Das Ich wird zum Ort des Lernens

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Es ist schlimm genug, dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsere Vorfahren hielten sich an den Unterricht ihrer Jugend; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen!"

Eduard scheint genau das auszusprechen, was zunehmend Menschen aller Altersstufen tagtäglich zu hören bekommen und offenbar auch immer geneigter sind, zu glauben: Alles verändert sich, immer rascher müssen wir uns immer neues Wissen aneignen, um in der Welt des Umbruchs zurecht zu kommen.

Das hat aber nicht unbedingt nur etwas mit der Zeit zu tun, in der wir leben. Es ist etwa 200 Jahre her, dass Eduard das gesagt hat, genauer: Johann Wolfgang von Goethe es ihn 1809 in seinem Roman "Wahlverwandschaften" sagen ließ. "Alle Menschen sind gleich, manche sind modischer!" wäre allerorts immer wieder auf großen Plakaten zu lesen gewesen (hätte es welche gegeben damals), um Erwachsene zur (modischen) Weiterbildung zu bewegen und der Eindruck, dass ein so verstandenes lebenslanges Lernen eher eine Strafandrohung als eine verheißungsvolle Aussicht darstellt, wäre vermutlich auch damals nahegelegen.

Die bisher gängige Strategie der marktgerechten Qualifizierung ist an ihren Grenzen angekommen. Was jetzt am Anfang des 21. Jahrhunderts sichtbar wird, sind Schattenseiten eines Lernverständnisses, das sich ausschließlich auf ökonomische Belange beruft. Ein Bündel von Faktoren wird dazu beitragen, dass sich auch Arbeit weiterhin radikal verändern wird und damit auch die Form unserer Lebensführung (siehe dazu: "Entdecken, was mir möglich ist" von Michaela Moser, Furche-Dossier vom 14.12.2000).

Übersättigung

Damit ändern sich aber vor allem die Formen, in denen wir dann das zur umfassenden Lebensführung und Lebensgestaltung Notwendige erlernen. Durch ein präziseres Wahrnehmen dieser Lernformen werden sich möglicherweise auch neue Lernorte ergeben, die jenseits der "institutionellen Lernanstalten" liegen. Allerdings gilt, dass "neu" nicht unbedingt mit "noch nie dagewesen" gleichgesetzt werden sollte und kann im Nachdenken über Lernen "neu in den Blick nehmen" bedeuten.

"Durch die anthropologischen Gegebenheiten sind wir Menschen außerstande, zu irgendeinem Zeitpunkt unseres Lebens nicht zu handeln und daher nicht zu lernen - und sei es in der Variante des Verlernens.", so Wolfgang Schmidl, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Wien. Wir können also gar nicht anders, als ständig zu lernen. Lernen "passiert" auch ohne unser besonderes zutun.

In diesem Beitrag bedeutet Lernen einen aktiven Austausch mit der Umwelt, der in Form einer Spirale ständig in Bewegung ist, in deren Zentrum der/die Einzelne steht. "Nicht wenige zeigen sich übersättigt von den zahlreichen Lernangeboten oder appetitlos wegen des offensichtlichen Zwanges für bestimmte Zwecke zu lernen", meint der Grazer Universitätsprofessor für Erwachsenenbildung Werner Lenz, "Diät scheint angebracht."

Katharina, 29, auf die Frage, an welchen Orten sie denn am meisten gelernt hätte: "Überall, wo keine Schule im Spiel war und wo ich nicht gezwungen war, das zu lernen, was gerade vorgegeben wurde!" Katharina spricht aus, was wir alle über Lernen gelernt haben, nämlich dass Lernen und Bildung immer etwas mit Institutionen zu tun haben muss; dass an ganz bestimmten Orten zu ganz bestimmten Zeiten ganz bestimmte Inhalte zu lernen sind. Schulen, Universitäten und in zunehmendem Maß auch Einrichtungen der Erwachsenenbildung sind diese "klassischen" Lernorte (damit sind auch Zeit und Inhalte vorgegeben).

Peter Eichler, der Leiter des Ausbildungsinstitutes für Erwachsenenbildung formuliert daraus die strategische Entwicklungsrichtung für sein Institut: "Lernen passiert überall, nicht nur in den dafür vorgesehenen Einrichtungen! Dieses Lernverständnis gilt es in Zukunft zu etablieren!"

Bei uns werden nur die an den "gewidmeten Lernorten" erworbenen Lernerträge vom "Bildungsstaat" anerkannt. "Für alles braucht man heute ein Zertifikat, ein Zeugnis, einen Schein!", stöhnt ein Teilnehmer an einem Weiterbildungskurs, in welchem er mehr als die Hälfte der "Lern-Inhalte" bereits beherrscht. Er hat sie eigenständig erlernt, aber es sind kaum Möglichkeiten zur Anrechnung vorgesehen. "Also sitze ich drinnen und mache eben eine weitere Schein-Ausbildung, weil ohne die nix geht", resigniert der Weiterbildungsbewusste und wird durch die Undurchlässigkeit des Bildungssystems in seiner Lernresignation gewissermaßen "ermuntert". "Erst offizielle Bescheinigungen legitimieren, was an Bildung brauchbar ist", entlarvt Werner Lenz die nicht ganz einsichtige Systemlogik. Denn: wer bestimmt, was brauchbar ist von dem, was wir lernen?

Selbstorganisation

Der Erwachsenenpädagoge Horst Siebert sieht einige Zukunftstrends im Erwachsenenlernen des 21. Jahrhunderts, die jenseits der gängigen institutionellen Praxen liegen. "Die Blickrichtung verschiebt sich vom Weiterbildungssystem der Institutionen hin zur Lernbiografie der Erwachsenen", so der Forscher. Lernen lasse sich nur bedingt von außen steuern und regulieren. Jegliches Lernen und somit auch individuelles erfolge vorwiegend selbstgesteuert und selbstorganisiert. Die Wirksamkeit der pädagogischen Vermittlung von Wissen werde von jeher überschätzt. Alles das legt nahe, eigenständiges Lernen, alles das, was bisher aus dem "Bescheinigungswesen" regulativ heraus gehalten wurde, neu zu bewerten. Lernen in einem solchen Verständnis muss sich nicht nach seiner Brauchbarkeit fragen lassen.

Doch wo wird sich in den raschen Veränderungsbewegungen dann Lernen ereignen? Solche Lernorte außerhalb unmittelbar beruflicher Zusammenhänge und außerhalb der dafür vorgesehenen Orte gab es von jeher. Einige dieser Orte zeichnen sich schon lange ab und werden sich vermutlich im Trend noch verstärken wie etwa das Reisen, das (mehr oder weniger) gezielte Erweitern der persönlichen Kreise, das Kennenlernen neuer Orte, Menschen und deren Kulturen.

Das Internet (alle sogenannten "neuen Medien") als neuerer Lernort wird bereits vor allem von der Generation der unter 25jährigen dominiert, der "Generation-N" wie der amerikanische Cyber-Guru Don Tappscott sie nennt. Sie ist diejenige Generation, die im Netz zu Hause ist, sich dort einen neuen Lernort geschaffen hat. Besondere Merkmale dieser Lernkultur seien Unabhängigkeit, emotionale und intellektuelle Offenheit, die freie Meinungsäußerung und die Sorge um die eigene Reife. "Sie werden", so Tappscotts Einschätzung, "radikale Ansichten durchsetzen: bei der Führung von Unternehmen und beim demokratischen Prozess in Regierung und Verwaltung."

Den Scheinwerfer einmal nach innen zu richten ist nach wie vor ein selten vollzogener Schwenk im Ausleuchten neuer Lernorte. Denn letztlich ist es die Auseinandersetzung im inneren Monolog, die darüber entscheidet, ob die Erlebnisse durch das Nach-Denken zu einer Lern-Erfahrung werden können, die ihrerseits wiederum Knotenpunkte für das Andocken weiterer Lernerfahrungen schafft. Die ständige Auseinandersetzung mit dem, was wir andauernd erleben lässt das, was wir gewöhnlich als unsere Biografie bezeichnen erst entstehen. Lernen als Bio-Grafie: als das andauernde "Schreiben" (auch Um-Schreiben!) unserer Lebensgeschichte durch das Deuten unserer Erlebnisse, und deren Einordnen in unser Leben. Lernen wird dann zum schaffen von "Wegen, indem man sie einfach geht"- ein Lernen im Sinne Franz Kafkas, dem ich mich hier anschließe.

"Für mich war es zum Beispiel wichtig, auf meine Gefühle achten, zu lernen", so Maria, 32 "ihnen zu trauen und dadurch meine Selbstsicherheit zu gewinnen."

Auf die Frage, wie sie das gelernt habe, spricht sie ihre sozialen Beziehungen an: "In der Auseinandersetzung mit Freunden und Freundinnen, dort wo wir vor allem Zeit gehabt haben, einfach zu quatschen, ohne eine bestimmte Absicht dahinter. Dort habe ich aber auch gelernt, dass sogar meine besten Freundinnen manche Dinge anders sehen als ich - und wir mussten uns halt zusammenstreiten!"

Soziale Beziehungen übernehmen mehr als je zuvor eine zentrale Funktion für individuelles Lernen. Dort werden Unterschiede Differenzen deutlich, über die Verständigung erzielt werden muss. Konfliktsituationen bilden damit eine wichtige Basis dafür, dem gemeinsamen Lernen eine Ausrichtung zu geben.

Viele Menschen berichten von ähnlichen Lernerfahrungen in politischen Initiativen. Diesen Befund teilt auch die Lernforschung. "In diesem Sinn schließt Selbstlernkompetenz eine Selbstmotivierungskompetenz ein: lernen zu wollen anstatt sich permanent verpflichtet zu fühlen, lernen zu sollen.", stimmt Siebert zu.

Der gesamtgesellschaftliche Umbruch, begleitet von der Rede über Globalisierung, Flexibilität und Mobilität, die sich dem/der Einzelnen als Forderungen gegenüberstellen, verändert die Art und Weise, wie wir unser Leben miteinander organisieren nachhaltig. Die Notwendigkeit, trotz der Unübersichtlichkeit handlungsfähig zu leben, erfordert das bewusste Kultivieren der Lernorte "Ich" und "Soziale Beziehungen".

Damit kommt den bestehenden Bildungseinrichtungen, besonders denen der Erwachsenenbildung, dann aber als "neuen Lernorten", eine bedeutende Position zu: nämlich Ort zu sein, an dem Erlebnisse gemeinsam mit anderen reflektiert, in einen Sinnzusammenhang gebracht und dadurch erst Lern-Erfahrungen werden können. "Gerade Bildungshäuser erfüllen dabei als geprägte Orte eine wichtige Funktion!" erklärt auch Josef Kittinger, Leiter des Vorarlberger Bildungshauses St. Arbogast, die Grundphilosophie seiner Einrichtung. Die Bildungsstätten von heute haben morgen die Aufgabe als Reflexionsort zur Verfügung zu stehen und für Rahmenbedingungen zu sorgen, die es den Menschen, die sich dort versammeln auch ermöglichen, selbstorganisiert zu lernen - also ihre Probleme, in Eigenregie und vor allem gemeinsam, zu lösen.

Das bedeutet den Abschied vom Expertenstatus der Lehrenden in den Bildungsinstitutionen, das gilt besonders für Erwachsenenbildner/innen. Denn dann geht es nicht mehr darum, Inhalte anzubieten, sondern Menschen dabei behilflich zu sein, sich darüber zu vergewissern wie sie ihr Lernen möglichst optimal gestalten, um dann zu wissen, wo und mit welchen Mitteln sie ihre Probleme, die sich dann als Aufgaben stellen, zufriedenstellend bewältigen können. Dafür zu sorgen, dass das verfügbare Wissen eigenverantwortlich und möglichst nutzenbringend für alle eingesetzt werden kann wird zum bildungspolitischen Auftrag. Dann wäre auch Horst Siebert zufrieden. "Nur ein Lernbegriff, der auch anthropologisch verankert ist, ist zukunftsfähig!"

Und Eduard wäre erleichtert.

Der Autor ist

Pädagogischer Fachreferent im Forum katholischer Erwachsenenbildung und in dieser Funktion wie die meisten Erwachsenenbildner/innen auch (noch?) kein "Experte" für selbstorganisiertes Lernen.

Infos unter: www.kath-eb.at

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