Jede Begabung entdecken und fördern

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Die Autorin dieses Essays, AHS-Lehrerin in Wien und Assistentin an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, wirft einen Blick in die Schule des 21. Jahrhunderts.

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Die Autorin dieses Essays, AHS-Lehrerin in Wien und Assistentin an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, wirft einen Blick in die Schule des 21. Jahrhunderts.

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Es ist der 2. Jänner 2050. Ein wunderbarer, kalter Wintertag. Die Sonne erweckt die dicken Schneehauben der Sträucher zu glitzerndem Leben. Einige japanische Touristen, ausgerüstet mit der neuesten Generation von VideoNet-Sonnenbrillen, haben das berühmte Denkmal ins Visier genommen und versuchen durch emsiges Abschreiten des Platzes ihren Freunden zu Hause einen möglichst umfassenden Eindruck der Gegend zu vermitteln.

All dies beachtet der eilige, schlanke Fußgänger nur am Rande. Er hat soeben eine blonde Frau auf den Steinstufen des alten Backsteinbaus entdeckt, die ihm fröhlich zuwinkt, und beschleunigt nochmals seine Schritte. "Guten Morgen!" ruft sie ihm zu. "Wie ich mich freue!" Nina, die blonde Frau auf den Stufen, und Nelson, der schlanke Fußgänger, hätten einander so viel zu erzählen. Was haben sie seit jenem warmen Juniabend 2022, dem krönenden Abschluß von vier gemeinsam in dem alten Backsteinbau verbrachten Schuljahren, nicht alles erlebt ...

Doch das Schwelgen in Erinnerungen ist nicht der Zweck von Nelsons Besuch. Er ist in Europa als Schulexperte seines Landes, der Zentralafrikanischen Republik, und soll im Auftrag der Regierung bestehende, erfolgreiche Schulmodelle bezüglich ihrer Übertragbarkeit prüfen. In Österreich hat sich ein beispielhaftes Schulsystem entwickelt. Hier hat man in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts das Schulwesen zu einer Angelegenheit von nationaler Dringlichkeit erklärt und Gymnasiallehrer, Universitätspädagogen, Psychologen und Programmierer zwecks Entwicklung qualitätvoller Konzepte an einen Tisch gezwungen.

"Ich habe mir gedacht, daß wir einen Spaziergang durch unsere Schule machen, wir in die Räume schauen und ich Dir dabei etwas über unser Modell erzähle." Nina interpretiert Nelsons Schweigen als Zeichen der Zustimmung und beginnt die Führung durch ihr Reich: durch jene Schule, an deren Konzipierung sie entscheidend beteiligt war und die abgesehen von Name und Räumlichkeiten nicht mehr sehr viel mit jener Institution gemeinsam hat, in der sie selbst ihre Jugendjahre verbracht hat.

Leise öffnet sie eine Türe und zieht Nelson mit sich in einen hellen Raum. Eine überschaubare Gruppe von 14jährigen arbeitet an Computern, allein, zu zweit oder zu dritt, in jedem Fall auffallend konzentriert. Niemand scheint die beiden Besucher zur Kenntnis zu nehmen.

"Stören wir nicht?" fragt Nelson seine Führerin. "Aber nein. Sie sind nicht leicht abzulenken. Glücklicherweise. Denn sonst wäre eines unserer wesentlichen Erziehungsziele gefährdet."

"Also, wenn bei uns damals jemand in die Klasse gekommen ist ..." "Tja, seither hat sich sehr viel verändert. Man hat versucht, die Erkenntnisse der Lernpsychologie für die Schule nutzbar zu machen. Konzentrationsfähigkeit ist eine Grundkompetenz. Wenn jemand beim Lesen ständig an etwas anderes denkt, wird er auch beim zehnten Wiederholen derselben Seite nicht wissen, worum es geht. Glücklicherweise ziehen auch die Vor- und Volksschulen mit uns an einem Strang, sodaß viele Schüler schon mit sehr guten Voraussetzungen zu uns kommen. Ähnliches gilt übrigens für Prüfungsangst. Weißt Du noch, wie perfekt Hans für jede Prüfung vorbereitet war?"

"Ja, und dann hat er aus purer Aufregung keinen vernünftigen Satz zusammengebracht!"

"Genau! In seinem Fall hätte ein wirklich gutes autogenes Training oder vielleicht auch ein Karatekurs mehr gebracht. Da hätte er, statt ein- und denselben Inhalt hundertmal zu memorieren, viele Stunden Karate betreiben können!"

"Wie kommst Du ausgerechnet auf Karate?"

"Weil Karate ein Zusatzangebot unserer Schule im Freizeitbereich ist und wir damit sehr gute Erfahrungen machen. Unsere 16- und 17jährigen besuchen den Kurs fast geschlossen. Es ist für sie etwas Faszinierendes, zu lernen, Geist und Körper zu beherrschen. Ich finde, darin liegt eine der größten Freiheiten des Menschen. Nur wer nicht den eigenen Launen und Stimmungsschwankungen hilflos ausgeliefert ist, hat eine Chance, seine Träume zu realisieren. Kannst Du Dich an Marie erinnern?"

"Du meinst die fesche Rothaarige, die fallweise tagelang verschwunden war?"

"Genau! Sie war doch so beneidenswert begabt. Sie hat schnell und leicht gelernt - wenn sie Lust hatte. Leider war das nicht sehr oft der Fall. Das Studium hat sie nach kurzer Zeit abgebrochen, obwohl sie unbedingt Biochemikerin werden wollte. So wichtig also klare Zukunftsvorstellungen sein mögen, mindestens ebenso wichtig ist es, Mittel und Wege zu kennen, mit denen du jenen Feind, der dich an der Verwirklichung deiner Ziele am erfolgreichsten hindern kann, besiegen kannst: Ich meine den Feind in dir selbst, deine eigene Bequemlichkeit und Unbeständigkeit. Findest Du nicht, daß wir dem Nachwuchs die Möglichkeit geben sollten, jene Haltungen und Einstellungen zu lernen, die Voraussetzungen dafür sind, später ein erfülltes Leben zu führen?"

"Gewiß. Außerdem glaube ich, daß Selbstdisziplin des einzelnen eine Grundbedingung ist, damit viele Menschen auf engem Raum relativ reibungslos existieren können. Ich habe gehört, daß in Wien jetzt drei Millionen Menschen leben!"

"Allerdings ist die Stadt nach außen gewachsen. Aber ich denke, daß Selbstdisziplin gekoppelt mit Respekt für die Bedürfnisse der anderen der einzige wirkliche Garant für die Demokratie ist. Tut jeder, was er will, dann kommt unweigerlich der Ruf nach dem starken Mann, wie dies bei uns in den zwanziger Jahren auch geschehen ist. Der starke Mann muß aber in uns selbst sein, nicht in einem autoritären Regime, das die Menschen von außen kontrolliert und unterdrückt!"

"Interessant, was Du mir hier erzählst! Aber sag, was arbeiten die Schüler in diesem Raum? Hier findet doch kein Unterricht statt! Schau, dort, das kleine Mädchen im roten Pulli! Das ist doch ein Computerspiel, mit dem sie sich beschäftigt. Jetzt lacht sie auch noch!"

"Wie kann man bloß mein Lernen lachen!" Nina schmunzelt. "Aber im Ernst. Schau doch bitte genau hin. Wann kann das kleine Männchen zum nächsten Stern hüpfen und damit dem riesigen Vogel entkommen?"

"Offenbar dann, wenn sie die richtigen englischen Vokabeln eintippt."

"1.000 Punkte" meldet nun die Anzeige auf dem Bildschirm. Das Mädchen im roten Pullover klatscht vergnügt in die Hände, holt aus seiner Tasche einen Mini-Kopfhörer, montiert unter der Lippe ein Haftmikrophon und startet durch Zuruf ein neues Programm. Ein imaginärer Karteikasten tut sich auf. Ein englisches Wort nach dem anderen bewegt sich in den Vordergrund. Der Auftrag lautet offenbar, englische Synonyme zu finden. Erst nach der Lösung der Aufgabe durch die Schülerin wendet sich das Kärtchen und zeigt die richtigen Antworten.

"Wozu braucht sie Kopfhörer?" "Weil sie die Vokabeln auch hört." "Wie merkt sie sich, was sie nochmals üben muß?" "Wenn sie die Antworten nicht weiß, werden die betreffenden Wörter in einer Wiederholungskartei gespeichert und immer wieder in den Ablauf eingeschleust. Du siehst also, wir haben den Kampf gegen das menschliche Vergessen nicht gewonnen. Unsere Schüler müssen noch immer lernen, wiederholen und üben. Aber ich denke, wir sind in den Methoden viel effektiver geworden. - Schau, jetzt beginnt gleich ein neuer Unterrichtsabschnitt ..."

Quer über die Bildschirme der Schüler saust ein kleiner gelber Stern. "Achtung! Ende der Arbeitsphase. Bitte zur Vorbereitung der Videokonferenz in die Ecke kommen!" tönt aus dem Hintergrund eine männliche Stimme. Innerhalb von wenigen Minuten haben die Schüler ihre Arbeit beendet und sich tratschend am angegebenen Ort eingefunden.

"Videokonferenz in der Schule? Was passiert dabei?"

"Wir arbeiten eng mit ausländischen Schulen zusammen. Unter anderem versuchen wir, die Fremdsprachenkompetenz unsere Schüler dadurch zu fördern, daß sie mit Schülern in anderen Ländern Live-Diskussionen über verschiedene Themen führen. Diskussionssprache ist in der bevorstehenden Runde Englisch, und soviel ich weiß, sind Schüler aus Indien, Algerien, Kolumbien und den USA daran beteiligt. Der Vorteil besteht darin, daß die Künstlichkeit der Rollenspiele im Unterrichtsraum wegfällt. Aber vielleicht sollten wir nun unseren Rundgang fortsetzen."

Nina und Nelson treten auf den Gang, und werden fast von einem flotten Zehnjährigen und dessen wild fluchendem Verfolger umgeworfen. Doch bevor die beiden Erwachsenen eingreifen können, hat eine älterer Bursch die beiden Übeltäter energisch mit sich in ein Eck gezogen und spricht mit ihnen.

"Wundere dich nicht", meint Nina "In unserem System sind die Älteren für die Jüngeren verantwortlich, in inhaltlicher und in sozialer Hinsicht. Wir machen damit sehr gute Erfahrungen."

"Ich wollte Dich aber noch etwas zu den Videokonferenzen fragen. Wie werden diese vorbereitet?"

"Das geschieht in zwei Phasen: Zunächst müssen die Schüler eigenständig zu Hause arbeiten, Informationen zu dem jeweils aktuellen Thema aus dem Internet holen und etwas eigenes Schriftliches verfassen. Das wird natürlich vom Lehrer korrigiert - hier sind die Computerkorrekturprogramme noch zu unverläßlich. Glücklicherweise stehen die Lehrer unserer Schule in regem Kontakt mit ihren Kollegen an unseren exzellenten Partnerschulen in Boston, Mailand, Prag und Buenos Aires. Du glaubst nicht, wie oft bei ihren Videokonferenzen über Formulierungen debattiert wird! Haben die Schüler ihre individuellen Vorarbeiten geleistet, wird die Arbeit in der Schule in Teams fortgesetzt. Hier werden nach selbst festgelegtem Zeitplan die Argumentationsschienen vereinbart und anschließend präsentiert. Der Lehrer hat die Aufgabe, einerseits die Teamarbeit strukturell zu supervidieren, andererseits sprachliche und argumentative Fehler zu verbessern.

Nach der eigentlichen Diskussion wird das Gespräch in bezug auf die inhaltliche und die sprachliche Qualität analysiert."

"Für die Schüler gibt es also doch Hausübungen. Für mich sah es zunächst so aus, als ob das Üben selbst integrierter Bestandteil des Unterrichts wäre."

"Das stimmt auch, aber nur zum Teil. Ist es nicht so, daß du dir ein neues Wort besser merken kannst, wenn du es sofort memorierst und anwendest, als wenn du diesen Übungsprozeß auf einen anderen Zeitpunkt verschiebst? Andererseits müssen die Schüler natürlich auch lernen, selbständig ohne Aufsicht zu arbeiten - in der Einsamkeit. Daher gibt es Hausübungen."

"Noch eine Frage: Wie verlaufen die Videokonferenzen? Ist es für Jugendliche nicht schwierig, mit Menschen, die doch teilweise aus ganz anderen Kulturkreisen kommen, zu diskutieren?"

"Du hast ganz recht. Aber je länger wir mit dieser Methode arbeiten, umso stärker zeigen sich ihre Vorteile. Bei jeder Diskussion, egal zu welchem Thema, fließen die Werthaltungen der verschiedenen Kulturen ein. Die Schüler müssen flexibel und tolerant auf die Argumente ihrer Diskussionspartner reagieren - sonst ist die Diskussion zu Ende.

Andererseits wächst ihr Interesse an dem historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Hintergrund ihrer Diskussionspartner enorm, was einen großen Vorteil für den Unterricht in Kulturgeschichte und Wirtschaft mit sich bringt. Und natürlich müssen unsere Schüler auch über ihren eigenen Hintergrund Auskunft geben können, denn dieselbe Neugier, mit der sie ihre Gesprächspartner ausfragen, schlägt ihnen zurück. Das heißt, ihre Motivation, etwas über die Vergangenheit Österreichs und Europas zu lernen, läßt zumeist nichts zu wünschen übrig. Übrigens entwickeln sich aus diesen Videokonferenzen viele internationale Freundschaften."

"Hast Du eben den Unterricht im Fach Kulturgeschichte erwähnt? Worum geht es da inhaltlich?"

"Wir sind überzeugt, daß sich die gesellschaftliche und künstlerische Entwicklung der europäischen Gesellschaft am besten in einem gesamthistorischen Kontext vermitteln läßt. Denke nur an das Barock. Wie viele Phänomene gibt es in der barocker Literatur, Musik und Malerei, welche sich aus einem bestimmten sozialen Hintergrund erklären lassen. Es ist unsinnig, diese Aspekte auseinanderzureißen."

"Und was ist mit Singen, Musizieren und Zeichnen? Habt Ihr das abgeschafft? Das wäre ja schrecklich!"

"Im Gegenteil. Die Computertechnologie bietet so viele Möglichkeiten, schon kleine Kinder zum Komponieren anzuregen. Und erst die Grafikprogramme ... Aber keine Angst, man darf auch noch auf Papier zeichnen. Und es wird viel gesungen, sogar mehr als früher. Der Schulchor besteht aus 100 Mitgliedern! Viele Schüler wollen eben nicht nur in Kleingruppen arbeiten, sondern fallweise auch Teil einer großen Gemeinschaft sein."

"Eine Frage habe ich nun noch an Dich: Wie wissen die Schüler, was sie zu lernen haben?"

"Diesbezüglich haben wir uns zum Teil an einem über 100 Jahre alten amerikanischen Modell orientiert. Im Dalton-Plan stand zwar das Selbststudium in Einzelarbeit im Mittelpunkt, ein Ansatz, den wir aus sozialpädagogischen Gründen nicht vertreten wollen. Aber man hat Arbeitsplänen angewendet, welche wir in abgewandelter Form übernommen haben. Das sieht so aus: Gemeinsam mit seinem persönlichen Betreuer, einem Lehrer dieser Schule, erstellt jeder Schüler aufgrund der Vorgaben der Fachprofessoren einen monatlichen Arbeitsplan, der in wöchentliche Unterabschnitte gegliedert ist und von dem Schüler vertraglich als verpflichtend angenommen wird. Er darf erst dann über das in einem Fach gesteckte Monatsziel hinausgehen, wenn er in allen anderen Fächern die vereinbarte Mindestleistung erfüllt hat. Damit können wir sicherstellen, daß alle Schüler sich gemeinsame Grundkenntnisse und -fertigkeiten aneignen, zugleich aber ihre individuellen Begabungen entwickeln können. Wir gehen davon aus, daß jeder Schüler auf irgendeinem Gebiet begabt ist. Es gibt keine unbegabten Menschen, manchmal ist die Begabung nur schwer zu entdecken ..."

"Gelingt es Euch wirklich, alle zum Erwerb des geforderten Grundwissens und der Grundkompetenzen zu bewegen?"

"Natürlich sind nicht alle Schüler gleich gut. Doch bei den nationalen Abschlußprüfungen schneidet unsere Schule sehr gut ab."

"Sind die Noten der Abschlußprüfungen für die weitere Ausbildung wichtig?"

"Natürlich! Die Universitäten lassen zu ihren Aufnahmsprüfungen nur jene Leute zu, welche eine bestimmte Grundpunktezahl vorzuweisen haben."

"Wie steht es eigentlich mit der Mathematik? Ich erinnere mich, daß es vor 30 Jahren hier heftige Diskussionen über die Relevanz der Schulmathematik gab."

"Komm", sagt Nina und öffnet eine Türe. "Ich zeige Dir, wie es um die Mathematik steht." Ein Wirrwarr aus Stimmen schlägt den Besuchern entgegen. In Vierergruppen arbeiten 16-, 17jährige an den Computern und versuchen ein offenbar äußerst kniffliges mathematisches Problem gemeinsam zu lösen.

"Ich sehe schon, Ihr habe die Mathematik nicht abgeschafft!"

"Aber nein. Ausschlaggebend waren Untersuchungen, die Mitte der 20er Jahre durchgeführt wurden. Es gab einen Schulversuch ohne Mathematik in der damaligen Oberstufe. Bei der Evaluation hat sich herausgestellt, daß die Abgänger dieser Schule in einem ganz wesentlichen Bereich weniger Kompetenzen aufwiesen als ihre mathematisch geschulten Kollegen: beim Erstellen von Konzepten zur Problemlösung."

"Wirklich? Das klingt ja geradezu unglaublich!"

"Ist es aber nicht. Bedenke doch nur eines: Um wieviel mehr Phantasie brauchst Du, um mit imaginären Zahlen zu arbeiten als einen Satz über die Akropolis zu formulieren. Denn im Gegensatz zur Akropolis haben die imaginären Zahlen keinerlei Entsprechung in der sogenannten Wirklichkeit, stellen also an unser Abstraktionsvermögen die allergrößten Anforderungen."

"Ihr unterrichtet also Mathematik grundsätzlich noch immer so wie vor 30 Jahren?"

"Aber nein. Erstens hast Du gesehen, daß die Schüler ihre Aufgaben am Computer lösen und ihn dabei nicht bloß als Schreibmaschine benützen, sondern als Instrument, welches ihnen hilft, ihr räumliches Vorstellungsvermögen zu schärfen. Je weiter sie fortschreiten, um so stärker werden sie dazu angeleitet, auf solche Krücken zu verzichten, und sich denselben Prozeß bloß innerlich vorzustellen.

Zweitens - und ich denke, hier sind uns in den letzten paar Jahren einige entscheidende Schritte vorwärts gelungen - arbeiten die Schüler nun auch in Mathematik nicht mehr nur rezeptiv, sondern entwickeln eigenständig Beispiele, die dann von anderen Schülern zu lösen sind."

"Und das funktioniert?"

"Ja! Es ist ganz erstaunlich, wie hoch die Motivation der jungen Leute ist, hier zu experimentieren. Grundsätzlich haben wir den Eindruck, daß dadurch ein anderer Zugang zum mathematischen Denken entsteht. Für die meisten Schüler ist Mathematik nun ein abstraktes Universum, in dem man Denkmodelle erproben und anwenden kann.

Was vielen ganz besonderes Vergnügen bereitet, ist, als Tutoren zu arbeiten und die ihnen anvertrauten, vier Jahre jüngeren Schützlinge mit Hilfe selbst erfundener Aufgaben zu trainieren. Hier haben wir zwei positive Aspekte festgestellt. Einerseits sind die älteren Schüler gezwungen, sich immer wieder mit den Grundlagen ihrer aktuellen Lerninhalte auseinanderzusetzen. Andererseits erhalten sie einen sozialen Auftrag: Sie sind - übrigens nicht nur in Mathematik, sondern auch in den anderen Fächern - für einen anderen Menschen verantwortlich, müssen Führungsqualitäten, aber auch Sensibilität entwickeln. Ich halte dieses System in einer Einzelkindergesellschaft für absolut notwendig."

"Sind sie mit dieser Aufgabe nicht etwas überfordert?"

"Sie werden damit nicht allein gelassen. Es gibt regelmäßig Besprechungen, bei denen ausschließlich ihre Tutorenaufgabe und die damit gekoppelten Probleme thematisiert werden."

Vieles haben Nina und Nelson noch an jenem Tag zu beobachten und zu diskutieren: die Bedeutung der Muttersprache, die Bewertung der sozialer Begabung im Verhältnis zu anderen Talenten, die Fallen des Systems ...

Als Nelson das Schulgebäude verläßt, glitzern die Schneehauben der Sträucher bereits im Mondlicht. Doch Nelson sieht es nicht. Er muß noch immer an Ninas Worte denken: "Es gibt keine unbegabten Menschen, manchmal ist die Begabung nur schwer zu entdecken ..."

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