„Wir haben den Russen dafür dankbar zu sein, daß sie uns daran erinnert haben, daß wir in den USA emsthaft studieren müssen.“
Robert Hutchins in „Esquire“, Juni 1958.
In einem geradezu gegenläufigen Prozeß zum Anstieg des Sozialproduktes in-den USA wurde in den letzten Jahrzehnten das Schulwesen der Staaten in einer Weise vernachlässigt, daß so etwas wie ein nationaler pädagogischer Notstand festgestellt werden muß.
Was an Schulen da ist, mag den Besucher aus Europa durch die baulichen Anlagen und die raffinierten Serviceeinrichtungen imponieren. In einer Schule von New York werden nur 25 Prozent der Aufwendungen dem eigentlichen Schulzweck zugewendet. Alles, was sonst ausgegeben wird, dient schuleigenen Sporteinrichtungen, der Erhaltung der Cafeterias und ähnlichen Institutionen, die vom Standpunkt der Erreichung des Schulzwecks nur Sekundärcharakter haben.
Die Problematik beginnt schon mit den Lehrkräften, die meist keineswegs mit dem vergleichbar sind, was man sich in Europa unter einem Lehrer vorstellt. Das hängt wieder mit dem Umstand zusammen, daß die Lehrer relativ schlecht bezahlt sind und keine gesicherte soziale Position einnehmen. — Das Höchsteinkommen eines Lehrers in Chikago liegt beispielsweise um 181 Dollar je Jahr unter dem höchsterreichbaren Einkommen eines Schul-dieaatnu..fiia führende? 1 Direktorder General' Mfte$nkana einGeM'eWefcterf,3 höftef1 ist als das Gesamteinkommen aller Lehrer einer amerikanischen Mittelschule (High school).
In der Gesellschaft haben die Lehrer der Mittelschulen vielfach den Rang von Kindermädchen, ein Umstand, der wieder damit zusammenhängt, daß nicht wenige Lehrer ungeprüft sind. In manchen Staaten haben nur etwa ein Viertel der Lehrer die Lehramtsprüfung. In Europa sind die Lehrer auf Grund ihrer Vorbildung und der ihrem Unterricht vorgegebenen Lehrstoffbeschreibungen und Lehrziele verhalten, zuerst einen Lehr s t o f f vorzutragen. Erst in zweiter Linie kommt die Lehr-m e t h o d e. Es geht bei uns also zuerst um das Was und dann erst um das Wie des Unterrichtes. Zuvorderst muß der Lehrer im Gegenstand „Geographie“ bei uns Kenntnisse seines Gegenstandes haben und dann erst Erfahrungen in „Gruppendynamik“ aufweisen, wenn solche Erfahrungen überhaupt nachgewiesen werden müssen. In den USA ist es umgekehrt.
Dazu kommt, daß der Schüler in den USA ein Recht auf ein Studium in einer höheren Lehranstalt bzw. auf Fortsetzung seiner Studien in einem College hat. Das Auswahlprinzip, das wir an unseren Mittelschulen und ganz besonders an den technischen Mittelschulen praktizieren, wird in den USA weithin vernachlässigt. Das geforderte Leistungsniveau ist so, daß so gut wie alle durchkommen und den Zugang zu einem College finden können. In das College kommen dann die Studenten jammervoll vorbereitet. Die Folge ist, daß die Hochschulprofessoren vielfach mit ihren Hörern das Lesen und Schreiben in Englisch üben müssen. Zwischen der Grundbildung wie auch der Mittelschulbildung auf der einen Seite und der akademischen Ausbildung auf der anderen Seite besteht jedenfalls eine Distanz, die oft nicht mehr überwunden werden kann. Dem Europäer scheint es zuweilen, als ob die Colleges zu einem nicht geringen Teil die Aufgabe hiben, vorerst das nachzuholen, was an den Mittelschulen versäumt wurde. Freilich gibt es beachtliche Ausnahmen. So hat New York City vier Eliteschulen, die ihre Schüler nur nach einem strengen Ausleseverfahren aufnehmen und, venn man den Schilderungen Glauben schenken darf, über dem Niveau der kontinentalen Schulen stehen. Eine solche Eliteschul ist zum Beirpiel die Bronx High School of Science.
Marc Raeff von der Universität in Massachusetts in „New York Times“ vom 26. Jänner 1958.
Die Lehrpläne sind nicht so organisiert, daß zumindest eine Abstimmung der Gegenstände versucht wird. Zu allem kommt, daß der Schüler sich von den im Programm enthaltenen Gegenständen oft die ihm passenden aussuchen kann. Hätte man jemals ein solches Auswahlprinzip auf dem Kontinent angewandt, wären wir wahrscheinlich, was das durchschnittliche Bildungsniveau der Schulabsolventen betrifft, zu den gleichen Erfahrungen gekommen wie die Amerikaner. Was würde sich der Schüler in Oesterreich wohl an Gegenständen aussuchen, mehr noch: Was würde er sich nicht aussuchen, gäbe man ihm die Wahl, sich selbst aus einem Gegenstandsrahmen einen Gegenstandsplan zusammenzustellen!
Nach dem Motto „Dienst am Schüler“ wird die Darbietung des Gegenstandes meist so vorgenommen, daß beim Schüler keine Vater- oder sonstigen Komplexe entstehen. Oft wird ein Gegenstand nur anekdotisch vorgetragen. Dazu kommt, daß die unglaublichsten Dinge unterrichtet werden. Senator Handers (siehe „Con-gressional Report“) berichtet von einer High School, in der man einen Gegenstand vortrug, der sich „Orientierung hinsichtlich des Schulgebäudes“ nannte, was den Senator zur Bemerkung veranlaßte, daß es sich beim „Gegenstand“ wohl nur um eine Unterweisung gehandelt haben konnte, wie man von der Cafeteria zu den Toiletten komme. Welcher Raum wird etwa dem Unterricht in „Demokratie“ gewidmet! Anderseits werden wichtige Gegenstände, wie die Mathematik, in einem unvertretbaren Ausmaß vernachlässigt. Das gilt übrigens für die meisten jener Gegenstände, die keinen unmittelbaren Praxisbezug haben. Nur ein Viertel der Graduierten an den Mittelschulen hat durch ein Jahr Physik gehabt, ein Drittel Chemie, die Hälfte hat durch ein Jahr, Mathematik studiert und ein Fünftel eine Fremdsprache. (Der „Calefornia State Board of Education“ stellte 1951 fest, daß für die Graduierung die Kenntnis einer Fremdsprache nicht notwendig sei.)
Die Führung der Schulen liegt, was die Entwicklung noch verschärft, praktisch in einem pädagogisch kaum mehr vertretbaren Umfang in den Händen der Schüler. Die Lehrer haben oft nur den Charakter von Trainern und Diskussionsleitern.
Dann kam der heilsame Schock, als sich die russische technisch-physikalische Forschung der US-amerikanischen überlegen erwies und sich zudem zeigte, daß ein großer Teil der Forscher in den USA, die Erfolg hatten, europäische Emigranten waren, also Produkte eines Erziehungssystems, das man durch „fortschrittlichere“ Methoden überwunden zu haben glaubte. Mit dem Schock kam die Angst, eine heilsame Angst, der als Abfallprodukt eine Reihe von zum Allgemeingut gewordenen Einsichten entwuchs. Gleichzeitig wurde man der Tatsache gewahr, daß das russische Schulwesen, so sehr es politisch befangen schien, eine geradlinige Fortsetzung des zaristischen Schulwesens darstellte, das schon seinerzeit durchaus westliche Methoden und Lehrprogramme umfaßt hatte und in keiner Weise dem innereuropäischen Schulwesen unterlegen gewesen war.
Mit der gleichen Vehemenz, mit der die bisher geübten Methoden der Erziehung und des Unterrichtes verteidigt wurden, werden sie nunmehr, und man muß sagen, in einer erfrischenden Offenheit, angegriffen.
Freilich liegt gerade in der Unbekümmertheit, in der man an die Aenderung der bisherigen Organisation und Führung des Unterrichtes in den Mittelschulen zu gehen scheint, auch eine eminente Gefahr eingeschlossen. Vielfach meint man in den USA, es fehle nur an einer entsprechenden, den Kenntnissen dieser Zeit angemessenen technischen Ausbildung. Diese Meinung, schulorganisatcrisch übersetzt, aber muß bedeuten: noch weitgehendere Spezialisierung in der Ausbildung und Vernachlässigung aller nicht in Geld umsetzbaren Bildung.
Nun krankt aber nach amerikanischen Publikationen das amerikanische Schulwesen vom Grunde her an einer Vernachlässigung der Erziehung und der Allgemeinbildung. Sowohl die Erziehung im Elternhaus wie in den Grundschulen liegt offensichtlich im argen. Nach dem Slogan „Do it yourself“ wird die Erziehung im Wesen als Eigenerziehung verstanden und dem Kind aufgelastet, das sein eigener pädagogischer Souverän ist und bestenfalls Gebrauchsanweisungen für die Gestaltung seines Lebens devotest dargeboten bekommt.
Freilich hat auf der anderen Seite der amerikanische Student eine Freiheit des Lernens, die zuweilen in Europa gerade im Interesse der Erreichung des Studienzweckes fehlt. Freiheit ohne Maß und ohne sichtbar gesetzte Grenzen kann aber zu einem genialen Dilettantismus führen. Jedenfalls scheint man jetzt in den Staaten zu erkennen, daß die jungen Menschen in den Schulen, ohne im Elternhaus erzogen worden zu sein, Aufnahme finden, aber auch in der Schule selbst nicht erzogen, sondern sich selbst überlassen werden und vor allem nicht lernen, w i e man lernt. Der Unterricht ist weithin in Diskussionen aufgelockert. Die Technik des Betragens und des Diskutierens (sicher bei uns zuwenig geübt) entartet oft in Geschwätzigkeit ohne Grenze. Nicht wenige Lehrer glauben, ihr pädagogisches Pensum erfüllt zu haben, wenn sie ihren Schülern eine Perfektion in der Technik des Fragens und des Dialogs beigebracht haben, während die Substanz dessen, worüber diskutiert wird, nur in einem unzureichenden Umfang Gegenstand des Unterrichts ist. Man diskutiert etwa über geschichtliche Probleme, aber der Gegenstand „Geschichte“ wird-kaum gelehrt. Nun scheint die Einsicht „drüben“ eine allgemeine zu sein: Es geht nicht ohne Erziehung, nicht ohne Zwang zum Lernen, nicht ohne Auslese. Freilich muß man vorher dessen gewahr werden, daß Bildung, wenn sie auch scheinbar nicht kommerzialisierbar ist, auf Umwegen doch etwas einträgt. Sogar die höhere Mathematik und das Studium fremder Sprachen. Das bedeutet aber die R ü c k-kehr nach Europa, die Erkenntnis, daß schließlich auch Wohlfahrt und Freiheit auf Geist und Wissen beruhen und daß Gewinn nicht autonom aus Gewinn entstehen kann.
Der Anfang muß damit gemacht werden, daß, wie sich der Präsident des Massachusetts Institute of Technology, Dr. Killian, ausdrückte, der Nachdruck: in der Erziehung auf den Zusammenhang alles Wissens gelegt wird.