Leben, Lernen, Lebenslang

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Die Europäische Union forciert Lebenslanges Lernen, Österreich erstellte dazu eine Strategie. Das Projekt gilt nicht klassischen Bildungsidealen, sondern dem Ziel der Wettbewerbsfähigkeit.

"Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ Mit diesen Worten beginnt das erste Buch der Metaphysik von Aristoteles. Gleichsam das Motto abendländischen Denkens, fungierte diese Formulierung seither als Kratzbaum, an dem sich alle Bildungskonzepte zu schärfen hatten. Oder dies zumindest hätten tun sollen. Die reine Gelehrsamkeit humanistischen Anstrichs hat viel an Glanz verloren. So herrscht heute die Ansicht vor, dass Wissen nicht nur erworben, sondern auch angewendet werden will. Bildungspolitische Entwürfe sind als Reaktionen auf gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen zu sehen. Dieses Wechselspiel kulminiert gegenwärtig im schillernden Begriff des Lebenslangen Lernens. Alternativ spricht man auch vom "Lebensbegleitendem Lernen“. Was zwar dasselbe meint, aber ohne die allfällige Assoziation mit Freiheitsentzug.

Lebenslanges Lernen bezeichnet den Anspruch, sich in jeder Lebensphase neue Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen. Dies nicht nur in dem trivialen Wortsinn, wonach sich ohnehin jeder Mensch permanent (weiter)entwickelt. Sondern verstanden als institutionalisierte, systematische und organisierte Form ständigen Bildungs(neu)erwerbs. Das Besondere daran: Nicht nur die Bürger werden in die Pflicht genommen. Sondern auch die Politik, die für ein entsprechendes Angebot zu sorgen hat.

EU wurde nach den 68ern neuerlich aktiv

Nach den reformpädagogischen Ansätzen der 68er-Bewegung, blieb es zwei Jahrzehnte still um das Lebenslange Lernen. Mitte der 1990er-Jahre brachte die Europäische Union das Thema auf den Tisch, erklärte 1996 zum "Jahr des Lebenslangen Lernens“. Ein maßgebliches Dokument ist das Lissabon-Memorandum des Europäischen Rates aus dem Jahr 2000, in dem Lebenslanges Lernen als "jede zielgerichtete Lerntätigkeit, die einer kontinuierlichen Verbesserung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen dient“ definiert ist.

Die EU hat für die Jahre 2007 bis 2013 ein Bildungsprogramm aufgesetzt und mit sieben Milliarden Euro budgetiert. Vier Programmlinien fördern jeweils eine Zielgruppe: "Comenius“ richtet sich an Vorschul- und Schulkinder; "Erasmus“ ist das Mobilitätsprogramm für Studierende; "Leonardo da Vinci“ zielt auf Weiterbildungsmaßnahmen berufstätiger Menschen; "Grundtvig“ gilt der allgemeinen Erwachsenenbildung. Daneben gibt es ein Querschnittsprogramm für politische Zusammenarbeit, Sprachenlernen, Informations- und Kommunikationstechnologien. Schwerpunkt des Jean-Monnet-Programms ist die europäische Integration. Neben den EU-Staaten nehmen Norwegen, Island, Liechtenstein, Kroatien, Türkei und die Schweiz daran teil.

Hintergrund der Aktivitäten ist nicht ein romantisches Bildungsideal. Lebenslanges Lernen gilt als probates Mittel, um die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Wirtschaft im Wettbewerb mit den USA, Asien und den Schwellenländern zu erhalten.

"Wenn heute von Lebenslangem Lernen gesprochen wird, ist damit gemeint, dass Menschen ihre Arbeitsmarkttauglichkeit ein Leben lang aufrechterhalten können“, sagt Erich Ribolits vom Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. "Der gesellschaftliche Wandel zwingt zum Abschied von der Sicherheit, beruflich im vertrauten Umfeld bleiben zu können.“

Für Ribolits sind vor allem zwei Faktoren Treiber dieses Wandels: der Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnologien, der viele traditionelle Arbeitsfelder obsolet macht. Und die Globalisierung samt ihrem Konkurrenzkampf um Kapital und Humanressourcen. Damit bricht die Idee lebenslangen Lernens mit dem traditionellen Bildungsverständnis, wonach auf die Zeit der Ausbildung die Zeit des Arbeitens folgt. Wer am Arbeitsmarkt künftig nicht unter die Räder kommen möchte, muss sich laufend weiterbilden.

Auf die Spitze bringt dies der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin: Arbeit wird künftig etwas für Eliten sein, so seine provokante Botschaft. Diese Diagnose impliziert zugleich die Vergänglichkeit des im Berufsalltag verwertbaren Wissens. Peter Baumgartner, Leiter des Departments für interaktive Medien und Bildungstechnologien an der Donau-Universität Krems, spricht von der "sinkenden Halbwertszeit des Wissens“. "Es ist nicht mehr möglich, auf Vorrat zu lernen. Die Lebensphasen Ausbildung und Arbeit wechseln sich ständig ab.“

Die Idee der Bologna-Architekten

Das gegenwärtige Bildungsangebot wird dem nicht immer gerecht, wie man auf Hochschulebene am Beispiel des dreigliedrigen Studienabschluss-Systems mit Bachelor, Master und gegebenenfalls PhD sieht. Wunsch der Bologna-Architekten war es, dass dem dreijährigen Bachelorstudium eine Zeit des Erfahrungserwerbs im Berufsleben folgt. Erst dann sollte der Master eine Option sein. Praktisch schließen jedoch die meisten Studierenden den zweijährigen Master unmittelbar an den Bachelor an. Was die reale Mindeststudiendauer im Vergleich zum vierjährigen Magister sogar um ein Jahr erhöht.

In Österreich haben die Ministerien für Unterricht, für Wissenschaft, für Arbeit und für Wirtschaft heuer das Strategiepapier "Lebenslanges Lernen 2020“ veröffentlicht. Darin sind zehn Aktionslinien formuliert, um bis zum Ende der Dekade einige Ziele zu erreichen. Der Anteil von Schülern mit Leseschwierigkeiten soll gegenüber der PISA-Studie 2009 auf 14 Prozent halbiert werden. Zehn Prozent der Lehrlinge und Lehrabsolventen sollen die Berufsreifeprüfung ablegen (gegenüber zwei Prozent im Jahr 2008). Und mindestens 15 Prozent der Beschäftigten mit Pflichtschulabschluss sollen eine Weiterbildung absolvieren. Vergleichsbasis ist das Jahr 2007, in dem der Wert bei 5,6 Prozent lag. Einen von Bildungsexperten gelobten Beschluss fasste der Ministerrat kürzlich: Bildungsabschlüsse sollen ab 2012 kostenlos nachgeholt werden können.

Das Bildungswesen neu denken

"Lebenslanges Lernen ist ein Bildungskonzept, das uns dazu veranlassen sollte, das Bildungswesen neu zu denken“, sagt Werner Lenz, Leiter des Arbeitsbereichs Weiterbildung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz. "So erkennt man Stärken aber auch Mängel des bestehenden Systems.“ Die konkrete Ausgestaltung eines neuen Bildungssystems ist noch weitgehend offen. "Man wird jedenfalls überlegen müssen, welche neuen Lernangebote man der Bevölkerung eröffnet“, so Lenz. Er warnt jedoch davor, bestehende soziale Gräben zu vertiefen.

Kinder aus höher gebildeten und Akademikerfamilien sind bei Matura- und Hochschulabschlüssen überrepräsentiert. Unter jungen Menschen mit Migrationshintergrund liegt die Schulabbrecherquote in der EU doppelt so hoch wie im Gesamtdurchschnitt. In Österreich sogar drei Mal so hoch. "Wer hat, dem wird gegeben“, bedauert Lenz. "Es fehlt an sozialer Fantasie und reformpädagogischen Ideen.“ Er plädiert für flexible Formen des Lernens anstelle starrer, hierarchischer Strukturen und Frontalunterricht. Auch müsse das informelle Lernen verstärkt anerkannt werden. Darunter versteht man jene Formen des Wissenserwerbs, die nicht strukturiert in Kursen oder Schulen vermittelt werden. Sondern das, was man sich gleichsam "von selbst“ im täglichen Leben und Arbeiten aneignet. "Das Ziel lebenslangen Lernens scheint zu sein, dass die Menschen besser funktionieren“, merkt Erich Ribolits kritisch an: "Positiv wäre ein Begriff von Lernen, der über reine Brauchbarkeit hinausgeht.“

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