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Schule und Hochschule bieten keinen Bezugschein

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Die Überfüllung der Universitäten läßt die Warnung vor einerbevorstehenden Akademikerarbeitslosigkeit ertönen. Der frühere Unterrichtsminister Dr. Theodor Piffl-Percevi6 erinnert in seinen Memoiren daran, wie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die verstärkte Neugründung von Gymnasien kritisiert wurde, die in weiterer Folge zur Uberfüllung der Hochschulen beigetragen hat.

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Die Überfüllung der Universitäten läßt die Warnung vor einerbevorstehenden Akademikerarbeitslosigkeit ertönen. Der frühere Unterrichtsminister Dr. Theodor Piffl-Percevi6 erinnert in seinen Memoiren daran, wie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die verstärkte Neugründung von Gymnasien kritisiert wurde, die in weiterer Folge zur Uberfüllung der Hochschulen beigetragen hat.

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Die Neugründung der Gymnasien stößt bis zum heutigen Tag auf vielfache Kritik. Ein besonders häufig angesetzter Angriffskeil richtet sich auf die im Verhältnis zu Gymnasialgründungen zu geringe Gründung hohérer technischer Lehranstalten. Mit dieser Kritik ist fast immer auch eine Mißgunst gegenüber der Allgemeinbü- dung verbunden, obwohl unsere österreichischen berufsbildenden Schulen sich zum Unterschied von solchen des Auslandes weitgehend auch um Allgemeinbildung bemühen. Trotz der mindestens dreifach höheren Bau- und Betriebskosten einer berufsbildenden Schule gegnüber jenen eines Gymnasiums ist die Gründung keiner höheren technischen Schule dort unterblieben, wo einem Bedarf genügend technisch und pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte gegenüberstanden. Techniker konnten zwar für einige nebenberufliche Stunden erwartet werden, für die hauptberufliche Lehrtätigkeit aber ist neben einer mehrjährigen technischen Praxis die Lehrbefähigung erforderlich. Im Zeitraum hoher Konjunktur der Industrie aber war deren Besoldungsschema ein übermächtiger Konkurrent des Besoldungsschemas für Lehrer. Deshalb aber den jugendlichen Jahrgängen eines Gebietes ein errichtbares Gymnasium vorzuenthalten, weil eine erwünschte technische Lehranstalt noch nicht - meist noch lange nicht - errichtbar war, wollte ich nicht verantworten.

Übrigens hatte die Vereinigung österreichischer Industrieller in ihrer Stellungnahme zum Entwurf des Bildungsberichtes „E rziehungsplanung und Wirtschaftswachstum 1965 bis 1975“ ausgeführt: „Wir geben zu, daß der Gedanke einer vorrangigen Förderung der berufsbildenden höheren Schule im Interesse einer leichteren Deckung des Bedarfs an Maturanten und Akademikern etwas Bestechendes hat. Die Wirtschaft weiß insbesondere die Qualität der Absolventen der technischen und gewerblichen Lehranstalten zu schätzen und hat sich stets für diese Schulen eingesetzt.“ Jedoch: „Grundsätzlich ist eine frühzeitige berufliche Spezialisierung für den einzelnen und auch für die Wirtschaft problematisch. Bestimmte Bevölkerungsteile in diese Richtung zu lenken, wäre - auch wenn sie selbst eine Neigung dazu haben - sehr anfechtbar. Eine Restriktion der allgemeinbildenden höheren Schulen zugunsten berufsbildender höherer Schulen könnte in weiterer Folge höchst unerwünschte Auswirkungen auf das Bildungsniveau der Gesellschaft haben.“

Die viel ergreifendere Kritik gegen die Schulneugründungen richtet sich gegen Neugründungen überhaupt. Ich will hier nicht auf die Besorgnisse eines so klugen Mannes wie jene des Wirtschaftspublizisten Hörst Knapp eingehen, der die Österreicher schon vor ein paar Jahren für „overeducated“ hielt Ernst zu nehmen ist der

Vorwurf, daß deswegen ein Zuviel an höheren Schulen und Hochschulen gegründet worden sei, weil deren Abgänger gar nicht alle von Wirtschaft und Verwaltung gebraucht würden. Das führe zu „akademischem Proletariat“. „Wenn man“ - so der Professor für Pädagogik an der Universität Konstanz, Wolfgang Brezinka, in der „Presse“ vom 24./25. Jänner 1976 - „einen freiheitlichen Rechtsstaat durch einseitig individualistische Auslegung seiner eigenen Grundsätze von innen her zu Fall bringen will, dann gibt es kaum ein wirksameres Mittel dazu, als eine riesige Menge von höheren Schülern, Studenten und Akademikern mit Berufs-, Einkommens-

und Prestigeansprüchen zu schaffen, die unerfüllbar sind.“ Es sei notwendig, „die Eilte staatspolitische Einsicht wiederzugewinnen, daß nicht die privaten Aufstiegswünsche des Individuums, sondern die Bedürfnisse der Gesellschaft das erste Richtmaß einer wirklichkeitsgerechten und finanziell tragbaren Schulpolitik sein müssen.“

Als ich solches las, kam mir zunächst jener oststaatliche Hochschulminister in den Sinn, der mich zu seinem Schreibtisch blicken hieß, in welchem er die Weisung bereithalte, wie viele Stundeten bei den nächsten Prüfungsterminen in den einzelnen Fächern durchkommen dürfen, damit dies einerseits der Erfüllung des Vieijahres- planes entspreche, anderseits keine überflüssigen Absolventen übrigblieben, die dann nicht untergebracht werden könnten. Das heißt also: Etwas höher kalkulierter Numerus clausus schon bei den Prüfungen in Anpassung an die Vierteljahresberichte des Vieijahresplanbüros. Denn wäre man mit einem Zementwerk noch nicht fertig, dürften doch auch nicht zu viele Zementfachstudenten dürchkommen. Stets „nach den Bedürfnissen der Gesellschaft“, stets nach den Anforderungen des Planes und seiner Abwicklung: so viele Tonnen Stahl, so viele Lehrer, so viele Tonnen Schwefel, so viele Juristen… Menschen gleich Ware, Ware gleich Menschen!

Es kam mir vor, als ergäbe sich die

Schlußfolgerung, daß nicht die Hebung aller Fähigkeiten und geistigen Kräfte der Kinder eines Volkes Pflicht des Staates sei, daß er vielmehr nur so viele Schulen errichten und in sie nur so viele Schüler eintreten und bei Prüfungen durchkommen lassen dürfe, als wirtschäfts-, finanz-, verwaltungs- oder sonstige staatspolitische Bedarfsmeldungen von den Arbeitsämtern vorliegen.

Gewiß darf auch ein Schul- und Bildungspolitiker die Sorge um die künftigen Berufsmöglichkeiten und Berufslaufbahnen der nach höherer Entfaltung ihrer Talente Strebenden nicht aus dem Auge lassen. Aber den Zugang zu.höherer Entfaltung deswegen zu drosseln und nicht in breiter Weise allen Begabten anzubieten, weil Arbeiter für Arbeiten gebraucht werden, für welche höhere Entfaltung nicht notwendig ist, ist unmenschlich, auch wirtschaftlich dumm, vom nationalen Standpunkt aus ebenso wie vom all- gemein-menschlichen unverantwortlich. Das wäre Kolonialgesinnung!

Nur dann wäre die Meinung von Gebildeten, es brauche oder es solle nicht so viele Gebildete geben, folgerichtig, wenn sie sich selbst für verpatzt halten. Dann freilich gibt es schon jetzt um so viele, als es sie gibt, zu viele. Bildung ist nämlich dann gefährlich, wenn sie in Wahrheit gar nicht Bildung ist, weil es an Demut, an Grenzenbewußtsein, dann auch an Verantwortungsbewußtsein fehlt, wenn sie egoistisch ist und anderen Bildung nicht zugesteht, aus Angst, es könne dann zu viele Konkurrenten und zuwenig Straßenkehrer und Diener geben, und die Schuhe müßten sie sich selbst putzen.

Die wichtigste Einsicht aber und der wichtigste Wille, die unser Bildungsstreben beherrschen müssen, haben der Wandlung unserer heutigen Bildungsmentalität zu gelten, nach welcher die höhere Schul- und die Hochschulbildung mit einem Bezugscheinsystem verwechselt werden. Wir wissen, daß heute in Österreich, und nicht nur in Österreich, höhere Zeugnisse noch immer als Bezugscheine auf Schreibtischsessel gedeutet werden. Diese Verwechslung ist eine böse Fehlleistung unserer Gesellschaft und eine Irreführung der Jugend, eine Fehlleistung, die bisher weder die Schulen noch die anderen gesellschaftlichen Kräfte unseres Landes überwinden konnten, sofern sie das Problem überhaupt erkannt haben. Die Aufklärung über diesen Irrtum scheint mir der einzige menschenwürdige, dem einzelnen Individuum gegenüber unmittelbar einsetzbare Steuerungsvorgang für den Bildungsweg zu sein, von der persönlichen Eignungsprüfung abgesehen. Die unausschaltbaren rauhen Realitäten des Lebens zwingen später jeden einzelnen auf jeden Fall zu weiteren Überlegungen und Anpassungen, da wir Weder erzwingbare Vieijahrespläne wollen noch, wofür wir frische Exempel haben, den Bedarf an Höhergebildeten in Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft auf jene Zeit aufrichtig Voraussagen können, die für das Gymnasial- und das Hochschulstudium notwendig ist. Es bleibt noch immer und überall jeder in dem Sinne „seines Glückes Schmied“, als es ihm gelingt, eine seinem Bildungsgang angemessene Stellung in der freien Welt zu finden oder zu erringen, in der Zwangsplanwirtschaft aber unter die Anzahl derer zu geraten, die bei der Abschlußprüfung gerade durchkommen dürfen. Denn weder die freie noch die doktrinär zwangsgeplante Welt werden genügend höhere Bildung erfordernde Schaffensplätze anbieten oder gewährleisten können, um alle Begabten der Nation „standesgemäß“ unterbringen zu können.

Aus: ZUSPRUCH UND WIDER- SPRUCH. Von Theodor PiffUPerceviö, Verlag Styria, Wien-Graz-Köln 1977, 340 Seiten, öS 290,-.

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