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Die Ehrfurcht vor dem Leben gilt als tragender Pfeiler menschlichen Wirkens und damit überhaupt jeder Kultur auch jenen, die ohne Bindung an Religion, Weltanschauung oder Tradition das Leben bejahen. So erfreulich es ist, daß sich diese Erkenntnis so allgemein durchgesetzt hat, so sehr muß es befremden, daß vielfach und gerade von solchen, die darüber nicht genug dozieren können, ein wichtiger Grundsatz verkannt wird, der sich aus dem Wesen der Ehrfurcht vor dem Leben von selbst ergibt: Die Unteilbarkeit des menschlichen Lebens, dem die ebensowenig teilbare Ehrfurcht zu dienen hat.

Das menschliche Leben beginnt — nach einwandfreien Feststellungen der medizinischen Wissenschaft — nicht erst mit der Geburt, sondern vom Augenblick der Befruchtung an. Daraus gelangt die Soziologie zu dem allgemein anerkannten Ergebnis, daß die Leibesfrucht nicht ein bloßer Körperbestandteil der Schwangeren, sondern als individuelles Lebewesen ein selbständiges Glied der menschlichen Gesellschaft ist. Als weitere Folge wird daher jede freie Willkür gegenüber dem Wohl und der Entwicklung der Leibesfrucht abgelehnt, der vielmehr der gesellschaftliche Schutz, auch gegenüber ihren Zeugern namentlich auch vor einem „Verfügungsrecht“ der Schwangeren selbst, zuerkannt wird.

Damit steht auch die österreichische Rechtsordnung im Einklang. § 22 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches bestimmt ausdrücklich: „Selbst ungeborne Kinder haben von dem Zeitpunkt ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze. Insoweit es um ihre und nicht um die Rechte eines Dritten zu tun ist, werden sie als Geborene angesehen…“ Darnach ist also die Leibesfrucht rechtsfähig, sie wird im Bedarfsfälle durch einen Kurator vertreten und genießt nach dem geltenden Recht nicht bloß vermögensrechtlichen, sondern auch jeden anderen Schutz, insbesondere gegen Verletzung oder Vernichtung. In Uebereinstimmung damit hat auch das österreichische Strafgesetz den Schutz gegen Vernichtung des keimenden Lebens — Abtreibung der eigenen und fremden Leibesfrucht — in den §§ 144 ff. durch als Verbrechen unter Strafe gestellte Tatbestände gesichert. Die Tatbestände sind ihrer Natur nach richtig als Tötungsdelikte eingereiht.

Straffreiheit räumt das Gesetz nur dann für die Einleitung einer Fehlgeburt oder für die Tötung der Frucht im Mutterleibe ein, wenn solche Handlungen in der Absicht vorgenommen werden, „von der Schwangeren eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Lebensgefahr oder Gefahr dauernden schweren Schadens an der Gesundheit abzuwenden“, wie aus §§ 357 a und 499 b Strafgesetz zu entnehmen ist. Ueber die sittliche Berechtigung dieser Tatbestände, die als medizinische Indikation zusammengefaßt werden, sei hier nicht abgesprochen, da Ausgangspunkt das geltende Recht ist. In diesem Zusammenhang sei nur der Hinweis erlaubt, daß sich die Bereiche der Moral und des Rechtes nicht decken und eine positive rechtliche Regelung nicht immer den Anspruch erheben kann, sittlich vollkommen einwandfrei zu sein.

Die medizinische Indikation selbst ist auch gar nicht verantwortlich zu machen für die Massenerscheinung der Abtreibungen. Denn sie vermag' — und das ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine richterliche Erfahrungstatsache — nur sehr selten als der vom Gesetz zugelassene Ausnahmefall: bei Erschöpfung aller zur Rettung von Mutter und Kind zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, die Unterbrechung einer Schwangerschaft zu rechtfertigen. Sie wird aber mittelbar zum Hauptschuldigen, weil sie den äußeren Deckmantel bietet, unter dem — verhohlen und unverhohlen — alle anderen vom Gesetz verpönten Gründe zu den Abtreibungen führen. Solche Gründe sind: der blanke Hang nach einem bequemen Leben, persönliche Feigheit und Eitelkeit, die vor den körperlichen Beeinträchtigungen durch die Schwangerschaft zurückschrecken, ferner der Wunsch, in der Sport- oder Berufstätigkeit nicht gestört zu werden, und schließlich auch die Sorge vor wirtschaftlicher Notlage, die mit vermehrten Kosten durch die Aufziehung des Kindes befürchtet wird.

Die zuerst angeführten Gründe tragen ihre Widerlegung bereits in ihrer selbstsüchtigen Natur. Wirtschaftliche Not aber, die als soziale Indikation bezeichnet wird, widerspricht dem Wesen einer wahren Kultur. Denn wenn diese von der Ehrfurcht vor dem Leben getragen sein will, so würde sie sich selbst verleugnen, wenn sie auf der anderen Seite mt erteile Güter dem menschlichen Leben vorziehen wollte. Wahre Kultur kann nicht zulassen, daß Menschenleben nur aus Sorge vor einer wirtschaftlichen Last vernichtet werden. Sie darf nicht ungeborenes Leben töten, um den Geborenen mehr Brot zu geben. Lebensmittel dürfen nicht mit menschlichem Leben komnierzjell bezahlt werden, sondern müssen auch dienende Mittel zu dem Leben bleiben, das in der Leibesfrucht existent geworden ist.

Im übrigen lehrt die Erfahrung, daß die soziale Indikation für die Massenabtreibungen gar nicht ausschlaggebend ist. Das beweist allein schon die Tatsache, daß gerade in den ärmsten Kreisen der städtischen Bevölkerung "die Kinderząhl verhältnismäßig am größten ist. Mag hier eineni Kinde mit noch so großer Sorge entgegengesehen worden sein, die Geburt des Kindes verdrängt auch hier schlagartig alle vorher gehegten Bedenken und steigert noch die Opferfreudigkeit. Ganz anders bei jenen Kreisen, die von wirtschaftlicher Not nicht bedrängt sind. Gerade sie tragen den Hauptteil der Abtreibungen bei. Ihr kriminelles Verhalten versuchen sie dabei noch als verantwortungsbewußt und klug hinzustellen, während sie die gebärenden Frauen als verantwortungslos und minderwertig dumm einem Tadel, selbst in der öffentlichen Meinung, auszusetzen bemüht sind. Sie verstehen es auch, je nach ihren Mitteln, Pfuscher, Hebammen und Aerzte zu einem verbotenen Eingriff zu bewegen. Die Pfeifer wieder lassen sich — selten aus falschem Mitleid oder persönlichen Bindungen — in der Regel aus gewinnsüchtigen Motiven herbei, ein Arzt nicht selten mit dem offensichtlichen Selbstbeschwichtigungsversuch, daß die Abtreibung, wenn e r sie nicht vornimmt, von einem anderen Arzt oder womöglich von einem Pfuscher durchgeführt würde. Dabei bedienen sich Schwangere und Helfer, obwohl die Voraussetzungen der medizinischen Indikation in keiner 3Veise vorliegen, gerne noch eines Begutachters, der eben die offizielle Deckung zu liefern hat. Ist es docfi vielsagend, daß für solche Kreise „Tuberkulose“ den Abtreibungsgrund abgibt.

Der geschilderte Mißbrauch der medizinischen Indikation ist ein offenes Geheimnis. Er findet seine Nahrung in der verbreiteten pnklarheit über den Tötungscharakter der Abtreibung, in dem verkümmerten sittlichen Bewußtsein und zum Teil auch in der Ge7 . schäftsgier der mitunter wirtschaftlich bedrängten Abtreiber. Zu einem guten Teil trägt aber auch die Gesetzgebung selbst daran schuld.

Nach geltendem Recht ist der Arzt, der eine Unterbrechung vornimmt, nur an seine Gewissenhaftigkeit gebunden, sich davon zu überzeugen, daß die — nur selten zutreffenden — Voraussetzungen der medizinischen Indikation vorliegen. Bedenkt man nun, daß hei den einzelnen Kranpheitszuständen gar kein einheitliches Urteil darüber besteht, ob sie überhaupt einen Unterbrechungsgrund im Sinne des Gesetzes abgeben, so ist die Entscheidung rein dem subjektiven Befund des verschiedenen Grades der Ausbildung, Erfahrung und Auffassung des einzelnen Arztes anheimgestellt. Daraus ergeben sich allein schon die größten Schwankungen, selbst •wenn man zunächst von der Gewissenhaftigkeit des Eingreifenden ausgeht. Wird aber noch die Gewissenhaftigkeit verletzt, dann ist die Grenze schwer zu finden, die sich der gewissenlose Abtreiber nur in der Absicht setzen mag, nicht mit Erfolg zur Verantwortung gezogen zu werden. Aber selbst dann wird sich noch mancher verrechnen. So, wenn sich etwa ein Arzt dahin auszureden versuchen sollte, daß ihm von einem Internisten die medizinische Indikation bestätigt worden sei und daß ihn deren Richtigkeit nicht interessiere. Denn die Richtigkeit der medizinischen Indikation hat den eingreifenden Arzt, mag er auch für solche Fälle „nur Gynäkologe“ sein wollen, so sehr zu interessieren, daß er sie nach bestem Wissen und Gewissen zu überprüfen gezwungen ist. Das um so mehr, als ja den Gynäkologen am besten bekannt ist, daß Gefälligkeitsbestätigungen darüber keine Seltenheit sind.

Die große Gefahr des Mißbrauches der medizinischen Indikation wurde rechtzeitig von namhaften Medizinern und Juristen erkannt. Uebereinstimmend forderten sie zur Vorbeugung eine objektive Instanz zur Feststellung der medizinischen Indikation im Einzelfall. Dem wurde auch von der österreichischen Gesetzgebung entsprochen. Als nämlich mit der Strafgesetznovelle 1937 die medizinische Indikation in das Gesetz eingebaut wurde, ist gleichzeitig das Gesetz zum Schutz des keimenden Lebens, BGBl. 1937,

Nr. 203, erlassen worden. Die darin enthaltenen Verwaltungsbestimmungen waren als unzertrennlicher Teil der in der Strafgesetznovelle 1937 geregelten medizinischen Indikation gedacht, weil man nur dadurch den beabsichtigten Erfolg gewährleistet annahm, nämlich, daß die schon damals als Seuche bezeichneten Abtreibungen bekämpft werden und ein Mißbrauch der medizinischen Indikation verhindert werde. Die Vorschriften sahen vor: Einleitung eines Verfahrens vor einer mit Fachärzten besetzten Prüfungsstelle, die Feststellung dieser Instanz, daß alle Möglichkeiten gesundheitlicher Maßnahmen zur Rettung von Mutter und Kind erschöpft sind, Vornahme des Eingriffes in einer Krankenanstalt, Anzeige an die Prüfungsstelle.

Diese Verwaltungsbestimmungen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus von dessen rassehygienischen Gesetzen abgelöst, jedoch nach deren Außerkrafttreten im Jahre 1945 nicht wieder eingeführt. Das Fehlen solcher Bestimmungen hat den Hauptteil der seit 1945 massenhaft ange- wachsenen Abtreibungen auf dem Gewissen, deren Zahl, mag sie auch statistisch nicht genau erfaßbar sein, jedenfalls Legion ist.

Der Ruf nach derartigen Bestimmungen ist nicht verstummt. Mit besonderem Nachdruck kommt er aus Aerztekreisen selbst, als rühmliches Beispiel sei nur kurz auf den steirischen Primararzt Dr. Hans A ß m a n n verwiesen, der auch der Oeffentlichkeit bereits praktische Vorschläge bis zu dem unausweichlichen Gesetzgebungsakt unterbreitet hat. Einem solchen Gesetz steht kein Hindernis entgegen. Es handelt sich dabei insbesondere nicht um eine politische Frage. Hat doch selbst Professor Tandler, dem gewiß nicht der Vorwurf der Indikationsfeindlichkeit oder eines „bürgerlichen“ Denkens gemacht werden kann, dieselbe Forderung vertreten (vergleiche Festschrift zu Kautskys 70. Geburtstag).

Der Ruf nach Einführung von Verwal-

tungsbestimmungen zur Schließung der so verhängnisvollen (Gesetzeslücke darf auch nicht verstummen. Es steht zu viel auf dem Spiel, um noch weiter untätig bleiben zu dürfen. Bei Regelung dieses Uebelstandes würden zunächst die Abtreibungen sprunghaft abnehmen. In noch größerem Maße würde die Geburtenzahl zunehmen. Denn im Gegensatz zu den Frauen, die nach einer Unterbrechung der Schwangerschaft infolge verschiedener Krankheitsfolgen häufig sterilisiert werden und so für die weitere Erneuerung der Bevölkerung aus fallen, bleiben dafür die gebärenden Frauen weiter erhalten. Darüber hinaus würden die Frauen selbst vor den Heimsuchungen bewahrt bleiben, die bei Unterbrechungen nicht nur vereinzelt mit dem Tode, sondern oft mit schweren körperlichen und psychischen Folgen (Neurosen) verbunden sind. Den gewerbsmäßigen Abtreibern würde das Handwerk gelegt, es wäre dann endlich zwischen ihnen und den gewissenhaften Geburtshelfern eine klare Trennungslinie gezogen, da Gefälligkeitsbestätigungen so gut wie ausgeschlossen wären. Hand in Hand damit würde auch die unsoziale Begleiterscheinung wegfallen, daß sich gewisse Kreise, nur weil sie über genügend Geld verfügen, das Kind „nehmen“ — richtig töten lassen können, wenn sie es bloß wollen. Dann wäre auch hier dept sattsam bekannten Vorwurf: „Den Armen hängt man, den Reichen aber läßt man laufen“, jeder Boden entzogen.

Der größte Gewinn wäre aber zweifellos die sittliche Besinnung breiter Bevölkerungskreise auf die wahre Ehrfurcht vor dem Leben, das zu erhalten und fördern unsere Pflicht ist. Davor darf sich niemand ausschließen, auch nicht die Gesetzgebung und Verwaltung. Ihrem Einschreiten tut besondere Eile not.

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