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Wir brauchen Kinder für die Freiheit und den Frieden

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Wie in jedem Jahre, stellte uns auch heuer der Amtsrührende Stadtrat für das Gesundheitswesen in Wien, VizebürgermeiUcr Lois Weinberger, den Wortlaut seines umfassenden Referates anläßlich der-Beratungen des Wiener Gemeinderates über den Vor anschlag 1956 zur Verfügung. Wir veröffentlichen daraus einen Schlußabschnitt von erschütternder Aktualität. „Die Furche“

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Wie in jedem Jahre, stellte uns auch heuer der Amtsrührende Stadtrat für das Gesundheitswesen in Wien, VizebürgermeiUcr Lois Weinberger, den Wortlaut seines umfassenden Referates anläßlich der-Beratungen des Wiener Gemeinderates über den Vor anschlag 1956 zur Verfügung. Wir veröffentlichen daraus einen Schlußabschnitt von erschütternder Aktualität. „Die Furche“

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Wenngleich die Geburtenentwic k-1 ung in Wien im heurigen Jahr wenigstens e i n i g e r m a 6 e n b e ss e r gewesen ist “als in den letzten Jahren, so zeigt die Geburtenstatistik Wiens insgesamt leider noch immer ein böses Bild. Durch die Rückgliederung der Randgemeinden läßt sich ein klares Bild in diesem Jahr zwar kaum geben,. Wenn, man sich jedoch die letzten vergleichbaren Berichte betrachtet, ergibt sich für die Monate Jänner bis Ende Oktober 1955 eine Geburtenziffer von 9900, das ist um 484 mehr als im gleichen Zeitraum 1954. Die 19.229 Todesfälle sind gegenüber 1954 um 455 zurückgeblieben.

Es ist keine Frage, daß diese Entwicklung, wenn sie auch nur einige Jahre anhielte, schon zu ernstesten Störungen nicht nur unseres ganzen Volkskörpers, sondern auch unserer Wirtschaft, bestimmter Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens und am Ende eben zum Volkstod führen müßte. Es ist außer Streit, daß die Möglichkeiten und Notwendigkeiten zur besseren Entwicklung der derzeitigen Verhältnisse, zur größeren Freude am Kinde, zur Verstärkung der Liebe zu den Kindern, zur Gründung von Familien, zur Erhaltung kinderreicher Familien vielseitig und viele sind. Es ist auch sicher, daß vieles schon getan wurde, um Familjengründungen zu ermöglichen, daß auch vieles geschah, um bestehende Familien zu sichern. Es ist aber auch ebenso sicher, daß noch sehr vieles auch materiell geschehen muß, um den katastrophalen Geburtenmangel zu beseitigen und das Volkssterben endlich zu stoppen.

Ohne Zweifel gibt es auch unter den Aerzten ■in ihrem Beruf unverantwortliche Geschäftemacher. Ich hoffe aber doch, daß der Großteil der österreichischen Aerzteschaft von einer hohen Berufsmoral erfüllt ist und nach wie vor zu seinem schönsten Grundsatz, „Leben zu erhalten“, steht. Durch die immer wiederkehrende Nachricht, daß Oesterreich das geburtenärmste Land der Welt sei und in Zukunft nicht mehr genügend arbeitende Menschen da sein werden, um die Rentenlast zu tragen, darf es für den Arzt in Zukunft keinen Zweifel geben, daß für ihn ausnahmslos nur die medizinische Indikation zur Unterbrechung der Schwangerschaft maßgeblich sein darf. Es ist aber auch sicher, daß hier auch moralische Einwirkungen unvermeidlich sein werden, daß alle berufenen Stellen, und nicht nur öffentliche, sondern auch andere — ich denke an die Lehrerschaft, ich denke an alle irgendwie verantwortlichen Menschen überhaupt —, endlich nach dem Rechten sehen. Wir werden zusammenstehen und darauf sehen müssen, daß die heutige Einschätzung des Kindes einer besseren, einer richtigen, der einzig möglichen Platz macht.

Wenn wir das Volkssterben beenden wollen, dann müssen wir aber auch den unverbesserlichen Geschäftemachern unter den Aerzten, deutlicher gesagt, den Mördern, die noch immer unter uns sind, Einhalt gebieten. Universitäts-professor Dr. Brücke, ein sehr ernsthafter Mann, hat dieses Problem wiederholt vom Standpunkte des Arztes aus behandelt. Die Tötung einer normalen Leibesfrucht stehe seiner Meinung nach im absoluten Widerspruch zur Grundaufgabe der Medizin, die das Leben zu schützen und zu verlängern, nicht aber zu vernichten habe. Die sogenannte soziale Indikation sei eine ebenso verwerfliche Handlung wie die Tötung von Geisteskranken.

Es haben auch Sozialpolitiker, es haben Priester, es haben Männer und Frauen aus allen Parteirichtungen, aus allen weltanschaulichen Gruppierungen zu diesem ernsten Problem Stellung genommen. Es hat sich schließlich auch fast niemand mehr gefunden, der die Mörder verteidigt hätte.

Ich möchte hier gewiß nicht verallgemeinern. Es wird vernehmlich und laut genug sein, wenn ich ganz einfach und schlicht feststelle, was die Ziffern' sagen, die ich zur Verfügung erhielt.

Im Zusammenhang mit den Vorgängen in einem bekannten Wiener Sanatorium haben sich sehr ernste und sehr tiefe Einblicke ergeben, Aber auch wenn wir die Verhältnisse in einer unserer eigenen Anstalten ansehen, müssen wir mit Schaudern feststellen, was hier Böses geschah. Ich ließ mir einige solcher Ziffern geben. Und wenn ich nun mitteilen muß, daß i n einereinzigenAnstaltim Verlaufe der letzten Jahre mehr Abtreibungen stattfanden als Geburten, dann begreifen wir, daß hier alle verantwortlichen Stellen eingreifen müssen. So standen in dieser Anstalt zum Beispiel im Jahre

1953 1531 Geburten 1914 Fehlgeburten und Schwangerschaftsunterbrechungen gegenüber,

1954 1376 Geburten 1298 Fehlgeburten. Erst

1955 hat sich die Situation etwas gebessert, indem bis Ende Oktober 1063 Geburten 783 Fehlgeburten gegenüberstehen.

Ich schlage deshalb auch vor, die Aerzte-kammer zu ersuchen, wieder eine Kommission aus erfahrenen, aber auch charakterlich völlig einwandfreien Aerzten einzusetzen, die jeden einzelnen Fall einer sogenannten medizinischen Indikation vor Vornahme irgendeines Eingriffes zu überprüfen und ihr Votum abzugeben hat. Wenn dieses für einen Eingriff spricht, so ist er gerechtfertigt. Wenn aber dann irgendein Arzt und auch ein Anstalts- und Abteilungsleiter ohne diese Bestätigung oder gar gegen die Erklärung dieses Dreier- oder Viererkollegiums der Aerztekammer einen Eingriff ohne allerernsteste Gründe, die nachher ebenfalls überprüft werden müßten, vornimmt, dann muß es ihm klar sein, daß er damit zum Mörder wird und eine Strafe zu erwarten hat, die er verdient.

In der NS-Zeit haben alle Aerzte davor gezittert, irgendein Leben zu töten. Sie haben es sich tausendmal fiberlegt, irgendeinen Eingriff vorzunehmen, selbst dann, wenn sie sich in einer wirklichen, einer echten Gewissensnot befanden. Heute sind es oft die gleichen Leute, die damals strammstanden, alle Befehle entgegennahmen und alles dazu taten, um noch und noch Kinder für ein System zu gewinnen und zu erhalten, das am Ende zum Krieg und zum Tode führen mußte und auch geführt hat. Heute handeln oft diese gleichen Menschen so, als ob sie nicht wüßten, daß wir Kinder für das Leben, Kinder für die Arbeit, Kinder für die Demokratie, für die Freiheit und für den Frieden brauchen. Es ist unmöglich, hier länger zuzusehen, und es ist meine ernste Vornahme, hier auch von meinem Amte aus alles zu tun, um den Mördern unter uns endlich das Handwerk zu legen.

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