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Der Mensch und ein niditkalkulierter Motorschaden

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Zu &en Paradoxa unserer Zeit zählt' leider die bedauernsr werte Tatsache, daß das Streben des einzelnen, sowie von Staat und Gesellschaft, nach Verbesserung der Lebensbedingungen zunimmt, die Achtung vor dem Leben selbst aber abnimmt. In seinem PerfektiÖnsstreben glaubt sich der Mensch über das Leben selbst verfügungsberechtigt. Eine neue Form des Individualismus greift um sich, der an die Stelle der „Grundsatzethik“ eine „Situationsethik“ treten läßt, was dem Relativismus Tür und Tor Öffnet und leider nur allzuoft die allgemeine Regel durch die Ausnahme ersetzt. In ihrem Leistungsstreben verliert die Wohlfahrtsgesellschaft aber auch im wachsenden Maße das Verständnis für menschliche Grenzsituationen, wie es auch das ungeborene Leben und das menschliche Sterben sind. Bisweilen hat man den Eindruck, als würden Schwangerschaft und Krankheit als nicht kalkulierter Motorschaden angesehen, und auch die Unberübrtheit der Natur als ein Perfektions- und Expansionshindernis.

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Zu &en Paradoxa unserer Zeit zählt' leider die bedauernsr werte Tatsache, daß das Streben des einzelnen, sowie von Staat und Gesellschaft, nach Verbesserung der Lebensbedingungen zunimmt, die Achtung vor dem Leben selbst aber abnimmt. In seinem PerfektiÖnsstreben glaubt sich der Mensch über das Leben selbst verfügungsberechtigt. Eine neue Form des Individualismus greift um sich, der an die Stelle der „Grundsatzethik“ eine „Situationsethik“ treten läßt, was dem Relativismus Tür und Tor Öffnet und leider nur allzuoft die allgemeine Regel durch die Ausnahme ersetzt. In ihrem Leistungsstreben verliert die Wohlfahrtsgesellschaft aber auch im wachsenden Maße das Verständnis für menschliche Grenzsituationen, wie es auch das ungeborene Leben und das menschliche Sterben sind. Bisweilen hat man den Eindruck, als würden Schwangerschaft und Krankheit als nicht kalkulierter Motorschaden angesehen, und auch die Unberübrtheit der Natur als ein Perfektions- und Expansionshindernis.

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Die deutlichste Gefährdung des Lebens zeigt sich wohl in der Preisgabe des Üngeborenen, was eine Widersprüchlichkeit der Gegenwart von besonderer Art ist.

Vielfach wird dabei die Auffassung vertreten, der Fötus im Mutterleib habe noch kein Leben. Die Frage hat ein Mediziner vom Rang des Innsbrucker Professors der Medizin Heribert Berger in seiner Rektoratsrede selbst beantwortet: „Frage 1: Ist das, .was bei der Befruchtung menschlicher Keimzellen entsteht, wirklich Leben? Ja, es ist wirkliches, organisches Leben, zunächst in Form einer einzigen Zelle, bestehend aus den drei Hauptstücken einer lebenden Zelle, dem Zellkern, dem Zelleib und der Zellwand, und ausgestattet mit. allen für das Leben dieser Zelle notwendigen Substrukturen, einschließlich der Fähigkeit, sich durch Teilung zu vermehren. Frage 2: Ist dieses so entstandene Leben individuelles Lebssn,? Ja,$8j$t neues, einzigartiges^ individuelles Leben. Frage 3: Ist dieses individuelle Leben der ersten neuen Zelle und der folgenden auch wirklich menschliches Leben? Ja, im biologischen Sinne unbestreitbar, da aus menschlichen Keimzellen nur -wieder eine neue menschliche Zelle entstehen kann.“

Nach dieser medizinischen Feststellung ist es daher auch erklärlich, daß bei dem pränatalen Wesen ausdrücklich oder stillschweigend der Beginn des Lebens mit der Befruchtung als Beginn der Rechtsträger-eigenschaft angenommen und dementsprechend auch als Schutzobjekt des Rechts angesehen wird; leider kommt dieser Anspruch auf Rechtsschutz des ungeborenen Lebens im Verfassungsrecht nicht entsprechend zum Ausdruck.

Hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Beurteilung der Fristenlösung durch das Bundesverfassungsgericht in der BRD und der Ansicht des österreichischen Verfassungsgerichtshofes läßt sich, trotz der Verschiedenheit des Grundrechtsschutzes und unabhängig von der Bewertung des Rechts auf Leben in der europäischen Menschenrechtskonvention, festhalten, daß die Frage, ob die Fristenlösung das in beiden Rechtsordnungen verankerte Grundrecht der Gleichheit vor' dem Gesetz verletze, von den beiden Verfassungsgerichten jeweils verschieden beantwortet wurde. Während der österreichische Verfassungsgerichtshof in der Geburt eine scharfe Zäsur sieht, die es gerechtfertigt erscheinen läßt, die Leibesfrucht gegenüber den Geborenen unterschiedlich zu behandeln, sieht der Bundesverfassungsgerichtshof in Karlsruhe in der Geschlossenheit und Ungebrochenheit des kontinuierlich verlaufenden Lebensprozesses eine Schranke für den Lebensschutz und erklärt die Fristenlösung deshalb auch als gleichheitswidrig. Es werden dabei gegensätzliche Auffassungen bezüglich des Grundrechtsschutzes offenkundig. Im Gegensatz zürn materialen Grundrechtsver-ständnis in' der BRD ist das Erkenntnis unseres Verfassungsgerichtshofes Ausdruck eines wenn nicht wertindifferenten, so doch wertfernen und in diesem Sinn formalen Grundrechtsverständnisses.

'Mit der Forderung nach Rechts-' sehutz des ungeborenen Lebens sei ' nicht die Meinung verbunden, daß i niit dem Recht uatlaier Strafandrohung allein das ungeborene Leben genügend geschützt sei, das ist nicht der Fall. Es bedarf vielmehr auch der Liebe, Hilfsbereitschaft und des Verständnisses für Frauen in Bedrängnis und ihre schuldlosen Kinder. Das verlangt neben der so wichtigen finanziellen caritativen Hilfe das Abbauen von falschen Vorurteilen und Resentiments gegenüber unehelichen Kindern und deren Müttern. Selbstverständlich bedürfte es überhaupt einer verbesserten Sexualaufklärung und Sexualpädagogik, einer Reform des Adoptionsrechtes und der Heranziehung auszubauender und zu vermehrender Beratungsstellen. Ihre Schaffung ist aktive Sozialpolitik. Von der Würzburger Beratungsstelle wurde berichtet, daß sich von jenen, die zur Beratung kamen, immerhin drei Viertel entschlossen haben, die Schwangerschaft auszutragen.

Die durch die Fristenlösung deutlich gewordene fragwürdige Einstellung zum Recht auf Leben ist nicht allein auf den Ungeborenen beschränkt, sie dehnt sich auch auf das geborene Leben weiter aus.

In seinem Streben nach Perfektionismus und Rentabilität ist der Mensch im zunehmenden Maße auch bestimmend für seine Umwelts- und

Lebensbedingungen geworden, ohne sich dabei der damit verbundenen Gefahren entsprechend bewußt zu; sein. Auf die Notwendigkeit der Landschaftspflege und des Naturschutzes, der Reinhaltung der Gewässer und der Luft, der Bekämpfung des Lärms, der Abfallbeseitigung und des Schutzes der Lebensmittel sei besonders hingewiesen. Die erforderlichen Maßnahmen betreffen nicht nur ein einzelnes Gebiet, sie reichen vom Gewerberecht über das Wasserrecht bis zum Strahlenschutz.

Zur Erfüllung seiner Aufgaben muß der sogenannte Umweltschutz sowohl ästhetische (Erleben), soziale (Erholung), medizinische (Gesundung), wie vor allem auch im Erfordernis des Überlebens existentielle Aufgaben erfüllen. Der Umweltschutz ist heute vielfach nicht mehr nur eine Frage nach der Qualität des Lebens, sondern nach seinem Bestand überhaupt. Das zeigt sich besonders in den Grundrechtsordnungen, die liberale, politische und soziale Grundrechte kennen, aber noch nicht entsprechende auf den Umweltschutz gerichtete Grundrechte, die man existentielle Grundrechte nennen müßte und die als Sozialgestaltungsauf-trag an den Gesetzgeber .nicht mehr, wie die klassischen Freiheitsrechte, ein Unterlassen, sondern gleich den solzialen Grundrechten ein Tun des Staates verlarigen. Der Umweltschutz verlangt daher eine Umweltschutzpolitik und diese nicht allein auf nationaler, sondern auch auf interna-, tionaler Ebene.

Welche- Maßnahmen von staatlicher und internationaler Seite auch immer für den Umweltschutz getroffen'werden, stets werden sie von

Mjä9yU|HM^ySB|ä^^en der Menschen begleitet sein müssen, das um-wilÖreiJiiciIiäiäiSfc$ffd als solches ein neues Freiheitsverständnis verlangt.

Ein Prozeß der Selbsterziehung des einzelnen ist erforderlich, der verlangt, daß der einzelne sich nicht nur auf ihm zustehende Freiheiten, wie Handlungs-, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit, beruft, sondern unter dem Sozialstaats- und speziellen Umweltschutzangebot auch erkennt, daß diese ihm zustehende Freiheit dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt.

DieVerfügbarmachung des Lebens durch den Menschen drückt sich neben der Gefährdung des ungeborenen Lebens und der Umwelt in zunehmendem Maße durch den Fortschritt der Medizin auch im letzten Lebensabschnitt des Menschen aus. Dabei ist es bemerkenswert, daß mit dem Ausbau des. Wohlfahrtsstaates der alte und kranke .Mensch aus der Familie und ihrem Heim in Anstalten gebracht wird und damit auch, anders als früher, der Tod fast völlig aus der Alltagserfahrtlhg verschwunden ist. Es scheint ja überhaupt, als wäre für die heutige Leistungsgesellschaft nur der zurn Einsatz bereite und fähige Mensch interessant, nicht aber der Kranke und Sterbende, obgleich gerade er des mitfühlenden und helfenden Zuspruchs besonders bedürfte. Diese menschliche Problematik wird noch durch die Möglichkeiten der Medizin begleitet, gefährliche Krankheiten aufzuhalten, Organe auszutauschen und unter bestimmten Umständen das Leben sogar zu verlängern. Es stellt sich das Problem der sogenannten „Sterbehilfe“, die in der ideologisierten

Form der „Euthanasie“ ein trauriges Kapitel der Zeitgeschichte darstellt.

Unter Sterbehilfe ist die Hilfe oder der Beistand einem Sterbenden gegenüber gemeint. Als 'aktive-Sterbe-' hilfe stellt sie insoferne eine Hilfe zum Sterben dar, als sie als direkte Sterbehilfe das Leben des Sterbenden verkürzt, um das Leiden zu beenden, als indirekte Sterbehilfe aber seine Schmerzen zu lindern sucht und dies, nicht direkt gewollt, eine Verkürzung des Lebens zur Folge hat. Von dieser Hilfe beim Sterben ist die1 passive Sterbehilfe zu unterscheiden, sie besteht in einem Unterlassen von lebensverlängernden Maßnahmen bei einem Sterbenden.

Während die direkte Sterbehilfe als Tötung abzulehnen ist, kommt die indirekte Sterbehilfe ethisch in Frage, wenn die Schmerzlinderung ethisch erlaubt ist, zwischen der Schmerzlinderung und der Lebensverkürzung ein annehmbares Verhältnis besteht und die Lebensverkürzung nur eine nichtgewollte Nebenfolge ist.

Die passive Sterbehilfe ist ethisch erlaubt, wenn die unterlassenen le-gensverlängernden Maßnahmen ein für den Sterbenden subjektiv nicht mehr zu ertragendes Leiden in sinnloser Weise verlängern würde, das dann zu erwartende Dasein menschenunwürdig wäre und der Sterbende selbst keinen Wunsch auf Lebensverlängerung stellt, und auch vernünftigerweise nicht mehr stellen kann. : ' 1 ..' .' '

Der katholische Moraltheologe Professor Werner Schöllgen hat be-, reits ein Recht jedes Menschen auf einen natürlichen, ihm. gemäßen Tod hervorgehoben und mit aller Entschiedenheit betont, daß niemand „durch überflüssige Operationen und Eingriffe, die keinerlei humane Hilfe bieten, oder mit immer neuen Spritzen zu neuen Plagen weitergezerrt“ werden dürfe; man. soll, daher die Grenze des Lebens achten und sie nicht „in technischer. Hybris oder in sinnlosem Titanismus“ überwinden. Schöllgen bezeichnete Unterlassungen dieser Art als eine nicht nur erlaubte, sondern sittlich gebotene Euthanasie. Der protestantische Theologe Helmut Thielicke hob wieder hervor, daß der Mensch nicht nur ein Recht. auf sein Leben, sondern auch auf seinen Tod habe, „Der vermeintliche Dienst am Menschen, der sein Leben bedingungslos meint erhalten zu müssen, kann in einen Terror der Humanität umschlagen.“

Man muß allerdings zugeben, daß die Abgrenzung und Entscheidung zwischen notwendigem Lebensschutz und nicht mehr gerechtfertigter Lebensverlängerung nur sehr schwer zu ziehen ist; sie verlangt vom Arzt eine Gewissensentscheidung, die ihm niemand abnehmen kann. Die Problematik der:Sterbehilfe liegt ja in der'sehr schmalen Grenze^ die zwischen der Hilfe beim Sterben und der Hilfe zum Sterben liegt, was noch durch die zunehmende medizinisch-technische Möglichkeit begleitet wird, den Tod künstlich hinauszuzögern. Dabei ist es auch sehr schwer zu beurteilen, in welchem Maße ein Todkranker selbst nach Abkürzung seiner Leiden verlangt und ihm hie-zu noch das rechte Bewußtsein eignet. Nach dem Wiener Strafrechts-lehrer Roland Grassberger muß Ausgangspunkt der Beurteilung „die Feststellung sein, daß der Arzt niemals Beihilfe zum Selbstmord leisten darf. Eine solche wird dann zu verneinen sein, wenn die angewendete Therapie medizinisch angezeigt ist, um die mit dem Ableben verbundenen Leiden zu beheben oder doch wesentlich zu mildern, wenngleich damit die Gefahr einer —, im Verhältnis zu dem daraus für den Sterbenden erlangten Gewinn — unbedeutenden Verkürzung des Lebens verbunden ist“.

So sehr die Sterbehilfe im Sinne einer auf Abwägung von Schmerzlinderung und Lebensdauer beruhenden Hilfe zu einem möglichst menschenwürdigen Tod der Entscheidung des helfenden. Arztes überlassein sei, so sehr sei aber dem „Recht zum-Töten“ und damit der direkten, aktiven Euthanasie Absage erteilt. Diese Form der Tötung hat nichts mit. Sterbehilfe zu tun, die Erinnerung des politischen Mißbrauches der Euthanasie in der NS-Zeit ist als Mordserie noch im. Bewußtsein. Keinem Menschen steht das Recht zu, den Lebenswert eines Mitmenschen zu beurteilen. Handlungen zur Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens sind als Mord oder Totschlag strafbar.

Mögen auch die Fragen nach dem Schutz ungeborenen Lebens, der Umwelt und nach dem Recht auf menschliches Sterben hier wie eine Zusammenschau von getrennt auftretenden Problemen erscheinen, so betreffen sie doch alle gemeinsam einen Grundwert der staatlichen Ordnung, das Recht nämlich zum Leben, das stillschweigend allen Grundrechten und damit der Verfassung sowie ihrer Rechtsordnung vorausgesetzt ist.

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