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Hat Leben Vorrang?

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Das, was im folgenden gesagt wird, ist gut gesagt. Aber es gewinnt noch eine zusätzliche Dimension, wenn man weiß, wer der Verfasser ist: ein Sozialist, konfessionslos, Beamter im Bundeskanzleramt, enger Mitarbeiter des Regierungschefs.

Nach der in Österreich derzeit gültigen Gesetzeslage ist der Schwangerschaftsabbruch ein Delikt, das unter bestimmten Voraussetzungen straflos bleibt. 97 Abs. (1) Strafgesetzbuch (StGB), nennt diese Voraussetzungen. An erster Stelle wird lapidar bestimmt: „Die Tat ist nach 96 nicht strafbar, wenn der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft nach vorhergehender ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen wird“.

In der Diskussion um diesen Paragraphen kam auch bei den Befürwortern der teilweisen Straflosigkeit oft genug 'zum Ausdruck, daß das Hauptmotiv für die Gesetzesänderung in der Untauglichkeit der Strafverfolgung als Mittel zur Abtreibungsverhinderung zu suchen sei, und daß mit der Straffreiheit der Schwangerschaftsabbruch keineswegs als unbedenklich hingestellt werden soll.

Wie bei jedem Kompromiß gibt es Tendenzen, welche die geltende Rechtsnorm in der einen oder anderen Richtung korrigieren wollen. Vor allem ist die Dreimonatsgrenze trotz aller scheinbar logischen Begründungen völlig willkürlich und zufällig gewählt. Es gibt Beispiele aus den Oststaaten und aus den USA, wo die Frist bis auf sieben Monate ausgedehnt ist, oder wo überhaupt auf eine Frist verzichtet wird. Es gibt weiters Tendenzen, die aus der Straffreiheit einen Rechtsanspruch auf Abtreibung und auf öffentliche Kostentragung herleiten wollen.

Es kann daher nicht verwundern, wenn die Gegner der Fristenlösung eine Erschwerung der Abtreibung anstreben. Keinesfalls ist eine Frage, die in so hohem Maß Grundsätzliches berührt, mit einer Beschlußfassung der Legislative als endgültig abgeschlossen zu betrachten. Meinungsumfragen zeigen überdies, daß zwar eine deutliche Mehrheit die Fristenlösung akzeptiert, daß diese Mehrheit aber seit Inkrafttreten des zitierten Paragraphen stetig abnimmt.

Der Schutz menschlichen Lebens gilt heute weltweit als anerkannte Verhaltensregel (im schlimmsten Fall reduziert auf ein Lippenbekenntnis). Allerdings gibt es offiziell geduldete Ausnahmen:

• Im Kriegsfall wird Töten nicht nur erlaubt, sondern sogar befohlen;

• in autoritären und totalitären Staaten wird hemmungslos von Staats wegen gemordet;

• nicht zu vergessen ist das primitive Gesindel, das auch hierzulande nach jedem Bankraub gleich die Todesstrafe fordert;

• besonders skrupellose Regime haben sich bis zur Definition „lebensunwerten Lebens“ verstiegen und entsprechend gehandelt;

• schließlich behandelt die kommerziell orientierte Wirtschaftsplanung oft genug Menschenopfer als kalkulierbares und monetär quantifizierbares Risiko;

• die Fristenlösung ist zweifellos nur eine Variante dieser offiziell geförderten Ausnahmen vom Tötungsverbot.

Die Frage, ob das Ungeborene schon ein Mensch ist, wird oft als „akademisch“ abgetan. Die Individualität ist jedenfalls mit der Verschmelzung der Keimzellen fixiert, der genetische Code unterscheidet sich von Anfang an von dem der Mutter. Der einzige funktional exakt definierbare Zeitpunkt in der fötalen Entwicklung, der sich zur Abgrenzung einer nicht willkürlichen Frist eignen würde, ist die am 12. oder 13. Tag erfolgende Einbettung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut. Die sogenannte „Pille danach“ wirkt vor diesem Zeitpunkt.

96 StGB bekundet eindeutig, daß auch nach geltendem Gesetz das ungeborene menschliche Leben grundsätzlich ein schützenswertes Rechtsgut sei. Weil der Inhaber dieses Rechtsgutes aber seine Interessen noch nicht wahrnehmen kann, ist es Aufgabe der Gesellschaft, dies für ihn zu tun. Das wird vor allem dort akut, wo die Interessen des Ungeborenen mit den Interessen der Mutter kollidieren.

In dem Buch „Ehe vor dem Ende?“ (Wien 1973), schrieb Werner Olscher: „Von allen Schlagzeilen, die im Zusammenhang mit dem ominösen Abtreibungsparagraphen geprägt wurden, ist keine so kurz, so geschmacklos und so dumm wie die Behauptung .Mein Bauch gehört mir'. Für manche von denen, die dieses Wort mit Vorliebe im Mund führen, ist zwar das Privateigentum eine abschaffenswürdige Institution der Bourgeoisie... Nur beim Bauch samt Inhalt plädieren die Herrschaften für Besitzrecht und Dispositionsfreiheit. Während das erklärte Ziel jeder progressiven Familienrechtsreform dahin geht, die Selbständigkeit... der Kinder gegenüber den Eltern zu betonen, wollen die Bauch-Fanatiker das Verhältnis zwischen Mutter und werdendem Kind... unter dinglich-sachrechtlichen Gesichtspunkten sehen. Das Kind als Privateigentum seiner Mutter, über das sie nach Belieben verfügen kann... Ein reaktionärerer Standpunkt läßt sich in einer aufgeklärten Welt... kaum vorstellen.“

Es ist jedenfalls bezeichnend, daß die feministische Bewegung mit der Forderung nach dem Tötungsrecht am Ungeborenen in die politische Arena groß eingestiegen ist und bis heute ihre Anhängerschaft vornehmlich unter dieser Parole (ergänzt durch Forderungen nach antipornographischer Zensur) versammelt.

Vor einiger Zeit wurde an einer rheinischen Universität eine Studie erstellt, deren Zweck es war, die bei Verkehrsunfällen auftretenden Personenschäden in Geldwert auszudrücken. Das heißt z. B. daß der Verlust, den die Gesellschaft durch den Tod eines dreißigjährigen Mannes erleidet, bedeutend größer ist als der Verlust beim Tod eines dreijährigen Kindes - weil in das Kind wurde noch nicht so viel investiert.

Daß für eine derartige Betrachtungsweise ungeborenes Leben ziemlich wertlos erscheint, liegt auf der Hand. Zu den besten Traditionen gerade der „linken“ Parteien gehört es, unter allen Umständen gegen die Verdinglichung des Menschen aufzutreten, dagegen, daß der Mensch in der Gesellschaft nur als „Produktionsfaktor“ gewürdigt wird.

Der Zusammenhang der skizzierten Bewertungsart mit der Fristenlösung drängt sich schon deswegen auf, weil viele abtreibungswillige Frauen aus Bequemlichkeit, zur Vermeidung finanzieller Mehrbelastung, aus Angst vor Beeinträchtigung im Berufsleben oder aus anderen im weitesten Sinne kommerziellen Erwägungen handeln.

Wirklich zu bedauern sind allerdings jene Frauen, die sich unter starkem Druck zu einer Abtreibung drängen lassen: sei es, daß die materiellen Voraussetzungen so katastrophal sind, daß sich kein Ausweg zeigt; sei es, daß sie von Leuten abhängig sind, deren eigensüchtige Motive sie berücksichtigen müssen; sei es, daß Vorurteile der näheren und weiteren Umgebung das Leben mit dem Kind von vornherein unerträglich erscheinen lassen.

Es möge etwa die Kirche erforschen, in wie vielen Familien selbst heute noch aus lauter Katholizität eine Abtreibung als kleineres Übel erscheint gegenüber der „Schande“ eines unehelichen Kindes. So betrachtet sind alle jene Mittäter beim Delikt der Abtreibung, die nicht bedingungslos das Recht jedes neugeborenen Kindes auf menschenwürdige Entwicklung anerkennen und die die menschliche Fortpflanzungstätigkeit nur nach festgesetzten Normen ablaufen lassen wollen.

Erschwerend wirkt noch, daß die dominierenden Kreise in unserer Gesellschaft das Engagement um die Entwicklung und das Wohlergehen der Kinder ausschließlich den Müttern (allenfalls anderen Frauen) zugestehen wollen. Es wäre allen gedient, wenn an dieser gesellschaftlich so notwendigen Aufgabe beide Geschlechter in gleichem Maß beteiligt würden.

Viel wäre schon getan, wollte man nur die einfache Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß Kind und Sexualität zusammengehören. Unmenschlich handelt, wer das trennt, wer nur das eine will und das andere geringschätzt; am unmenschlichsten aber sind jene, die beides nur an finanziellen und Leistungsmaßstäben messen.

Übrigens: „Helfen statt strafen“ ist ein ausgezeichneter Leitsatz; er sollte aber für alle Delikte gelten, nicht nur für solche, deren Opfer sich nicht wehren können.

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