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Jugend in schwerer Not

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Unter dem Motto „Jugend will Sauberkeit“ unternimmt die katholische Jugend Österreichs einen Feldzug gegen Schmutz und Schund im öffentlichen Leben, die die Junge Generation bedrohen. Es ist erfreulich, daß fauch von anderen Organisationen und Jugendgemeinschaften verschiedenster Richtung das Problem aufgegriffen wurde. Die Öffentlichkeit müßte dies mit Ernst und Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Es ist der Notschrei einer gequälten und mißhandelten Jugend, die Leben und Gesundheit retten will. Gesunder Zukunftswille der jungen Generation begehrt hier sein Recht.

Der Ernst der Lage, die weitgreifende sittliche Verwahrlosung der Jugend, ist genugsam bekannt. Es sei nur an zwei statistische Tatsachen erinnert: von den im Jahre 1946 in Wien wegen verschiedener Verbrechen Verurteilten waren 25,5 Prozent Jugendliche. Der Wiener Polizeibericht über das Jahr 1947 stellte fest, daß von den Geschlechtskranken 15 bis 20 Prozent auf Jugendliche entfallen (von 600 weiblichen Jugendlichen im Alter von 13 bis 18 Jahren waren mehr als 100 infiziert!). Mit diesen beiden Zahlen sind die beiden großen Krankheitsherde unserer Jugend angedeutet: die moralische Verwilderung und Neigung zu Verbrechertum und die sexuelle Haltlosigkeit im besonderen.

Angesichts dieser ernsten Tatsachen müssen alle verantwortungsbewußten Menschen nach Abhilfe und den Mitteln dazu Ausschau halten.

Daß wir hier zum Teil vor einem Frbc der Hitlerzeit und der HJ-Erziehung stehen, müssen wir als traurige Tatsache hinnehmen. Wir können ihr nur den Versuch entgegenstellen, mit viel Geduld und Klugheit, aber auch mit unermüdlicher Energie zti korrigieren, was noch zu korrigieren ist. Audi die vielen moralischen Wunden, die der Krieg und die Ereignisse in seinem unmittelbaren Gefolge den jungen Menschen geschlagen haben, gilt es in stetem Bemühen zu heilen, soweit sic überhaupt heilbar sind, Und wir können nur den heißen Wunsch hegen, daß alle Verantwortlichen in der Welt sich bewußt sein mögen, daß jeder Krieg unet setzliche Werte an materiellen Gütern, unsäglich viel Leben uni äußeres Glück zerstört, aber noch viel mehr moralische Werte und innere Lebenskraft; daß zu seinen Opfern nicht nur die Millionen auf den Schlachtfeldern Gefallener und zu Krüppeln Geschossener, sondern auch die Generation der überlebenden ee- hört, denen er inneres Siechtum, und sittliche Verelendung bringt.

Vor allem aber gilt es, die Ursachen 2u beseitigen, die noch im Bereich unserer Ein- flußtnöglichkeit liegen, die Quellen zu verstopfen, aus denen das Verderben quillt.

Jedem, der mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, ist e eine schmerzliche Erfahrung, daß i n vielen Fällen das Elternhaus pädagogisch versagt. Es wäre schon zu nähst auf die Tatsache zu verweisen, daß die Kinderscheu soviel Einkindfamilien zur Folge hat, die naturgemäß viel größeren pädagogischen Schwierigkeiten gegenübersteht, die in der Familie mit mehreren und vielen Rindern zum Großteil von selber wegfallen. Viele Eltern lassen Wind ihre Kinder in die ern t- lichsten Gefahren laufen, oder treiben sie sogar selber hinein. So viele meinen, mit ėmer rėin diesseitigen Ethik auszukommen und dem Kind nur den Begriff mensch- hoher Anständigkeit einprägen zu müssen. Erfahrungsgemäß versagen die rein natürlichen Begriffe der Anständigkeit in den schweren Jahren des jugendlichen Reifens nur zu leicht ohne die wirklich trägfähigen Ideal und Motive.' die aus dem Glauben kommen. Di meisten Eltern, und leider auch so viele christlich gesinnt Väter und Mütter, versagen in der eigentlichen geschlechtlichen Erziehung. Aus ungesunder Prüderie wird die geschlechtliche Aufklärung, die organisch mit dem übrige’n Wissen des Kindes wachsen müßte, vollständig dem Zufall oder sehr zweifelhaften Quellen überlassen und die auf Vertrauen begründet Führung der reifenden Kinder in den Schwierigkeiten des erwachenden Geschlechtslebens versäumt. Sie spüren nicht, wie ihre Autorität und das Vertrauen und damit auch ihr Einfluß auf das Kind mit dem Versagen in diesem so entscheidenden Punkt schwindet. Daß viele Eltern vergessen, daß durch das schlechte Beispiel die schönsten Lehren zunichte gemacht werden, ist eine der verderblichsten Ursachen der Fehlerziehung. Was hier Not tut, ist viel Aufklärung, pädagogische Unterweisung und Anleitung und Erziehungsberatung, die den Eltern und Brautleuten seit on womöglich vor der Heirat gegeben werden muß von allen Seiten, die die Möglichkeit dazu haben. Mütterschulüngen, Bräuteschulen, intensive pädagogische Schulung der reiferen Jugend könnte vielen' Verderben Vorbeugen.

Aber auch die Schule muß sich klar ihrer Aufgabe bewpßt sein, die nicht nur Wissensvermittlung, sondern Erziehung ist. Dieser kann sie nur entsprechen, wenn sie den Menschen als Ganzes sieht. Der Irrweg, den die NS-Schule gegangen ist, daß sie zum Beispiel die sexuelle Aufklärung vom rein Biologischen her durchführen wollte müßte endgültig überwunden sein. Das Sexualleben des Menschen ist nicht nur ein biologisches, rein körperliches Geschehen; es ist ein Lebensvorgang des ganzen Menschen, ein leib-seelisches Geschehen. Audi die Gesamterziehung des jungen Menschen kann nur fruchtbar sein, wenn er in seiner leib-seelischen Gesamtheit gesehen wird und daher die Gesamterziehung und Bildung eine religiös fundierte ist. Der Religionsunterricht, der losgelöst neben einer profanierten Erziehungsarbeit steht, kann auf keinen Fall genügen. Die autonome Moral hat sich doch zur Genüge als Irrlehre erwiesen, am deutlichsten unter ihrem prägnantesten Vertreter, dem Nationalsozialismus.

Den dritten pädagogischen Faktor, der in gewissen Jahren der Entwicklung des jungen Menschen von entscheidender Bedeutung sein kann, bildet der Kreis der Kameraden, der Umgang mit Altersgenossen, die „Freunde“, die jugendliche Gemeinschaft. -Hier bildet sich zum Großteil die wirkliche Lebenshaltung; die Gesellschaft, in die einer hineingerät, ist in den meisten Fällen die Ursache zum sittlichen Abgleiten. Der Kreis, in dem ein jünger Mensch seine Freizeit verbringt, seine Erholung und Unterhaltung findet, entscheidet über so unendlich vieles und wichtiges. Soll der sittlichen Verwilderung der Jugend gesteuert werden, muß die Forderung nach weitestgehender Unterstützung geordneter Jugendgemeinschaften erhoben werden. Das braucht das Verständnis der Eltern, die ihre Kinder f ühzeitig und daher rechtzeitig einer solchen Gemeinschaft zuführen. Das braucht die großzügigste Unterstützung durch öffentliche Steifen. Das braucht die moralische und materielle Hilfe aller. Hier Mehr die katholische Jugend als erster und bedeutsamster Faktor neben den anderen Jugendgemeinschaften und wartet aut das volle Verständnis und die Unterstützung der katholischen Öffentlichkeit.

Die äußeren Lebens Verhältnisse

Eine Statistik erweist, daß SO Prozent aller Jugendverwahrlosung in zerrütteten häuslichen Verhältnissen ihre ersten Wurzeln haben. Die moralisch zerrüttete Familie bereitet den Nährboden ebenso wie die durch den Krieg ins Vielfache gesteigerten äußeren ungenügenden L,ebensverhältnisse vieler Familien. Wenn, wie ein Polizeibericht meldet, eine zwölfköpfige Familie in einem einzigen Wohnraum lebt und die Kinder- in einem Bett zu viert schlafen müssen, ist es kein Wunder, wenn die 15jährige Tochter in Nachtlokalen aufgegriffen wird. Die materielle Not, der Hunger, das Fehlen so vieler äußerer Lebensnotwendigkeiten, Unterernährung usw. schaffen in jungen Menschen eine große Anfälligkeit für das Überschreiten sittlicher Normen. Die äußere Unsicherheit unserer Lebensexistenz, die wirtschaftliche Unsicherheit, die Aussichtslosigkeit, drängen nur zu leicht auf abnormale Wege. Es ist nur zu hoffen, daß bgld wieder Verhältnisse eintreten, in denen es nicht mehr so leicht ist, mühelos viel Geld zu verdienen, sondern wieder ernste Arbeit die Lebensexistenz sichert und die Aussicht auf eine gesicherte Zukunft Anreiz zu beruflicher Tüchtigkeit gibt. Es müßte alles nur Menschenmögliche getan werden, um ein rasches Wohnbauprogramm zu fördern, müßte viel soziale und karitative Fürsorge geschehen, müßte die Sicherung der sozialen Lebensbedingungai und geordneter Arbeitsbedingungen gefm-dert werden, müßte der Jugend viel Möglichkeit zur Berufsausbildung und Umschulung geboten werden, müßte vor allem in allen Erziehungsbereichen auf die Hebung eines gesunden Arbeitsethos hingedrängt werden. Daß wirklich von allen verantwortlichen Seiten alles geschieht, um gesunde Lebensverhältnisse zu beschleunigen, ist nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Zukunft unserer Fleimat, sondern eine Existenzfrage der jungen Generation in ihrem moralischen Bestand.

Das gesellschaftliche, kulturelle Leben

Die Atmosphäre, in der unsere, durch die geschilderten Umstände anfällig gewordene Jugend leben muß, ist moralisch so verseucht und voll der gefährlichsten Krankheitskeime, daß es ein Wunder ist, wenn ein Teil doch gesund bleibt und der Ansteckung entgeht. Alles, was auf den jungen Menschen im öffentlichen und kulturellen leben einwirkt, in Film, Bühne, Rundfunk, Literatur, Schlagertexten usw., ist zum überwiegenden Teil moralischer Hemmung entkleidet. Voreheliche Unmoral, Ehebruch, Ehescheidung, kinderlose Ehe, Selbstmord, eine Welt, in der das Religiöse überhaupt keinen Platz mehr hat und nicht mehr aufscheint, bilden das selbstverständliche Milieu. Wie könnte es anders sein, daß hier dem jungen Menschen unbewußt der sittliche Halt systematisch zerstört wird und ihm die Ideale von Keuschheit und Liebe und ehelicher Treue nur mehr als Utopien erscheinen, die das tatsächliche Leben nicht kennt.

Es treten gerade in diesem Zusammenhang unmittelbare Verführung und verderbliche Einflußnahme noch viel handgreiflicher an den jungen Menschen heran. Schmutziger Geschäftsgeist nützt die Situation aus. Es wundert uns nicht, daß diese Generation, die soviel entbehren mußte, lebenshungrig und vergnügungssüchtig ist. Ihr wird nur Gelegenheit zum Tanz geboten an allen möglichen und unmöglichen Orten und Zeiten und mit einem Raffinement, das bewußt die Sinne aufpeitscht. Wer kümmert sich darum, daß eine in Geltung stehende Polizeiverordnung Jugendlichen unter 16 Jahren den Aufenthalt bei Tanzveranstaltungen verbietet und Jugendlichen von 16 bis 18 Jahren nur in Begleitung' Erziehungsberechtigter und nur bis 23 Uhr gestattet? Niemand kümmert sich um die Vorschrift, am allerwenigsten die Veranstalter, denn es ist ihr Geschäft.

Eine unübersehbare Flut von Schmutzliteratur, Illustrierten, Magazinen, Witzblättern schlimmster Art ist allerorts den Jugendlichen dargeboten. Strafbestimmungen unseres Gesetzbuches treten praktisch nicht in Kraft. Ständig werden wir mit Neuerscheinungen auf diesem Gebiet beglückt, die vielfach sogar offizielle Papierzuweisungsnummern tragen, zur selben Zeit, wo wertvolle Literatur wegen Papiermangel nicht erscheinen kann. Nicht weniger als 35 „Romanzeitungen“ erscheinen in Österreich, literarisch wertlos, nicht selten giftige Erzeugnisse.

Die unbefriedigende und niederdrückende Lebensatmosphäre treibt die Menschen ins Kino, wo sie Entspannung und Vergessen und neues Erleben suchen. Was könnte hier an wertvoller Erziehung und Bildung der Menschheit geleistet werden! Es ist schon eine der schwersten Sünden des Films, daß er durchschnittlich den Menschen eine ganz, falsche mit der Wirklichkeit iri Widerspruch stehende Vorstellungswelt vorgaukelt. Polizeiberichte weisen wiederholt darauf hin, wie die Jugendkriminalität nachweisbar nach dem Ablaufen gewisser Filme sprunghaft ansteigt. Ich konnte vor wenigen Tagen das Gespräch einiger etwa 11- bis 12jährigen Buben über den Film „Carmen“ belauschen; der eine erzählte seinen Kameraden von diesem aufregenden Film, von dem Stierkampf, von dem „Einäugigen“, der als Priester verkleidet die Reisenden in der Postkutsche täuscht und dann „umlegt“. Das „Umlegen“ hatte ihnen besonderen Eindruck gemacht. Ich habe dann bei einer Vorführung dieses Films eine Anzahl ausgesprochener Kinder unter den Besuchern feststellen können, bei einem Film, der von Blut trieft, von Verbrechen aller Art.

Das Wort Zensur hat einen undemokratischen Klang. Aber, wo es um die Gesundheit der Jugend gehr, dort geht es nicht um Demokratie oder Nichtdemokratie, sondern um Existenz, um Leben oder Sterben. Auch wir sind für eine Erziehung, die die freie Entfaltung des Lebens fördert. Aber wenn die Voraussetzungen für eine gesunde Entfaltung des Lebens zerstört sind, dann ist nicht der Demokratie gedient und nich der Freiheit, sondern dem Untergang.

Es ist sdiwer zu verstehen, warum die verantwortlichen Stellen au£ diesem Gebiit bisher so wenig getan haben, um der nackten Profitgier das Handwerk zu legen und die Jugend vor dem Ruin zu bewahren. Alle verantwortungsbewußten Menschen im öffentlichen Leben sind heute durch die Macht furchtbarer Tatsachen aufgerufen, durch gesetzliche Bestimmungen, durch ernste Maßregeln die Tragbarkeit öffentlicher Vorführungen für die Jugend zu kontrollieren, um die Jugend vor moralischen Vergewaltigungen zu bewahren. Es müßte ebenso alles geschehen, um positive kulturelle Werte zu fördern. Versuche, wie das „Theater der Jugend“ oder einer vom Bundesministerium für Unterricht ins Leben gerufenen „Jugendbuch- gemeinschaft“ oder wertvolle Volks-

bildu nigs Veranstaltungen und ähnliche Bestrebungen, können nicht genug gefördert werden. Der Ruf nach dringlicher Abhilfe in dieser schwersten Not der Gegenwart darf in der Öffentlichkeit nicht mehr verstummen.

Die Jugend selber hat diesen Ruf nun , mit der Parole „Jugend will Sauberkeit" erhoben und fordert aus dem leidenschaft lichen Drang nach Selbsterhaltung mit allem Nachdruck ein umfassendes Gesetz zum sittlichen Schutz der Jugend, das freilich dann nicht auf dem Papier stehenbleiben darf, sondern dessen Verwirklichung und Durchführung ernstes Anliegen aller zuständigen Ämter und Behörden und der gesamten Öffentlichkeit sein muß.

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