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Feuerwehr „Sozialkunde“

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In der Innenpolitik Ist immer etwas los. Ist es nicht Dr. Otto Habsburg, dann ist es der gestürzte Innenminister. Das Voltesbegehren macht — in der Saure-Gurken-Zeit wenigstens — Schlagzeilen, die Ministerpensionen erhitzen die Gemüter der Leserbriefschreiber, die Verstaatlichte Industrie gefährdet — in vorkarnevalistischer Verkleidung ata „Nationalindustrie“ — den Weihnachtsfrieden der Koalition ...

Natürlich liest der Schüler auch Zeitung. In der Straßenbahn vielleicht; unter der Bank natürlich auch. Und natürlich liest er nicht Dur den Sportteil...

Dann wird eben gefragt. Zu Hause? Selten. Die Antwort ist meist kurz; Vater hat seine schlechten Erfahrungen mit der Politik schon hinter sich, er will nichts mehr davon wissen.

So wird halt in der Schule gefragt ... Und mit diesen Fragen hat sich der Lehrer der Staatsbürgerkunde beziehungsweise Rechtsietore auseinanderzusetzen, nicht in stiller Meditation, sondern in pädagogischer Wirklichkeit vor einer Klasse einer mittleren oder höheren berufsbildenden Lehranstalt, in deren Lethrplänen ebengenannte Unterrichtsfächer auf Grund der Schulgesetze 1962 neu formuliert wurden. Die Klasse lauert auf eine mehr oder weniger ausweichende Antwort oder auch darauf, daß durch die Beantwortung der Pädagoge seine „Farbe“ deklariert. Den siebzehn-, achtzehn- und neunzehnjährigen Schülern, die aus verschiedenen Gesellschaftsschichten stammen und daher mit verschiedenen vorgefaßten Meinungen in den Unterricht kommen, eine zufriedenstellende Antwort zu geben, glückt nur in wenigen Unterricbtssituatio-nen.

In jedem Werk über Pädagogik wird beim Kapitel „Grundlagen des Unterrichts“ jedenfalls der Grundsatz der Anschauung behandelt. Dieser Bildungs- und Unterrichtsgrundsatz wirkt sich bei einer Mehrheit von Wissensgebieten — vor üßm den naturwissenschaftlichen — mir zum Vorteil des Studierenden aus. Es gibt jedoch auch Unterrichtsfächer, bei denen die Anschauung sicherlich ebenso wichtig ist, bei denen aber das dem Schüler sich bietende Anschauungsmaterial des außerschulischen Bereiches den Lehrer vor kaum zu lösende Probleme stellt.

Die auf Grund der Schulgesetzgebung 1962 ergangenen Lehrpläne für berufsbildende mittlere und höhere Lehranstalten (technisch-gewerbliche Lehranstalten, Handelsakademien, Handelsschulen) sehen das Fach „Staatsbürgerkunde“ gewöhnlich in der letzten Klasse beziehungsweise dm letzten Jahrgang vor. Die Bildungs- und Lehraufgabe in diesem Fach umschreiben die Lehrpläne meistens mit den Worten: „... Weckung des Sinnes für Wesen und Wert der rechtsstaatlichen Demokratie, Weckung des Willens zu sozialem Verhalten und zu politischer Mitverantwortung und Mitarbeit, Vertiefung der staatsbürgerlichen Erziehung und Festigung der Vaterlandsliebe zu Österreich usw.“

Bringt man diese Zielsetzungen mit dem Prinzip der Anschauung im Unterricht in Zusammenhang, so resultiert die Frage: Wie verarbeitet der siebzehn- bis zwanzigjährige Mensch die sich ihm bietenden anschaulichen politischen und sozialen Gegebenheiten unserer österreichischen Gegenwart? Wie wirkt sich die in den Kreisen der Erwachsenen sichtbare starke Anfälligkeit für alles, was menschlich und sozial negativ ist, als Anschauungsmittel Jür die kommende Generation aus?

Die Situation des Lehrers in der Klasse, der — laut Lehrplan — den Willen zu „sozialem Verhalten, politischer Mitverantwortung und Mitarbeit“ wecken soll, ist zeitweise — wenn auf dem Weg über Massenmedien, Elternhaus und Bekanntenkreis negatives Anschauungsmaterial an den Schüler herangebracht wird — kaum besser als die eines Feuerwehrmannes, der mit einem Kübel Wasser einen Großbrand löschen soll!

Der Politiker, von der Erwachsenenwelt im allgemeinen angefeindet und stets unter Verdacht, auf Kosten anderer ein arbeitsloses Einkommen zu beziehen, ist jene natürliche Person, die in Rundfunk, Fernsehen und Zeitung den jungen Menschen konkretes Anschauungsmaterial für das Fach „Staatsbürgerkunde“ liefert. Bild und Ton decken den sehr scharfen Augen und Ohren der Jugend viele menschliche Schwächen auf.

Der jugendliche Mensch nimmt den Galopp der materiellen Wünsche kaum mehr wahr, deren rasche Deckung bei Verwirklichung eines Prograrnmes für die politische Partei das einzige Mittel bleibt, das Absinken des Interesses an den öffentlichen Angelegenheiten zu verzögern. Dabei gewinnen die „Apparaturen“ der öffentlichen Hand und der Interesseniverbände an Volumen und damit aber auch an Anonymität. Als „gut“ werden öffentliche Maßnahmen immer nur von jener Gruppe bezeichnet, deren Konsumgüterbereich dadurch ausgeweitet wird, „richtig“ handelt nur jene offizielle oder offiziöse Stelle, von deren Maßnahmen man Vorteile hat.

Im Bewußtsein, daß eine Bekämpfung dieser im sozialen Bereich lodernden Flammen notwendig ist, und zwar intensiver als früher schon deshalb, damit die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden, wird als Feuerwehrmann der Lehrer der „.sozialkundlichen“ Fächer eingesetzt. Er so! die Basis unserer Bevölkerungspyramide im — bei der Jugend vorausgesetzten und Gott sei Dank auch noch wirklich vorhandenen — „Idealismus stärken und soll erklärend, beschwichtigend und Vaterlandsliebe festigend“ allen Zweiflern der Klasse standhalten.

Es muß nachdrücklich festgestellt werden: ein Lehrer der Staatsbürgerkunde, der nicht in Wahrheit vom Gedanken eines optimalen So-zialgefüges beseelt ist und nicht mehr daran glaubt, daß aus seinem „Zögling“ ein lebenstüchtiger, charakterfester junger Mensch werden kann, der arbeitsfreudig und verantwortungsbewußt in das Berufsund Gesellschaftsleben seiner Zeit eintritt (allgemeines Bildungsziel laut Schulorganisationsgesetz 1962), sollte den Unterricht in den „sozial-kumdldchen“ Fächern auf jeden Fall einstellen und sich besser sogleich in das privatwirtschaftliche Erwerbsleben stürzen. Sonst schadet er den Schülern mehr als er nützt.

Um den Vorwurf abzuschütteln, daß bisher nur anscheinend Auswegloses beschrieben wird, ist nunmehr1 die Frage zu beantworten, welche“,J-jöschmittel“ dem unentwegten Pädagogen zur Verfügung stehen, um den staatsbürgerkundlichen Unterricht nicht einerseits bei völlig abstrakten Darstellungen bewenden zu lassen — Beispiel: dem Schüler werden ohne Wirklicbkeits-bezug die Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes oder die Aufgaben des Bundespräsidenten vorgesetzt — und nicht anderseits in einzelnen konkreten politischen Ereignissen „einseitig eingestellt“ unterzugehen?

Der Unterrichtende muß begreiflich machen — fast könnte man sagen: dafür werben — daß eben auch für staatsfoürgerkundliche Fragen ein entsprechendes Wissen über Fachbegriffe und Zusammenhänge notwendig ist, und daß nicht, wie leider noch viele Leute glauben,alles, was mit Staat und Wirtschaft zusammenhängt, auf jeden Fall und von vornherein für jedermann verständlich sein muß. Das war so, etwa im Griechenland des Altertums mit seiner für jeden Bürger überschaubaren Stadtstaatdemokratie, ist aber bei dem heutigen, vielschichtigen, von Interessengegensätzen erfüllten Sozialgefüge nicht mehr möglich. Niemand kann bei einer Diskussion über die möglichen Fehler einer Motorenanlage mitreden, wenn ihm technischer Aufbau und Arbeitsweise der Apparatur unbekannt sind. Wird aber an die Stelle von „Motorenanlage“ das Thema „Staatsgefüge“ gesetzt, dann zeigt sich überraschend: die meisten glauben, alles zu verstehen, obwohl ihnen Aufbau und Arbeitsweise der staatlichen Apparatur unbekannt sind!

Auf den Einwand, der manchmal zu hören ist, „warum in Österreich nichts weitergeht“, darf der Lehrer immerhin antworten, daß die erreichten materiellen Werte im Durchschnitt noch nie so groß waren wie heute.

Beschäftigen sich die Köpfe der Schüler mit den physischen Personen, welche als Organträger die Positionen des Staatsapparats ausfüllen, so wird dem Lehrer von vornherein von Seiten der Schüler die Rolle des Verteidigers unterstellt, denn die Schülerschar nimmt mehr oder weniger an, daß ihr Lehrer auch von diesen Funktionären abhängig ist oder mit ihnen gemeinsame Sache macht. Minister, Abgeordnete zum Nationalrat und — Polizisten sind jene Organträger, die von den Schülern in erster Linie als staatliche Realität angesehen werden. Fehöhandlungen dieser Organträger sachlich zu kritisieren, einseitige Darstellungen aufzudecken und gleichzeitig dafür um Verständnis zu werben, daß es eben doch absurd ist, bei allen Organträgern öffentlichrechtlicher Körperschaften — Politikern und Beamten

— stets ein mustergültiges Verhalten vorauszusetzen, konfrontiert den Staatsbürgerkundelahrer mit sehr heiklen Problemen. Und wird eine Exkursion in das Parlament durchgeführt, so muß sich der Staatsbürgerkundelehrer absorgen, ob nicht bei der Sitzung gerade sehr viele Abgeordnete fehlen oder harte Worte fallen. Den gleichen Eindruck kann eine Fernsehübertragung hervorrufen. Mögliche Erklärungen für die Leere des Hohen Hauses, die aber den jungen Staatsbürger kaum zufriedenstellen: der Großteil der parlamentarischen Arbeit wird in den Ausschüssen geleistet und nicht im Plenum, Sitzungen dauern oft so lange, daß es unmöglich ist, die gesamte Zeit dabei anwesend zu sein, bei der heutigen Breite und Tiefe der einzelnen zu behandelnden Gesetzesmaterien kann nicht vorausgesetzt werden, daß ein Abgeordneter alle Bereiche versteht usw.

Schon hat die Jugend auch wahrgenommen, daß es viele, wahrscheinlich zu viele Gesetze gibt. Diese „Gesetzes- und Verordnungsinflation“ kann der Staatsbürgerkundelehrer so erklären, daß heute jedermann durch die ständige Frage bei allen Konflikten „Wo ist das geregelt?“ zur Vermehrung der Normen beiträgt und nicht daran denkt, daß es besser wäre, Verstand und Gewissen zu mobilisieren.

Den jungen Menschen gegenüber kann die staatliche Ordnung nicht allein als abstraktes, idealisiertes Normengebäude präsentiert werden, weil sie gleichfalls eine Lebenswirklichkeit darstellt. Gerade aus dem Vergleich und den festzustellenden Unterschieden zwischen Wesen und Sinn der abstrakten Normen und der Realität ihrer Durchführung ergibt sich jenes Gefühl der Unzufriedenheit, das wohl leider der Erwachsene vielfach selbst schuld daran — hinnimmt, der im Persönlichkeitsaufbau begriffene Mensch aber nicht hinnehmen will und darf. Die Verkleinerung des Unterschieds zwischen Norm und Realität allein jedoch der Jugend aufzutragen (mit dem Zuruf: „Macht es eben besser als wir!“) ist jedoch gewissenlos, sich einzubilden, daß ohnedies alles bestens gemacht werde, ist gedankenlos.

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