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Weichenstellungen in Bildungsprozessen?

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Die Besorgnis, ob es in zufriedenstellendem Maß gelingt, die Erfahrungen der Erwachsenen an die nächste Generation weiterzugeben, so daß diese nicht wieder dieselben Fehler machen müßte, begleitet die Geschichte der Menschheit mit großer Beständigkeit. Ebenso verläßlich stellt sich immer wieder die Erwartung ein, durch erzieherische Beeinflussung Fortschritte zu erzielen, die über den unzureichenden Stand der Gegenwart hinausführen. Der Erfolg ist aber keineswegs so sicher, wie man wünschen würde

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Die Besorgnis, ob es in zufriedenstellendem Maß gelingt, die Erfahrungen der Erwachsenen an die nächste Generation weiterzugeben, so daß diese nicht wieder dieselben Fehler machen müßte, begleitet die Geschichte der Menschheit mit großer Beständigkeit. Ebenso verläßlich stellt sich immer wieder die Erwartung ein, durch erzieherische Beeinflussung Fortschritte zu erzielen, die über den unzureichenden Stand der Gegenwart hinausführen. Der Erfolg ist aber keineswegs so sicher, wie man wünschen würde

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Auch gründliche Überlegung und intensive Anstrengung können nicht garantieren, daß die Heranwachsenden jenen Stand der Fehlerlosigkeit erreichen, den man ihnen wünschen würde, aber offensichtlich selber noch nicht besitzt oder auf zeitraubenden Umwegen erwerben mußte. In vielen Fällen erhebt sich dann die Frage, zu welchem ,Zeitpunkt geeignete Maßnahmen oder „Weichenstellungen" versäumt, entscheidende Anregungen nicht vemittelt, Zielsetzungen vernachlässigt wurden.

Hinter solchen Vorstellungen steckt die Erwartung, auch in der Erziehung oder bei Anregungen zu Bildungsprozessen müßte es möglich sein, durch entscheidende Anstöße ein für allemal Wege vorzuzeichnen, die mit einiger Sicherheit die wünschenswerten Ziele erreichen lassen.

Die Hoffnung auf die Wirksamkeit von „Weichenstellungen" hat jedoch recht schwache Grundlagen.

Zwar ist bekannt, daß besonders tiefgehende oder aufwühlende Erlebnisse im Sinn einer „Begegnung" (Bollnow) die bisherigen Auffassungen erschüttern und eine völlig neue Sicht der Welt und des eigenen Lebens herbeiführen oder wenigstens vorbereiten können. Solche Erlebnisse sind aber im Rahmen eines Erziehungs- oder Bildungsganges schwer zu planen.

Viel wichtiger sind beständige Merkmale des Zusammenlebens, des gemeinsamen Handelns, der gegenseitigen Beziehungen, der Art, in der die Welt und die eigene Person in ihr gesehen werden. Ob die Umgebung von den Erziehenden als ungemein interessant erlebt und vermittelt wird - oder als eher beängstigende und abschreckende Situation, in der dauerhafte Bewährung aufgrund eines allgemeinen Verhängnisses nicht möglich erscheint, beeinflußt dauerhaft die Erfahrungsweise von Realität und die Auseinandersetzungslinien mit ihr. Hier handelt es sich aber um langzeitige Denk- und Lebensformen, die von Tag zu Tag überprüft und korrigiert werden können und müssen.

Jeder wird tagtäglich mit Anforderungen konfrontiert, deren Erfüllung ernsthafte Mühe urid Auseinandersetzung mit sich und de'r eigenen Stellung in der sozialen Umgebung - also Bildungsprozesse - erfordert.

Diese Kennzeichnung von Bildung entspricht nicht in allen Punkten den gängigen Vorstellungen. Üblicherweise bezeichnet man als „Bildung" vor allem Vorgänge der Vermittlung und Aufnahme von Wissen, von dem man hofft, daß es in irgendeiner Weise Interesse fände und Anwendungsmöglichkeiten beinhalte. Grundsätzlich aber nimmt man meist doch an, daß Wissen an sich schon „bildend" sei, Bildung einen großen Wissensumfang erfordere und die tägliche Arbeit Menschen von Bildungsbemühungen eher abhalte.

Hier wird hingegen folgende Konzeption des Bildungsbegriffes vertreten: Er umfaßt alle Prozesse der ernsthaften geistigen Auseinandersetzung mit jenen Problemen, die auch im Alltagsleben zur Bewältigung herausfordern. Entscheidend ist die Ausrichtung auf verantwortliches Handeln im sozialen Zusammenhang; daher stellt sich vor allem die Frage begründeter Zielsetzungen im Rahmen bewußter und überlegter Werthaltungen, aber auch der Bewältigung von Gefühlen. Wissen hat nur jene Bedeutung, die ihm in einem solchen Zusammenhang zukommt: Es ist soweit unentbehrlich, als es Folgen von Entschlüssen und Handlungen vorausschätzen läßt. Keinesfalls aber erhält es für sich selbst schon Gewicht; möglicherweise kann allzu bedenkenlose Beschäftigung mit weitab liegenden Wissensinhalten sogar die Handlungsfähigkeit beschränken und insoweit Bildungsprozesse behindern. Tatsächlich läßt sich in der Realität gehobener Bildungsgänge feststellen, daß Wissen, dessen Bedeutung für die aktuelle Lebenssituation nicht geklärt ist, auf die Dauer nicht nur uninteressant, sondern auch quälend werden kann und in manchen Fällen Abscheu hervorruft.

Die heute gängigen Bildungskonzeptionen setzen stillschweigend die Annahme voraus, im Leben eines Menschen lasse sich ein Abschnitt verantwortlichen Handelns (als Erwachsener) von einer Phase trennen, in der die Heranwachsenden Wissen und Fertigkeiten zu erlernen hätten, die ihnen ein angemessenes Verhalten „im späteren Leben" erleichtern oder ermöglichen. Bekanntlich lernt man in der Schule die Hoffnung, für das Leben zu lernen. Die ständige Vertröstung auf eine unbekannte Zukunft, das Sammeln eines Wissensvorrates ohne genügende Anwendungsmöglichkeit, die Betonung der Unentbehrlichkeit, ohne daß diese unmittelbar deutlich wird, füllen allmählich nicht nur die Speicher des Gedächtnisses, sondern verschütten auch die Fragen oder die Beteiligung.

Natürlich läßt sich daraus nicht ableiten, daß nur mehr gelernt werden dürfe, was sofort im Handlungszusain-menhang angewendet werden kann. Dazu sind die Lebensbedingungen viel zu kompliziert geworden. Wir alle müssen gewissermaßen auch auf Vorrat lernen. Abe*r grundsätzlich müßte in der Unterweisung der Gesichtspunkt der aktuellen Anwendbarkeit in Handlungszusammenhängen viel mehr Beachtung erhalten. Er sollte letzten Endes auch über die Auswahl von Wissensschwerpunkten entscheiden. Dadurch würde Unterricht keineswegs zufällig; systematische Zusammenhänge lassen sich immer wieder herstellen. Sie sollten aber vorwiegend die ordnende Überschau ermöglichen und nicht nur den Ausgangspunkt bilden: Schubladen benötigt man wohl erst, wenn man genügend Inhalte gesammelt hat.

Das Lernen „für das Leben" wird vielfach damit erkauft, daß das tatsächliche Leben der Heranwachsenden kaum in Erscheinung treten darf. Ihre Probleme mit sich selbst, ihren Kameraden, ihrer Familie kommen nicht oder nur so verschlüsselt zur Sprache, daß die gebotenen Impulse nicht mehr recht verständlich sind. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Meinung, daß in Fragen des ethischen Handelns jeder -letzten Endes auch ein Jugendlicher -allein sein müsse, sondern auch, daß es einer unangemessenen Manipulation gleichkäme, sich mit ihm in solche Fragen einzulassen. Damit wird zugleich die Auseinandersetzung mit den Erwachsenen, die den Jüngeren die Erfahrung ihrer Fehler und deren Folgen voraushaben, eingeengt auf die Vermittlung von Wissensinhalten, die niemanden mehr gefährden, niemandem nahe-treten, kaum berühren, in die einzudringen (im Sinn des Interesse) nicht mehr lohnt. nbsp;r

Erst vor einem solchen Hintergrund werden aktuelle Auseinandersetzungen um Fächer und deren „Bildungswert" verständlich: Eine Sprache als formales System abstrakter Formeln ist entbehrlich, nicht aber als Voraussetzung für das Verständnis geschichtlicher Lösungen und vergangener Qual. Anders gesagt: Latein als „tote Sprache" scheint wenig wichtig, aber als lebendiger Schlüssel für das Verständnis unserer Geschichte - als Basis der Zukunft -wäre es ohne Frage von größtem Wert.Im übrigen gelten ähnliche Grundsätze für alle Fächer und deren besondere Schwerpunkte.

Bildungsprozesse, die sich auf das verantwortbare Handeln in der eigenen Lebenssituation beziehen, können Gefühle und soziale Beziehungen auch innerhalb der Schule nicht außer acht lassen: Indem in der Schule ernsthaft für die Schule gelernt wird, wird für das Leben gelernt - etwa Formen der Stellungnahme zu Lehrern und Mitschülern, tragbare Regeln der Auseinandersetzung mit Autorität und mit der vermeintlichen Sicherheit von Wi&enssät-zen und mit politischen Zielsetzungen innerhalb eines Bereiches, den man noch überblicken kann und für dessen Gestaltung man insofern verantwortlich ist, als man auch die Folgen von Blindheit und Versäumnissen zu tragen hat. Die Forderung nach einer Beteiligung der Schüler bei der Auswahl von Lehrinhalten erscheint vor diesem Hintergrund als Selbstverständlichkeit; sie bezieht sich allerdings nicht auf Erleichterungen, sondern eher darauf, daß die Schüler das Recht haben müßten, Hilfe bei der Auseinandersetzung mit Problemen anzufordern, die sie unmittelbar berühren.

Diese Form der Anregung oder der Impulse kann nicht nur in einem ganz bestimmten Alter verwirklicht oder versäumt werden, sondern schon ab dem Zeitpunkt, zu dem ein Kind ein Mindestmaß des klaren Bewußtseins von sich selbst und von seinen Beziehungen aufweist. Es kann schon früh lernen, daß es durch sein Verhalten die eigene Lage beeinflußt und daß der Austausch mit der Umgebung ungemein spannend ist. Insofern macht selbstverständlich auch ein kleines Kind bereits Bildungsprozesse durch.

Schon sehr früh sollte ein Kind für die Gestaltung eines eigenen Bereiches (beispielsweise der Spielecke) verantwortlich sein und lernen, daß dies das Bewußtsein von sich selbst - das Selbstbewußtsein - steigert. Die Erfahrung eigenen Könnens verschafft wichtige Grundlagen der „Identität". Wir wissen zu einem guten Teil deshalb, wer wir sind, weil wir wissen, was wir in den Augen anderer können oder was wir ihnen bedeuten.

Dieses Wissen erlaubt erst die Neugier oder den Versuch, in die Wirklichkeit einzudringen - das Interesse. Sowohl die soziale Bestätigung oder Anerkennung für bestimmte Leistungen als auch die allmählich steigende Beurteilungsfähigkeit der eigenen Person schränken die Freiheit nur in Teilbereichen ein; im gesamten erweitern sie diese in hohem Maß: Die Erfahrung des Erfolgs in den Augen anderer ermutigt auch zum Risiko. Verantwortung und Pflicht mögen auf kurze Strecken beschwerlich sein, aber langfristig bringen sie auch eine Verstärkung der Bindungen an andere und insofern eine Befreiung von sich selbst und zugleich eine Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums im ernsthaften Kontakt.

Anfänglich wird die Verantwortlichkeit sicher auf die Reaktion der Eltern beschränkt bleiben, das heißt, ein Kind wird völlig von Lob und Tadel abhängig sein. Auf dieser Grundlage läßt sich jedoch zunehmend lernen, daß Grundsätze des Verhaltens nicht nur von geliebten oder mächtigen Personen bestimmt werden, sondern daß diese selbst in deren Dienst stehen. Allerdings kann die Beziehung zu geliebten Menschen die merkwürdige Abstraktheit der Verantwortung verhindern, die sonst gelegentlich - vor allem unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft - zu beobachten ist: Letzten Endes müssen ethische Grundsätze immer auf das Wohl von Menschen bezogen bleiben. Auch dabei läßt sich die Gegenwart nicht für eine ferne Zukunft verkaufen.

Es liegt auf der Hand, daß es nicht leicht ist, überschaubare Handlungsmöglichkeiten, die zur verantwortlichen Gestaltung herausfordern, für jeden Altersabschnitt und jedes einzelne Kind zu finden. Immerhin besteht die Gefahr der Uberforderung. Weitaus tragischer wäre aber die Wirkung einer Haltung, die den Heranwachsenden wenig zutraut und ernsthafte Anforderungen deshalb erspart, weil vermeintlich die erforderlichen Kenntnisse noch nicht vorhanden seien, und erst erworben werden müßten. Dies bedeutet, wie jede Verwöhnung, fürsorgliche Entmündigung und erlaubt die Erfahrung des eigenen Könnens nicht. Die Heranwachsenden werden ständig auf Gängelüng Stärkerer angewiesen bleiben, zugleich aber auf die blinde Opposition gegen sie. Nur Autorität, die lebendig genug ist, sinnvolle Forderungen zu stellen, kann überwunden werden, weil sie zugleich die nötige Stärke vermittelt.

Im gesamten wendet sich die Frage nach nötigen Weichenstellungen oder möglichen Versäumnissen im Leben einzelner Menschen zurück an Grundsätze der Erziehung und derer, die dazu verpflichtet und dafür verantwortlich sind. Es geht nicht darum, wie weit wir durch entscheidende Impulse den Entwicklungsverlauf eines Kindes ein für allemal festlegen können, sondern darum, welche Grundsätze wir auf Dauer zu verwirklichen versuchen. Sofern man Bildung als Prozeß lebenslanger Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen versteht, die auf verantwortliches Handeln bezogen ist, steht das Ziel im Vordergrund, den Heranwachsenden Situationen zur Verfügung zu stellen, in denen sie sich ernsthaft bewähren können.

Vertröstet man sie nur auf später, erscheint die Hoffnung, sie würden die Zukunft besser bewältigen als wir die Vergangenheit, völlig unrealistisch. Die Angst vieler Erzieher vor einer Uberforderung der Heranwachsenden ist nur insofern berechtigt, als diesen die Frage nach dem Sinn von Anstrengungen oft so lange verboten wird, bis sie sich daran gewöhnt haben, sie nicht mehr zu stellen und sich in eine Haltung der passiven Resistenz zurückzuziehen. Damit würden das Mißbehagen an der Gegenwart und die Angst Vor der Zukunft vorbereitet.

(Der Autor ist Prorektor der Universität Klagen-fürt und ordentlicher Professor für Schulpädagogik.)

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