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Das ..Kastl in der Schule

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Kürzlich fand im Fernsehen eine Fachleutediskussion über die Zusammenarbeit Rundfunk und Unterrichtsreform statt. Der eher allgemeine und wenig konzise Charakter der dabei gemachten Äußerungen erwies an sich bereits, wie weit wir noch auf diesem Gebiet gegenüber anderen Ländern zurück sind. Seit ungefähr 15 Jahren spricht man bei uns über die universelle Einbeziehung des Rundfunks in das Unterrichtswesen, doch faktisch ist nichts geschehen. Indessen ist die seit langem latente Krise des Unterrichtswesens höchst akut geworden, und sie zu bewältigen, ist heute vielleicht die wichtigste Aufgabe der Nation.

Diese Krise besteht in der Unfähigkeit unseres Unterrichtssystems, den Anforderungen zu entsprechen, die ihm durch die gesamte wissenschaftliche, technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche sowie durch seine eigene theoretisch-pädagogische Entwicklung gestellt werden. Schon lange sind unsere Lehrer gezwungen, mehr zu unterrichten als zu erziehen; die Schule bietet heute nur noch eine zersplitterte Übermittlung von Wissen und nicht jenen großen geschlossenen ethischen Bogen, in welchen die aufwachsenden jungen Menschen eines Volkes einbezogen werden müssen. Die Lehrer stehen nicht mehr souverän über dem Lehrstoff, sondern sind seine Sklaven geworden, und unsere Kinder sind — wenn man so sagen darf — Sklaven dieser Sklaven, und ihre Beziehung zur Schule, die ihr eigentliches Lebenselement sein sollte, läßt viel zu wünschen übrig. Sie werden in der Schule nicht leben gelehrt, sondern dazu verhalten, Lehrstoff in sich aufzunehmen. Da sie somit ohne eigentliche geistige Führung sind, suchen sie diese bei sich selbst, das heißt im Revoluzzertum, in der Ablehnung jener Welt, die sie führungslos läßt. Wie machen wir die Lehrer zu Führern der Jugend, wie geben wir ihnen die dafür nötige Souveränität, jenes Über-dem-Lehrstoff-Stehen, wie emanzipieren wir sie aus dessen Versklavung? Und wie bewältigen wir trotzdem die so angewachsene Fülle an altem und neuem Lehrstoff? Besinnen wir uns einmal der Mittel, die hierfür benützt werden und jener, die zur Verfügung stehen.

In unserer sonst so technisierten Welt bedienen sich die Lehrer kaum anderer als der seit eh und je herkömmlichen Mittel: des Vortrags und der schriftlichen Übungen und Aufgaben. Nur in den Naturfächern wird das Mittel der Demonstration in Anspruch genommen. Es gibt zwar den sogenannten Schulfunk und gelegentliche Film- und Fernsehvorführungen, aber wirklich ernst wird all das nicht genommen, sie dienen mehr oder weniger nur als Lückenbüßer und werden eher als Ablenkung vom Ernst des eigentlichen Unterrichtes betrachtet. Sehen wir uns einige Beispiele aus der Praxis anderer Länder an. In unserem — in bezug auf das Realeinkommen des einzelnen Einwohners — ärmeren Nachbarland. Italien wird heute normaler Hauptschulunterricht mittels Fernsehen für jene Tausenden erwachsenen Menschen erteilt, die aus sozialen Gründen nie über die Volksschule hinausgekommen sind. Die Teilnehmer an diesen Nachschulkursen können nach deren Ablauf Prüfungen ablegen und Zeugnisse erwerben, die ihnen den Weg zur beruflichen Weiterbildung und -entwicklung öffnen. Technische Fortbildungskurse für Handwerker, Industriearbeiter und Landwirte bietet der Höffunk in Polen, das Fernsehen in Frankreich. In letzterem Land wird das durch die sogenannten Tele -Club s, das sind Teilnehmerzirkel, besonders auf dem Lande sehr gefördert. Diese Clubs sind faktisch Gewerbeschul- und Volkshochschulfilialen, die sich um einen Fernsehempfangsapparat in einer geeigneten Örtlichkeit gruppieren. Die Tele-Clubs sind in einer großen Landesorganisation zusammengeschlossen, die gemeinsam mit der Leitung des Fernsehens die Auswahl der Unterrichtsgegenstände und die Gestaltung des Programms bestimmt und organisiert.

In England sind heute bereits tausende Schulen eng mit „Associated Rediffusion“, einer besonderen Organisation für Schulfernsehen, verknüpft. Die Sendungen sind in den regulären Unterricht eingebaut und auf verschiedene Schulstufen abgestellt. Nicht nur Gegenstände, denen Sichtbarkeit besonders zu eigen ist — wie Apperzeption von bildender Kunst und Architektur, Drama und Oper, Technik, und Wissenschaft, sondern zum Beispiel auch Geschichte werden durchs Fernsehen unterrichtet. Die eigentlichen Lehrer tpielen dabei die Rolle von Mentoren und helfen bei der Interpretation und Verarbeitung des von den Fernsehtehrern vermittelten Stoffes mit.

An der Spitze des Schulfernsehens und des Erwachsenenunterrichtes durchs Fernsehen stehen die USA. In diesem Land des chronischen Mangels an Lehrern wurde das Fernsehen in vielen Bundesstaaten zum tragenden Faktor des regulären Volks-, Mittel-, Volkshochschul-, ja sogar Hochschulunterrichtes. In einigen ländlichen Bundesstaaten, zum Beispiel im Maisstaat Iowa wurde der Volkshochschul- und Fortschulungsbetrieb erst durch das Fernsehen ermöglicht und aufgebaut. Zusätzlich zu Gegenständen wie den bei Erwähnung des britischen Schulfernsehens genannten, liebt man es in Amerika, auch den Fremdsprachenunterricht durch hochqualifizierte, häufig auch ausländische Lehrer durch die zahlreichen Hochschul-fernsehstationen auszustrahlen. Gewisse Bedenken gegen den Fernsehunterricht als tragenden Faktor im Schulwesen seien hier mit folgenden theoretischen Erwägungen beantwortet:

Worin bestand die erste Revolution im Unterrichtswesen? In der teilweisen und auch vielfach gänzlichen Ablösung des bis dahin von Barden, Rednern und Predigern gesproclie-nen Wortes durch gedruckt e Texte. Wissen, das vordem von nur einigen hunderten Sprechern verbreitet wurde, konnte nun allgemein und in nahezu unbeschränktem Ausmaß vermittelt werden. Seither wurde — insbesondere mit Hilfe des Films — entdeckt, daß die eigentliche Stärke, Hauptaufgabe und Zukunft des gedruckten Wortes immer mehr darin besteht, vor allem abstraktes Denken zu vermitteln. Umgekehrt haben wir jedoch auch die Möglichkeiten erkannt, die uns durch die Sichtbarmachung von Vorgängen in die Hand gegeben sind. Wir lernen viel mehr und schneller etwas über die Handhabung und die Arbeit eines Motors durch dessen Demonstration im Fernsehen als etwa durch das Studium eines ganzen Kapitels in einem technischen Lehrbuch — so sehr uns dieses auch helfen mag, die Prinzipien des Motors zu erkennen. All das gilt auch für den Schulunterricht, der sich bei uns immer noch vorwiegend des gesprochenen oder geschriebenen oder gedruckten Wortes bedient. Was aber ist denn eigentlich das Wort — ob gesprochen oder geschrieben? Alle Wörter sind nur Symbole der realen Erfahrungen, welche die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung gesammelt hat. Das Kind besitzt zunächst weder diese Erfahrungen noch die Kenntnis der Bedeutung der Symbole. Dennoch verlangt man vom Schüler — außer in der Taferlklasse —, daß er in der Schule fast alles Konkrete nicht durch dessen sichtbare Vorführung, sondern durch seine abstrakten Symbole der Sprache erlernen soll. Ist es da nicht naheliegend, daß wir uns nun endlich all der optischen Möglichkeiten für den Unterricht bedienen sollen, die uns durch Film und vollends durchs Fernsehen in die Hand gegeben sind? Uns dieser Mittel in vollem Maße zu bedienen, kann weitgehend bei der Lösung unserer Unterrichtsprobleme mithelfen. Es bedeutet allerdings viel mehr als nur die Aufstellung eines Fernsehempfangsgerätes in den Schulklassen und in jedem Hochschul-und Fortbildungsschulsaal. Es geht ja dabei auch um den vollständigen Umbau unseres gesamten Unterrichtswesens und um den Autbau einer entsprechenden allumfassenden nationalen Organisation. Hier ist überhaupt nicht mit der Verwendung des jetzigen Zweiten Fernsehprogramms gedient, wie das derzeit vorgesehen wird. Hierzu bedarf es eines gesamterritorialen eigenen Fernsehübertragungsnetzes mit eigenen Sendern und Kanälen: Die technische Entwicklung hilft dabei mit. So ist man derzeit in England dabei, das Telephonleitungsnetz in den Dienst des Schulfernsehunterrichts zu stellen. Zu Recht wurde in der erwähnten jüngsten Aussprache darauf hingewiesen, daß es dabei auch in allen Zweigen des Unterrichtswesens zu einer Konzentration, zu Zusammenlegungen, und zur Ausschaltung von Mehrgleisigkeit von Unterrichtsunternehmen kommen müsse. Das heißt, daß hier alle an der inhaltlichen und organisatorischen Gestaltung des Unterrichtes interessierten Stellen und Institutionen der Länder, des Bundes, der Interessenvertretungen in Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft zusammenarbeiten müssen. Die also zu bewirkende Umstellung unseres ganzen Unterrichtswesens muß als Teil der großen Umgestaltung unseres gesamten Lebens angesehen werden, welche nicht nur die zweite industrielle Revolution, sondern die besondere menschliche Problematik in dieser unserer Zeit erfordert. Der Sinn aller Rationalisierung und Technisierung auch des Unterrichtswesens tiegt darin, daß sie uns ermöglichen sollen, aus unseren Kindern bessere und menschlichere Menschen zu machen. JOSEF TOCH

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