Recht des ins Dasein getretenen Menschen aber ist sein Recht, ziu leben. Es ist das Fundamental-, das Basisrecht, ohne welches alle anderen Rechte, wie sie die Menschenrechtskonvention zu katalogisieren bemüht ist, so etwa das Recht auf Freiheit oder das Recht auf Bildung, gar keinen Sinn, gar keinen Ansatzpunkt hätten.

Darum ist auch die Anerkennung und der Schutz des Lebensrechtes die Basis, das Fundament, der Existenzgrund, der Urrechtfertigungs-grund des Staates. Staat ist nur ein solches Gebilde, dessen Zweck und Seinsgrund im Schutz des Lebens der auf seinem Gebiet existenten menschlichen Wesen bestellt. Gebilde, in danen ein solcher Sinn nicht absolut gilt, in dem die machthaiben-den Organe ihm nicht dienen oder sich gar anmaßen, zu befinden, welches menschliche Dasein weiter-exüstieren dürfe und auf welches man verzichten könne, sind nicht Staat. Denn fehlt der Urgrund, die Urbegründung staatlicher Existenz, dann haben wir allenfalls ein Gebilde, das vorgibt, ein Staat zu sein und auch einige Regungen eines Staates tut, vor uns, aber keinen Staat. Das hat sehr weitreichende Folgen für die Haltung der Bevöäke-rung jenes Gebietes, von welchem dieses keine moralische Rechtfertigung mehr besitzende Gebilde behauptet, es sei sein Staatsgebiet. Die aktuelle Frage wird hundertfach auftauchen, ob das Gewissen dieser

. Bewohner an die Forderungen und

■ Weisungen eines solchen Gebildes ' gebunden sei, Fragen also, wie sie

• unser Gewissen im Hinblick auf das i ungeheuere Gebilde jenes verflosse-I nen Gesellschaftswesens, das „un-' wertes“ und unerwünschtes Leben t in Spezialkliniken und Gaskammern . „unterbrochen“ hat, durch Wissen-

■ schaft, Literatur, Religion, Politik,

• Rundfunk und Presse unablässig i von neuem — mit Recht — gestellt ' bekommt. Solche sich als Staat ge-! bärdende Gesellschaftswesen hat

• Augustinus „magna latrocinia“, I große Räuberbanden genannt. Sie i sind es nämlich, welche die Rechte

• der Menschen, einschließlich ihres i Rechtes, zu leben, als Gnaden-i geschenke des Staates verstanden

■ und gehandhabt wissen wollten und “ vorstaatliche, dem Willen des Staa-! tes entzogene Rechte nicht anerken-, nen.

, In der Frage des Menschenbildes

“ also, vor allem in der Frage nach der Rechtsausstattung des Menschen,

' unterscheiden sich die das politische Leben bewegenden und die Rechts-

, Ordnung des Staates ausgestaltenden

■ Geister. t Die Frage nach dem Menschenbild i Gewiß, es gibt kein mathematisch

• exakt deflnierbares, kein cornputer-5 berechenbares absolutes Menschen-

■ bild. Es werden daher nicht nur bei religiöser und philosophischer, sondern auch bei rechtlicher Andeuch-tung und Durchleuchtung verschie-

; dene Deutungen und Aussagen

! möglich sein und niemand wird

■ sagen dürfen, daß seine Deutung die

■ zweifelsentrückt richtige sei. Aber

■ dennoch sind Aussagen über deutlich : sich gegenüberstehende Deutungen

■ und Überzeugungen und über ihre

■ Konsequenzen möglich, berechtigt ; und notwendig. i So können wir erkennen, daß ein

■ „Menschenbild“, das den Menschen i ohne das begriffismitbildende Recht auf Existenz, vielmehr nur mit

• einem Existenzrecht kraft Parla-i mentsmehrheit oder sonstigem

• Machthaberbedieben aussgestattet

■ zeigt, ihn, wenn nicht bewußt, dann : unbewußt, im zoologischen Bereich

■ ansiedelt, wo etwa nach Jägermei-i nungen dem Hirsch eine höhere t Würde zukommt als dem Schaf —

• und ebenso käme nach solchen zoologischen „Menschenbildern“ dem

, Menschen im Bereiche der Lebe-

' wesen wohl eine höhere Würde zu als dem Hirsch, aber doch nicht ein der Parlamentsmehrheit entrücktes

( Recht auf Weiterleben. Das alles

I mag nicht immer ins helle Bewußts sein der ein solches „Menschenbild“

! Zeichnenden oder seiner Betrachter treten, aber die Analyse dieses Bild-

. entwurfes und seiner Details läßt

, diese, wenn auch nicht in dieser

. Wucht gewollte, aber eben doch unentrinnbare logische Konsequenz erkennen, das denknotwendige Ende

5 ermitteln, den Prellbock sehen, der j. auf jenem Geleise steht, von dem

, also behauptet wird, es sei der Bahn des Menschen nur aus Machtzustän-

• digkeit und Großmut des Staates ge-, legt worden.

„Besonders leichte Fälle“?

; Vergegenwärtigen wir uns die Sit-

- zung der Strafrechtskommiission im l flause Rief bei Salzburg vom 6. Sep-

- ternber 1962, in welcher die Mehrheit

- ihrer Mitglieder auf jenem Absatz ; im vorgeschlagenen Paragraphen l über die Tötung des Kindes im Mut-

■ terleib beharrte, der vorsah, daß „in

Desonaers leicnxen jaiien von Strafe abzusahen sei. Dem Minderheitsvotum des Präsidenten des Wiener Oberlandesgerichtes Dr. Ma-lianiuk, daß dieser Absatz zu streichen sei, schlössen sich nur der Innsbrucker Universitätsprofessor Doktor Rittüer, der Wiener Rechtsanwalt Dr. Gürtler sowie die zwei Abgeordneten zum Nationalrat aus dem Kreise der ÖVP Dr. Hetzenauer und Piffl an. Einige andere äußerten wohl Badenken gegen die „besonders leichten Fälle“, stellten sie aber aus Erwägungen zurück, deren Gewicht nicht annähernd an das Aufrüttelnde der gestellten Frage heranreichte, und stimmten mit der Mehrheit für die Einführung des Rechtsbegriffes der „besonders leichten Fälle“ bei Auslöschung menschlichen Lebens. ders grell nicht nur die in der Strafrechtskommission wirksam gewesenen Anschauungen, sondern die tatsächlich schwere Problematik. Wir können unschwer an besonders leichte Fälle denken, deren Un-recbtsgehalt wohl festzustellen ist, die aber keine Kriminalsanktion seitens der staatlich organisierten Gesellschaft erfordern: ein unüberlegter geringfügiger Kirschendiehstahi, ein Kartenschwinde! in kollegialer •Runde bei kleinen Einsätzen und vieles andere mehr. Einen „besonders leichten Fall“ bei gewollter Auslöschung menschlichen Lebens aber kann es begrifflich niemals geben, es sei denn, man bekenne sich dazu, daß die Rechte des Menschen Großmutsgeschenke des sie auch zu widerrufen berechtigten Staates sind, dessen Machthaber also ermächtigt seien, „besonders leichte Fälle“ der Auslöschung menschlichen Lebens gesetzlich vorzusehen — wie dies die Mehrheit der Strafrechtskommission eben vorschlug. Das heißt gewiß nicht, daß der Staat sie selber bewirken solle, es heißt aber im Ergebnis, daß sein Gnadenfluß gegenüber einigen menschlichen Lebewesen eingeschränkt werden könne.

Flucht vor Staatspflichten

Es wäre, um unmißverständlich zu sein, dumm und eine Flucht vor den Staatspflichten, wenn, wie jüngst Zeitungsberichte schließen ließen, ein Abgesandter eines Ministeriums in den Chor einstimmte, daß eine Unterstrafsrtellung der „Schwangerschaftsunterbrechung“ gesellschaftlich nicht mehr bedeutsam sei, da vermuteten sechsstelligen „Unterbrechungsziffern“ je Jahr nur niedrige dreistellige Verurteilungszif-fern gegenüberstehen. Dann lassen wir auch jeglichen Diebstiahlspara-graphen fallen! Es ist Verantwortungslosigkeit oder Irrsinn, wenn die volle Erreichbarkeit eines wichtigen Richtzieles nicht winkt — und wo kann sie es je bei unserer Unvoll-komimenheit —, deswegen zum Marsch in die Gagenrichtung zu blasen.

Wohl können wir verstehen, daß ein nicht mehr als gesellschaftsbedrohlich angesehenes Verhalten, obwohl es noch als negativ bewertet wird, vom Staat aus seinem Verfolgungskatalog herausgenommen und damit straffrei gestellt wird, wie

■ dies durch die letzte Strafigesetz-; novelle hinsichtlich eines bestimm-

■ ten abwegigen Verhaltens geschah, i Aber „besonders leichte Fälle“ der 1 Auslöschumg menschlichen Lebens in i die Rechtsordnung einführen zu i wollen, bedeutet eine laszive Baga-i tellisierung des Rechtes auf Leben, t eine leichtfertige Bagatellisierung - des Ur-Rechtfertigungsgrundes des • Staates von Staats wegen! Im düste-

■ ren Licht der „besonders leichten

■ Fälle“ verliert sodann auch die i Straffreistellung der Tötung unge-l borener Menschen, während einer bestimmten Zeit oder überhaupt jederzeit, den Charakter einer bloßen NiehtmehrverfdLguing, sondern nimmt geradezu jenen der Billigung und der Berechtigungserteilung seitens des Staates an. Zu solcher Berechtigungsvergabe ist keine Instanz, ist niemand berechtigt. Anmaßungen solcher Art führten zur Zersetzung des Ur-Rechtfertigungsgrundes des Staates einerseits, anderseits aber nahezu linealgerade zur Bejahung weiterer Auslöschungen rassisch oder politisch oder be-quemilichkeitshalber oder ökonomisch nicht gewünschten Lebens, über Todesanstalten für Geistes-Erb- und Alterskranke zu neuen Gaskammern.

Eine Wegsuche

Nur wo Laben gegen Leben steht, so scheint es mir,

• also nach gewissenhafter Prüfung der Lebenssituation von Mutter und ungeboranem Kind durch ein ärztliches Konzilium, das keinen anderen Auswag mehr erkennt,

• und bei Notwehr gegen Angriffe auf das Laben und seine Grundbedingung, die Freiheit, wenn kein anderes Mittel der Abwahr zur Verfügung steht, darf der Staat schon vorher und grundsätzlich trotz Auslöschung menschlichen Lebens Ver-folgungs- und Straffreistellung in einer Waise vorsehen, die keinen Zweifal darüber aufkommen läßt, daß ihm keine Absolutionsfunktion in der Gewissensfrage zukommt, daß er vor allem das Recht auf Leben absolut bejaht und es mit allen seinen Kräften zu schützen gewillt ist, weswegen eine Freigabe von Tötungen, obwohl lebenserhaltende Hilfe möglich wäre, rechtswidrig ist.

Für Fälle dar Auslöschung menschlichen Lebens ohne das Vorliegen des Tatbestandes „Leben gegen Leben“, darf und soll ein Weg für die strafrdchterliche Befugnis zur Strafaibstandsnahme in Fällen, in welchen in schwerer seelischer Not gehandelt wurde, in jener Richtung gesucht werden, in welche Psychologie, Rechtsphilosophie, Theologie, Strafrechtswissenschaft und auch Strafgesetzgebung seit je zu suchen bemüht sind, sofeme der Wille zur

Klarstellung besteht und angemessen zum Ausdruck kommt,

• daß dem Staat und seinem Richter keine Rechtfertigungs- und keine Absolutionsbefugnis in der Gewissensfrage zukommt,

• daß sich der Staat grundsätzlich und absolut zu seiner Ur-Rechtfer-tigung bekennt, das Leben mit allen seinen Möglichkeiten der Vorsorge und Sanktion zu schützen, zu verteidigen und zu fördern, weswegen die gänzliche Freigabe, aber auch die Fristenlösung rechtswidrig sind.

• daß daher insbesondere eine gedachte Strafabstandsbestimmung nicht als Einschleichpforte für andere Gründe mißbraucht werden darf, wie dies aus der Geschichte der Rechtspflege, die zuweilen unter Berufung auf den Wandel gesellschaftlicher Auffassung diesen in Wahrheit erst auslöste oder ihm Vorschub leistete, nicht unbekannt ist,

• daß nur an Situationen gedacht sei, in wekhen jener Grenzibereich staatlicher Rechtspflege erreicht ist, in welchem der Staat zufolge seiner natürlichen Unvollkommenheit in Gefahr ist, strafend selbst den gesicherten Boden seiner Aufgabe, Recht zu finden und zu sprechen, zu verlieren.

Diese letztere Einsicht in die Unvallkommenheit irdischer Rechtswahrung hat uns den Grundsatz gelehrt und zum Gebot gemacht „ir dubio pro reo“ — „im Zweifel zugunsten des Angeklagten“. Um sc mehr muß anderseits in einen Rechtsstaat auch der Grundsatz gelten „in dubio pro vita“ — „im Zweifel zugunsten des Menschenlebens“ vor allem zugunsten des zweifelsfre unschuldigen Lebens. Dieser Grundsatz möge jenen zu denken geben die die Dreimonatsfrist desweger für vertretbar halten, weil sie es al: ungewiß ansehen, wann das menschliche Leben einsetze.

Identität von Au&gangs-iinri Richtpunkt

Wenden wir nochmals den Gedanken zurück zu der Forderung, dal der Staat, so er ein solcher sein will das Leben mit allen seinen Möglichkeiten schützen und fördern muß. Sc wurde denn von seiten der Minderheitsvotanten in der Strafrechtskommission an jenem tragischer 6. September 1962 nicht verabsäumt sich zu der Forderung zu bekennen daß der Sozialstaat Österreich alli Vorkehrungen und Einrichtungen zi treffen habe, daß materiellbegrün-dete Sorge und damit auch weithir von dieser Seite her mitbestimmte schwere seelische Not um des in Mutterleib heranwachsenden Kindef willen gar nicht aufkommen kann.

So aber schließt sich die Betrachtung, ausgehend vom Ausgangspunkt, dem Bilde des Menschen al; Träger des Rechtes, zu leben, hinführend zum Richtpunkt, dem Bilde des Menschen als Träger des Rechte: auf Hilfe durch die Gemeinschaft wenn es die Not erheischt, vergleichbar ein und demselben Punkl auf einer Kreislinie, zu welchem wir von ihm ausgehend, wiederum gelangen und ihn bestätigt finden. Das heißt aber: Identität des Rechtes, zu leben, mit der Pflicht zum Schutz und zur Absicherung des Lebens — des je unwiederholbaren einzelnen Menschenlabans — mit allen Mitteln, die der moderne Rechts- und Sozialstaat besitzt und die der Gesellschaft, insonderheit unserer Wohlstandsgesellschaft, jeder Ausrede entrückt, zur Verfügung 6teihen.

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