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Humane Werte verfehlt

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FURCHE: Frau Minister, nach der Statistik nimmt Ungarns Bevölkerung jährlich um zwanzigtausend Menschen ab. Kann dieser Prozeß aufgehalten werden?

JUDIT CSEHAK: Sowohl in armen als auch in reichen Ländern weist die Bevölkerungsproblematik zahlreiche einander widersprechende Phänomene auf, die nicht mit dem politischen System zusammenhängen. Angesichts der Bevölkerungsabnahme haben wir 1973 ein Maßnahmenpaket verabschiedet, zu dessen Schwerpunkten die Einschränkung des Schwangerschaftsabbruches, die Einführung gewisser Sozial- und Mutterschaftszulagen beziehungsweise die Kurse zur Familienplanung zählen.

Nun sind aber die Menschen unter heutigen wirtschaftlichen Umständen mit keinerlei Maßnahmen dazu zu veranlassen, mehrere Kinder zu haben. Es bedeutet ja die Erziehung eines einzigen Kindes schon ernsthafte Sorgen. Indem wir versuchen, die Mutterschaftszulage als ein staatsbürgerliches Recht zu verankern, kämpfen wir stets sowohl mit der Valorisierung des Familienzuschusses als auch mit der Zunahme der Lebenskosten.

FURCHE: Welchen Stellenwert hat die von Ihrem Ministerium ausgearbeitete Neuregelung der Abtreibung?

CSEHAK: Die Neuregelung ist vom Ministerrat bereits gebilligt worden. Sie weicht im Grunde von der 1973 erstellten Regelung nicht ab, die die bis dahin so gut wie uneingeschränkten Schwangerschaftsabbrüche eindämmen sollte. In diesem Geiste haben wir jetzt auch gehandelt.

Seither sind aber 15 Jahre vergangen, und ich als Frau und Expertin hätte schon gerne den Schwangerschaftsabbruch von allen Einschränkungen befreit. Parallel dazu müßte man aber den Frauen mit gründlichster Aufklärung und mit Hilfe der modernsten Medizin beistehen, damit sie nur dann schwanger werden, wenn sie ihr Kind auch austragen wollen.

Ich glaube schon, daß meine Meinung als Arztin in diesem Punkt mit jener der zutiefst religiösen Menschen übereinstimmt.

FURCHE: Verstehe ich Sie richtig, daß Sie die vollkommene Freigabe der Abtreibung befürworten?

CSEHAK: Als Ärztin bin ich gegen die Abtreibung. Ich betrachte sie selbst in ihrer mildesten Form als einen gesundheitsschädlichen Eingriff. Zugleich finde ich schon, daß eine Frau, der wir nicht helfen konnten, eine Schwangerschaft zu vermeiden, und die aus einem bestimmten Grunde das Kind nicht behalten will, das Recht zur Entscheidung haben soll, ob sie es austrägt oder nicht. Ich bin also nicht nur für die vollkommene Befreiung in dieser Hinsicht, sondern auch für die sorgsamste Vorbeugung und Aufklärung.

FURCHE: Die neue Maßnahme bedeutet im Gegensatz zur früheren Regelung einen Rückfall, zumal sie die Abtreibung nach dem zweiten Kind ohne jedwede Prozedur ermöglicht.

CSEHAK: Die alte Regelung hat zahlreiche Hintertüren offengelassen, die eigentlich jeder wahrnehmen konnte. Ich glaube schon, daß es ehrlicher ist, zuzugeben, daß wir auch bis jetzt fast jeder Frau, die mehr als zwei Kinder hatte, die Abtreibung erlaubt haben.

FURCHE: Haben Sie bei der Ausarbeitung der Neuregelung auch die Kirchen befragt?

CSEHAK: Ja.

FURCHE: Mit wem von der Bischofskonferenz haben Sie konkret über das Problem gesprochen?

CSEHAK: Die diesbezüglichen Aufgaben sind von meinen Mitarbeitern wahrgenommen worden. Im Laufe der Vorbereitungsarbeiten haben wir sehr viele Briefe erhalten. Eine großangelegte öffentliche Diskussion hat allerdings nicht stattgefunden, da es diesmal nur um die Vereinfachung einer Regelung ging.

Wir sind mit den zutiefst religiösen Menschen darin einverstanden, daß die Entstehung des Lebens geschützt und gefördert werden muß. Den religiösen Ärzten wird daher die Möglichkeit geboten, die Vornahme eines abtreibenden Eingriffes zu verweigern. Eigentlich haben wir alle Beanstandungen berücksichtigt — bis auf die Forderung nach dem Verbot der Abtreibung überhaupt.

FURCHE: Das seit Jänner geltende Steuerrecht bedeutet für die Familie eine schwere Belastung. Wie ist es mit Ihrer Bevölkerung spolitik zu vereinbaren?

CSEHAK: Wir sind dabei davon ausgegangen, daß in Ungarn ein Familienmodell existiert, in dem beide Partner verdienen. In den Hauptberufen sind die Gehälter nicht sehr bedeutend — die Mehrheit arbeitet jedoch in Zweit- und Drittberufen, ohne dafür steuerlich veranlagt zu werden.

Wir haben aber dem neuen Steuergesetz nur unter der Bedingung zugestimmt, daß in seinem Rahmen effektive Schritte für die Familien unternommen werden können. Somit streben wir nach der Erhöhung der Familienzulage, der Steuerbegünstigungen und der sogenannten Erziehungsunterstützung.

Für mich bedeuten die vergangenen 15 Jahre nicht nur verfehlte Wirtschaftsentscheidungen, sondern auch mangelnde Vorbeugung im Gesundheitsbereich, die Vernachlässigung der humanen Werte, der Familienverhältnisse, der Bedeutung der Persönlichkeit, ja im ganzen einen Werteverlust in der humanen Sphäre.

Eine ganze Reihe von Versäumnissen ist uns anzurechnen — begangen aus Naivität, aus mangelnder fachlicher Qualifikation. Deshalb bin ich der Meinung, daß der Reformprozeß, der die politischen und wirtschaftlichen Bereiche umfaßt, sich auch auf die humane Sphäre ausbreiten muß. Wenn dies nicht geschieht, begehen wir erneut ein Versäumnis, obwohl wir heute die Möglichkeit hätten, diesbezügliche Lehren zu beherzigen.

Judit Csehäk (48), Arztin, Mutter zweier Kinder, ist Mitglied des ZK und des Politbüros der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei USAP seit 1985 beziehungsweise seit 1987. Mit ihr sprach Gabor Kiszely.

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