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Überforderte Schule

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In diesen Tagen ging für eine Million österreichischer Kinder und Jugendlicher ein Schuljahr zu Ende; weit über hunderttausend junge Menschen verließen die bisherige Schulbahn und treten den Weg in das Berufsleben an.

Gleichzeitig erscheint wieder ein Jahresband der Oesterreichischen Schulstatistik und gibt Aufschluß über den Umfang und die innere Struktur des Schulwesens in unserem Lande.

Das sind Anlässe, die Funktion der Schule im Kuturleben Oesterreichs einer Ueberlegung zu unterziehen und den besonderen Bedingungen nachzugehen, unter denen das Schulwesen der Gegenwart seine Aufgabe erfüllt.

Leicht verleitet ja die gleichgebliebene Fassade, die Konstanz des Schulaufbaues, der Gebrauch vertrauter Bezeichnungen und anderes zu der Annahme, es sei im Grunde alles so geblieben, wie es vor Jahrzehnten war, die Schule habe ungefähr die gleichen Arbeitsbedingungen wie sie vor dem zweiten Weltkrieg oder sogar noch vor dem ersten gegeben waren; es müßten daher etwa die gleichen Ziele erreicht werden.

Nichts wäre irriger als das!

Im Lichte der Erfahrungen, die nun wieder aus einem abgeschlossenen Schuljahr vorliegen, aber auch im Spiegel der Zahlen seiner Statistik zeigt sich deutlich der große Wandel der Dinge, in den die Schule von heute gestellt ist und der ihre Arbeitsbedingungen völlig verändert.

Es müßte Gegenstand einer sehr umfangreichen Untersuchung sein, wollte man allen Zusammenhängen nachgehen, die hier hereinspielen. Für unsere erste Orientierung in dieser neuen Problemlage mögen hier nur drei Erscheinungen aufgegriffen sein:

1. Das Kräfteparallelogramm der Jugenderziehung hat sich stark verschoben; innerhalb desselben ist die Schule als eine der Komponenten mitbetroffen.

2. Die raschen und weitgehenden Aenderungen der menschlichen Lebensbedingungen stellen der Schule dauernd zusätzliche Aufgaben, ohne sie deswegen von ihren ursprünglichen Verpflichtungen irgendwie zu entlasten.

3. Eine andere Jugend bevölkert heute unsere Schulen, anders in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung, ganz anders in ihren Interessen und Begabungen als etwa jene am Beginn des Jahrhunderts, die aber heute noch irrigerweise als „Modell“ für den Schüler angesehen wird.

Es wird kaum jemand, der diese tiefgreifenden Veränderungen des pädagogischen Feldes der Schule auch nur flüchtig überlegt, im Ernste bezweifeln können, daß sich die Bedingungen des Schullebens und die Voraussetzungen seiner Arbeit weitgehend gewandelt haben; es geht aber daraus auch einsichtig hervor, wie leicht die Schule unter diesen Umständen nun überfordert werden kann.

Nun nur einige Hinweise auf die veränderte Situation:

Im traditionellen „Team“ der Jugenderziehung sah man Familie und Schule als die beiden entscheidenden Faktoren für die geistig-seelische Formung des jungen Menschen an; und das mit Recht, denn seit Jahrhunderten formten diese beiden Erziehungsmächte das Profil der jungen Generation.

Das ist anders geworden im Zeitalter eines weitgehenden Versagens und Zerfalles der Familie, ist anders geworden vor einer Schuljugend, die zu 16 bis 18 Prozent aus Vaterwaisen besteht! Der pädagogische Rückhalt und Rückgriff der Schule ist daher häufig nicht mehr gegeben; dafür aber sind in den Massenmedien Film und Funk, Vergnügungsindustrie und Reklame neue Mächte auf den Plan getreten, die mit stärkster Einflußnahme bis in die frühe Kindheit herab nach dem jungen Menschen greifen, ihn in ihren Bann ziehen und nun auf einmal als Komponenten sehr verschiedener Richtung neben der Schule stehen, oft sogar diametral gegen sie wirkend. — Das ist ein Aspekt der neuen Situation; er ist — in verschiedener Bedeutsamkeit — für alle Typen und Stufen des Schulwesens gegeben!

Wir wenden uns dem Gestaltwandel der Umwelt zu, in der die Schule heute steht und auf die doch alle ihre Tätigkeit immer wieder bezogen sein muß'. Es ist das älteste aller pädagogischen Probleme, die Quelle aller Schulreformen, die dauernde Aufgabe des Bildungswesens aller Stufen. Niemals aber war die Bedrängnis der Schule von dieser Seite her größer als in unserer Zeit vorwärtsstürmender sozialer und zivilisatorischer Entwicklung. Was sollte doch die Schule in der Gegenwart alles übernehmen, um den Ansprüchen dieser sprunghaften Evolution des Lebens gerecht zu werden, um die Jugend für das kommende Zeitalter vorzubereiten und auszurüsten! Hier liegt die Wurzel für das Hinzutreten neuer Unterrichtsgegenstände und -stunden in fast allen Schulen, aber auch die Ursache jener Ueberforderung, die zuerst den Schüler, dann den Lehrer, schließlich die Schule als Einrichtung selbst in ihren Daseinsbedingungen und Ergebnissen so stark betrifft, daß diese Ueberforderung zu einer existentiellen Frage zu werden droht.

Mit guten Gründen hat Unterrichtsminister Dr. Drimmel bei seiner Amtsübernahme dieses Zentralproblem der Gegenwartsschule zu seinem besonderen Anliegen gemacht. Die beiden bisherigen Tagungen der von ihm ins Leben gerufenen Ständigen pädagogischen Konferenz haben gerade diese Frage mutig aufgegriffen und einiges zu ihrer Bewältigung bereitgestellt; doch wieviel ist noch zu tun, soll eine neue Auswahl der Bildungsgüter entstehen. Diese aber wird nur in klarer Sicht des Sach- und des Personobjektes im Bildungsvorgang gelingen können; letzteres aber ist der Schüler, und zwar der konkrete Schüler von heute!

Er ist „anders“. Dies nicht bloß im Sinne des ewigen Generationenproblems der Menschen. Nein, eine schier einschneidende Zäsur trennt die Jugend unserer Zeit in vieler Hinsicht von der unmittelbar vorangegangenen Generation. Da ist die schon allgemein bekannt gewordene Akzeleration mit der Vorverlegung der Geschlechtsreife und den starken Wachtstumserscheinungen; dadurch kommt es zu einer Verkürzung der Kindheit, zu einer Frühreife, die durch die Reizüberflutung unserer verstädterten Lebensform noch gesteigert ist. Da sehen wir eine sehr wenig autoritätsbewußte, oft geradezu enthemmte Jugend vor uns; Konzentration der Arbeit und Liebe zu den kleinen Dingen fehlt ihr; dafür besteht ein technisches Interesse, das zu Kenntnissen führt, die oft erstaunlich hoch sind. — Das und noch manches andere, was so gar nicht zum traditionellen Bild von Kindheit und Jugend passen will, macht den Schüler von heute schwieriger als den vergangener Epochen. Es macht ihn aber — alles in allem — auch weniger leistungsfähig und bildsam.

Man wird sehr vorsichtig sein müssen mit der Behauptung, daß wir vor einem allgemeinen Begabungsrückgang in unserem Volke stehen, aber viele Pädagogen behaupten bereits einen solchen. Verwunderlich wäre eine solche Erscheinung angesichts der tiefgehenden Veränderungen in unserer Generation nicht. Auch die Tatsache, daß ein sehr großer Teil der Schüler Einzelkinder sind, würde eine Ursache zeigen, da ja bekanntlich die begabten Menschen meist aus einer größeren Geschwisterreihe stammen und im Einzelkind wichtige seelische Dispositionen unangesprochen bleiben. Daß aber Nervosität und Konzentraticms-mangel leistungsvermindernd sind, steht außer Zweifel.

Und so kommt es denn, daß die Schule von heute mehr erreichen soll, ständig neuen Ansprüchen genügen soll, aber weit ungünstigere Voraussetzungen findet, als sie in jener Zeit bestanden, da ihre Organisation und ihr Bildungsprogramm, die Lehrpläne, geschaffen wurden.

Diese Schwierigkeiten sind für die einzelnen Schultypen in einem auch örtlich sehr unterschiedlichen Maße gegeben. Sie werden dadurch nicht geringer, daß auch die räumliche Unterbringung vieler Schulen zu wünschen übrigläßt. Es bedarf — und bedurfte erst recht in den vergangenen Jahren — eines sehr starken Erzieher-willens und einer optimistischen Gesamthaltung, um dennoch unserem Schulwesen das für Oesterreich typische Niveau zu erhalten, was im großen ganzen sicher erreicht wurde.

Es wird aber auf. weite Sicht die neue Situation der Schule im ganzen unseres kulturellen Lebens nur bewältigt werden, wenn sie auch von der Allgemeinheit begriffen wird. Daher sind manche Aeußerungen der Unzufriedenheit, die da und dort von Interessentengruppen gegenüber der Schule in letzter Zeit vorgebracht wurden, nicht bloß sehr ungerecht, sondern vor allem betrüblich als Zeichen eines völligen Verkennens der Bedingungen, unter denen alle Zweige unseres Schulwesens heute ihre Aufgaben erfüllen müssen. Man macht es sich doch allzu leicht, wenn tiefgehende menschliche Strukturveränderungen, zum Beispiel der verminderte Sinn für das Musische, einfach dadurch korrigiert werden sollen, daß die Schule den „Auftrag“ erhält, die nächste Generation wieder zu den Wertord-nungen musischer Zeitalter zu erziehen. So mächtig ist die Schule nicht — und sie ist es heute weniger als je! Jedenfalls kann man die Erscheinungen einer Kultur krise nicht der ausschließlichen oder überwiegenden Verantwortung der Schule übergeben.

Wohl aber ist und bleibt die Schule eine bedeutsame Komponente im Kräfteparallelogramm der Volkserziehung; nur muß sie ihre Funktion in dieser Zeit erst wieder richtig gewinnen. Dafür braucht sie Verständnis und Mithilfe aller geistigen Verantwortungsträger. So wie wir alle eine Gesundung unseres Volkes mit berechtigter Zuversicht annehmen, aber überzeugt sind, daß ein neuer Typus der Familie Träger des Lebens sein wird (nicht mehr die geruhsam-traute „Ludwig-Richter-Familie“ des vergangenen Jahrhunderts!), so wird auch die Schule der Zukunft ein anderes Gesicht haben. Es wird zum Beispiel nicht möglich sein, die gegenwärtige Breite der Unterrichtsfächer und die Vielzahl der Schulstunden in der höheren Bildung aufrecht zu erhalten, ja immer neue Aufgaben hinzuzunehmen, ohne die bereits vorhandenen ganz energisch zu revidieren. Der junge Mensch von heute — auch der junge Studierende — lebt in einer Welt der ständigen Verkürzung aller Arbeitszeiten; schon ist es so, daß zum Beispiel der Lehrling eines Industriebetriebes weniger Stunden Arbeitszeit hat, als der gleichaltrige Schüler mancher mittleren Lehranstalten bloß an Unterrichtsstunden bewältigen muß. Das sind Tatsachen, und sie haben psychologische Wirkungen auf den Schulbetrieb. Sie werden das Bild der Schule der Zukunft mitgestalten.

Nur eine Ausdehnung der allgemeinen Schulpflicht — wofür das verlängerte Lebensalter der Menschen und die erhöhten Bildungsansprüche eine einleuchtende Begründung darstellen — und eine sehr radikale Auswahl des material und formal wesentlichen Kulturbesitzes für die höhere i Bildung kann Lösungen bringen, kann die Schule aus bedrängter Gegenwart zu neuer Zukunftsgestalt führen.

Es liegt im Wesen jeder guten Schule — wie dies Oswald K r o h einmal ausgesprochen hat —, daß sie ständig bemüht sein muß, sich dem Wandel der umgebenden Bedingungen und Bedürfnisse anzupassen. Wann hätte dies mehr gegolten als in unserer Zeit, am Beginn, einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte? So ist die Schule heute zunächst sichtlich überfordert, weil sie um ihre neue Gestalt ringt, weil sie die Gegenwartsaufgaben mit den gegebenen Mitteln meistern muß und doch SchuleimWerdenist!

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